Ungekannte Freuden (eBook)

Über das Leben, den Tod, das Klettern und alles dazwischen
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
320 Seiten
As Verlag
978-3-03913-005-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ungekannte Freuden -  Andy Kirkpatrick
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Andy Kirkpatrick ist besessen - vom Klettern und vom Schreiben. Und er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Sein neues Buch versammelt Essays zu so unterschiedlichen Themen wie Klettern, Liebe und Beziehungen, Vaterschaft, psychische Gesundheit, Medien. Es sind leichtfu?ssige Texte von oft u?berraschender Tiefgru?ndigkeit. Wir begleiten den Autor in die Einsamkeit einer Solobegehung der berühmten norwegischen Trollwand. Und nochmals beim Klettern, diesmal unter völlig anderen Vorzeichen: an der «roten Wand» Moonlight Buttress in Utah, im Rahmen einer Wohltätigkeitsaktion, Seite an Seite mit BBC-Moderatorin Alex Jones und umgeben vom Fernsehzirkus. Ein omnipräsenter Gast in Kirkpatricks Texten - wie bereits in seinem preisgekrönten Erstling «Psychovertikal» - ist El Capitan im Yosemite- Nationalpark: Mal ist er dort u?ber Wochen alleine unterwegs, dann gemeinsam mit seiner dreizehnjährigen Tochter Ella, fu?r die es die erste grosse Wand ist - ein bewegender Moment. Andy Kirkpatricks scharfe Beobachtungsgabe und sein Wortwitz sind unterhaltsam wie immer. Doch weiss er auch mit grosser Ehrlichkeit u?ber vergangene und gegenwärtige Beziehungen und Lieben zu berichten. Und schonungslos rechnet er ab, mit unserer Welt im Allgemeinen und der Welt der Berge im Besonderen.

Andy Kirkpatrick, geboren 1971, ist einer der bekanntesten Extremkletterer, Bergbuchautoren und Bergfilmer Englands. Nach einer schwierigen Jugend in einem Armenviertel der Hafenstadt Hull an der Ostküste Englands entdeckte er das Klettern als Passion und spezialisierte sich auf härteste Winterbesteigungen und Solobegehungen im technischen Stil. Als Legastheniker rang er sich seine Texte mühsam ab. Sein Erstling «Psychovertikal» (deutsch ebenfalls im AS Verlag) wurde ein Riesenerfolg und 2008 mit dem Boardman Tasker Prize ausgezeichnet. Andy Kirkpatrick lebt mit seiner Frau in Irland.

1.1
DAS LAND DES GRÜNEN INGWERS


Eines Nachts, als ich sechzehn Jahre alt war, fanden ein paar Freunde und ich eine alte Rostlaube und flohen damit aus der Stadt. Wir fuhren nordwärts zur Küste, zu einem geheimen Ort, an dessen Existenz nur wenige von uns glaubten. Vielleicht war er ein Mythos, ein bloßer Köder für die Fantasie, aber vielleicht auch nicht. Wir fuhren nordwärts, um die Wahrheit herauszufinden.

Wie die meisten Teenager wollte auch unser Fahrer – Ricky – mit seinem Fahrstil beeindrucken. Laut lachend, mit wilden Haaren, preschte er draufgängerisch über Landstraßen, eng und gewunden, während farblose, schwarz-weiße Hecken an uns vorbeirasten.

Ich saß auf dem Rücksitz, der mit Jungs und Mädchen vollgestopft war: Wir wurden durchgerüttelt, lachten, rauchten, schwatzten, fühlten die Begeisterung, den Nervenkitzel, den Taumel. Hätte sich eine erwachsene Stimme eingemischt, um uns zu bremsen, um uns zu sagen, dass wir in Gefahr waren, dass der tödliche Aufprall hinter jeder Kurve lauerte, hätten wir sie weggelacht. Wir befanden uns im Alter der Unbesiegbarkeit. Angestachelt durch die Anwesenheit der anderen flirteten wir laut und lachten über alle Bedenken bezüglich unserer Geschwindigkeit, unsere Arme schlängelten sich durch die Sicherheitsgurte hindurch, mit denen wir uns nicht anschnallten, weil das «schwul» gewesen wäre. Wir waren berauscht von den Versprechen der Nacht, von dem, was wir sehen könnten, und von den Gefahren, die uns erwarteten. Es war diese jugendliche Jagd nach Möglichkeiten, die im Großbritannien der 1980er Jahre selten geworden war und auf die sich nur jene einlassen konnten, die hart dafür gekämpft hatten.

Mit gezogener Handbremse brachte Ricky den Wagen, nach einer angeberischen Schleuderpartie, auf einem kleinen abgelegenen Parkplatz zum Stehen, Lichter und Motor waren schneller aus, als wir unseren Atem wiederfinden konnten, für die wenigen vorbeikommenden Fahrzeuge blieb alles unauffällig. Die Nacht und die Stille waren ein Schock, die einzigen Geräusche unser Atem und das Meeresrauschen.

Es war ein stockdunkles, grenzenloses Landschaftsschwarz, das nur vom schwachen Leuchten einer nahegelegenen Küstenstadt in seiner Totalität durchbrochen wurde. Wir schwiegen – für länger als nur einen Moment –, doch bevor wir allzu ergriffen werden konnten, brach einer von uns den Bann mit einem gespielten Aufschrei, und wir fielen grölend in die Nacht hinein.

Ich lief über den Kies zum Rand des Parkplatzes und pisste, um zu zeigen, dass ich von der Dunkelheit nicht eingeschüchtert war. Der Wind wehte vom Meer herüber, und man konnte hören, wie sich die Wellen gegen die Kreidefelsen warfen, von denen ich wusste, dass sie ganz in der Nähe waren. Ich war damit aufgewachsen, diese Strände mit ihren Leuchttürmen und steilen Rettungsbootrampen zu besuchen, die Klippen, von denen man sagte, sie seien die höchsten im Norden. Der Küstenabschnitt hier ist von der Geschichte, der realen wie der erfundenen, gebeutelt und mit ihrem Blut beschmiert. Unter meinen Füßen hatte es Schmuggler gegeben mit ihren heimlichen Höhlen und Gängen. Robinson Crusoe war hier vorbeigekommen, an diesen Tiefen, die später zu den Gräbern ganzer Mannschaften von untergegangenen deutschen U-Booten werden sollten, und da draußen, in der Dunkelheit, war einst Graf Draculas Geisterschiff herumgetrieben. Das Meer gewinnt immer, und es verschlingt alles: Menschen, Boote, in dieser Gegend sogar ganze Dörfer, es nagt an den weichen Klippen, nimmt größere Bissen an stürmischen Tagen und verdaut Wände, Häuser, Friedhöfe. Der Ozean machte mir Angst, seit er mich mit fünf Jahren in einem Wintersturm wie ein Tier mit sich weggeschleppt hatte. Später im Leben würde ich auf Menschen treffen, die von wilden Tieren – Bären und Hunden – angegriffen worden waren, und sie würden mir erklären, dass die Erfahrung, im Kiefer eines anderen Wesens eingeklemmt gewesen zu sein, die Beziehung zu allem, von dem man einen ähnlichen Angriff befürchten konnte, veränderte. Vielleicht war es mit meiner Furcht vor dem Meer genauso – ich hatte seine Kraft gespürt, seine Gewalt, als ich mit Sand in Augen, Nase und Ohren herumgewirbelt wurde, bis mein Vater mich an Land zog.

Ich ging zurück zu den anderen, die schwatzend herumstanden, die vor Kälte steifen Hände in die Taschen gesteckt und vor Aufregung ein bisschen zitternd, als Kerzen für den späteren Gebrauch verteilt wurden. Ricky, der den Weg zum geheimen Ort kannte, ging voran über ein gepflügtes Feld. Wir folgten ihm, aber nicht ohne auszurutschen und auf das Land zu fluchen, wie es nur Stadtkinder können, bis wir einen von einem alten Zaun begrenzten Weg erreichten, der am Rand der Klippen entlangführte. Ein einsames Schild gab für Touristen die Namen der Vögel an, die auf den Felsvorsprüngen jenseits der Abgrenzung lebten – weiße und schwarze, große Kolonien, von denen man sich vorstellen konnte, wie sie an stürmischen Tagen krächzten und kreischten, während jede Felsbank in jahrzehntealter stinkiger, fischiger Seevogelkacke ertrinken musste. Jemand kickte das Schild auf den Boden, hob es auf und schleuderte es über den Zaun in die Nacht hinaus, eine kleinkriminelle vandalistische Tat, so typisch für all jene, die beweisen möchten, dass sie sich von Rechtschaffenheit nicht schikanieren lassen.

Wir verließen den Weg und gingen einen Hügel hinauf, wo sich in der Dunkelheit in noch schwärzerem Schwarz ein großes Schloss, ein Bauernhaus oder sonst irgendein zufälliger Unterschlupf rechteckig abzeichnete. Auch kleinere Strukturen um uns herum waren auszumachen, eine Art Stonehenge aus Backsteinbauten. Als wir uns dem Hauptgebäude näherten, konnten wir den Verfall förmlich spüren, auch in der Dunkelheit. Wir wussten, dass der Wind hier durch ein leeres Dach ohne Ziegel und Fenster ohne Scheiben pfiff, und dass es eine rostige krumme Tür geben würde. Genau so war es. Wir quetschten uns hindurch, während zerbrochene Ziegel und Backsteine um uns herum knirschten. Es roch nach feuchter Pappe und Urin, wie die Luftschutzkeller aus Beton, in denen wir als Kinder spielten. Orte, an denen riesige Insekten heranwuchsen und nur darauf warteten, sich auf Kinder zu stürzen.

Überall, wo wir hingingen, stießen wir auf Zeichen des Krieges. Nicht weit entfernt befand sich ein kleiner Bunker, ein anderer Geheimplatz, von dem man uns erzählt hatte. Eine winzige Tür, am Rand eines Feldes versteckt, für diejenigen Männer, die bereit waren zu gehen, wenn die Nazis kamen: die fünfte Kolonne. Die Identität dieser Männer war nur dem örtlichen Polizeioffizier bekannt; und die erste Aufgabe dieser geheimen Armee im Falle einer Invasion war es, ihn zu töten, um das eigene Überleben zu sichern. Als ich in diesem kleinen Backsteinbunker stand, fragte ich mich, welchen Sinn es gehabt hatte, weiterzukämpfen, abgesehen von einem geringen Maß an Rache, das einem erlaubte, sich nicht mehr ganz so besiegt zu fühlen.

Kaum dass wir alle im Gebäude waren, wies uns Ricky an, leise zu sein, weil ein Bauer in der Nähe wohnte. Wir folgten Ricky, als er zu einer Fläche auf dem Boden schlurfte, die noch schwärzer war als der Rest – ein Loch, in das er langsam hinabstieg. Wir taten es ihm gleich, indem wir uns langsam über die mit Schutt bedeckten Treppenstufen vortasteten, die in einer Spirale nach unten führten.

Am Fuß der Treppe angekommen, zündeten wir einer nach dem anderen unsere Kerzen an. Wir befanden uns in einem breiten Tunnel, der in einem flachen Winkel von uns wegführte und dessen Wände mit Ruß und Graffiti bedeckt waren. Mit dem Licht kamen die Fragen: «Wie weit geht er?» – «Wohin führt er?» – «Ist das sicher?» Anstatt zu antworten, blieb Ricky still, lächelte und marschierte los, seine Kerze dabei so haltend wie ein Butler, der seine Gäste in ein Geisterhaus führt.

So schnell es uns mit den flackernden Kerzen möglich war, folgten wir ihm, während der Klang unserer Schritte, verstärkt und von den Wänden zurückgeworfen, im Tunnel widerhallte. Ohne Warnung stieß Ricky einen Schrei aus, um uns zu erschrecken. Also schrien auch wir, um ihm zu zeigen, dass wir überhaupt nicht erschrocken waren, was natürlich nicht stimmte.

Nach hundert Metern führte der Tunnel nach links und endete vor dicken Schutztüren, dem Eingang zu einem Bunker. Auf beiden Seiten lagen Räume, vollgestellt mit rostigen Möbeln, Stockbetten, Schreibtischen und Stühlen, die Zwischendecken spannten sich über die Räume wie alte Haut. Wir schlurften herum und spähten hierhin und dorthin, klebten aber aneinander wie Feiglinge. Wir waren begeistert, an diesem geheimen Ort zu sein.

Ich nahm mein Taschenmesser aus der Tasche und tat das, was Menschen schon so lange tun, seit sie Zeichen setzen können, ich kratzte meinen Namen in den Beton nahe der Tür und ließ eine Spur von mir selbst zurück, ein kleines Stück Unsterblichkeit.

Lachend und einander anstoßend bewegten wir uns auf den letzten Raum zu, ein riesiges Nichts aus Beton, dessen Tiefe nicht abzuschätzen war, denn das Licht unserer Kerzen reichte nicht weit. Es roch nach feuchter schwarzer Fäulnis. Hier saßen einst Menschen und warteten auf einen Angriff von Deutschland – unsere Großmütter, die Haare zu einem Dutt zusammengebunden, schick in ihren blauen Uniformen, schoben Flugzeugmodelle aus Holz vor und zurück, während weiter oben in der Luftschlacht um England Spitfireund Messerschmitt-Flugzeuge gegeneinander kämpften. Jemand schlug vor, die Kerzen auszublasen, um zu sehen, wie schwarz es wirklich war, und so kam die Dunkelheit Kerze für Kerze zurück, schwärzer als jede Dunkelheit, die ich jemals zuvor erlebt...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2019
Reihe/Serie Alpinismus
Zusatzinfo Illustrationen des Autors
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Alpinismus • Extrembergsteigen • Klettern • Tatsachenbericht
ISBN-10 3-03913-005-6 / 3039130056
ISBN-13 978-3-03913-005-4 / 9783039130054
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