Träume aus Samt (eBook)

Das Schicksal einer Familie

*****

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
480 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1901-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Träume aus Samt -  Ulrike Renk
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

'Die Menschen hinter meinen Figuren existierten wirklich. Sie sollen nie vergessen werden.' Ulrike Renk. August, 1940. Amerika soll für Ruth Meyer und ihre Familie das Land der Freiheit werden. Endlich haben sie es geschafft, aus Europa zu fliehen. Doch wird man sie als deutsche Juden in der Fremde willkommen heißen? Die Zeichen stehen zunächst nicht zum Besten. Kaum am Hafen angekommen fällt Ruths Vater auf Betrüger herein. In Chicago, der vorerst letzten Station ihrer Odyssee, versucht Ruth sich einzurichten und Arbeit zu finden. Immer sind ihre Gedanken bei ihren Verwandten, die in Deutschland zurückbleiben mussten. Bald aber hat sie noch andere Sorgen. Ein junger Mann wirbt um sie - leider ist er Soldat und muss in die Hölle des Krieges, der sie gerade entkommen ist. Eine dramatische Familiengeschichte, die von Deutschland über England in die USA führt. Von der Autorin der Bestseller 'Die Zeit der Kraniche' und 'Tage des Lichts'



Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, die ersten drei Bände der Seidenstadt-Saga, 'Jahre aus Seide', 'Zeit aus Glas' und 'Tage des Lichts' sowie zahlreiche historische Romane vor. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Kapitel 1


New York, August 1940

»Dort?«, fragte Ilse aufgeregt. Sie kniff die Augen zusammen, schob ihre Brille fast bis vor die Augen und starrte nach rechts. »Ist sie dort?«

»Nein, Ilse«, sagte Ruth belustigt. »Schau nach links. Da ist sie – allerdings kann man sie bisher nur erahnen.« Sie wies ihrer Schwester die Richtung.

»Ich sehe nichts«, brummte Karl verdrossen. »Gar nichts.«

»Ich fürchte, in Chicago müsst ihr beide zum Augenarzt und werdet eine neue Brille brauchen«, meinte Martha nachdenklich. »Ich hoffe, wir können uns das leisten«, fügte sie fast tonlos hinzu.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Karl Meyer und legte seiner Frau den Arm um die Schulter. »Alles wird gut werden.«

Obwohl Ruth – im Gegensatz zu ihrer Schwester Ilse – die Augenkrankheit ihres Vaters nicht geerbt hatte, kniff auch sie die Augen zusammen. Heute Morgen schon war der Ruf »Land in Sicht« ertönt; alle waren an Deck geeilt und hatten in die Ferne gestarrt. Doch Ruth hatte nur eine Art Schatten am Horizont erkannt – das hätten auch niedrighängende Wolken sein können. Enttäuscht war sie zum Frühstück zurückgekehrt. Der Atlantik war ruhig, und fast alle Mitreisenden hatten sich von der Seekrankheit erholt, deshalb war der Speisesaal voller als in den letzten Tagen.

»Noch zwei Mahlzeiten an Bord«, hatte Mutti gesagt und aus dem Fenster geschaut – wo aber außer Wasser nichts zu sehen war. »Heute Abend sind wir endlich in Amerika.«

Ja, hatte Ruth gedacht – aber was dann? Vor mehr als einer Woche waren sie in Liverpool auf das Schiff gegangen. Die Überfahrt nach New York sollte nur sechs Tage dauern, doch die Scythia war von der normalen Linienroute abgewichen, nachdem sie den Konvoi, der sie begleiten sollte, verloren hatten. Die Gefahr, von deutschen U-Booten angegriffen zu werden, war groß, und der Kapitän hatte sich dazu entschlossen, im Zickzack zu fahren. Auch Funkverbindungen waren schwierig, die Deutschen versuchten jeden Funkspruch abzufangen, hatte Johnny, einer der kanadischen Soldaten, die mit auf dem Schiff waren, Ruth erklärt.

Dies war eigentlich ihre Fahrt in die Zukunft. Eine Fahrt, die sich die Familie Meyer so lange ersehnt, auf die sie hin gefiebert hatte. Es sollte die Reise in die Freiheit werden, weg von den Nazis und ihren lebensbedrohlichen Repressionen. Es sollte, so hatte es sich Ruth früher ausgemalt, eine glückliche, fröhliche Reise werden, aber das war es nicht. Die Angst saß ihnen immer noch im Nacken, und all die Meldungen über zivile Schiffe, die angegriffen wurden, machten es nicht leichter.

Nichts ist mehr unbeschwert, dachte Ruth, seit der Pogromnacht. Damals hat sich alles verändert, alles war schrecklich geworden, noch schrecklicher, als es zuvor schon gewesen war. Seit dieser Nacht hatte Ruth die Angst als ständigen Begleiter bei sich. Das hatte sich auch nicht geändert, als sie in England die Stelle als Haushaltshilfe auf der Farm der Sandersons antreten konnte, als sie endlich Nazideutschland verlassen hatte. Das war erst vor etwas mehr als einem Jahr gewesen, dennoch erschien es Ruth eine Ewigkeit entfernt zu sein. Auf dem Hof hatte sie hart arbeiten müssen. Olivia Sanderson, die Frau des Hofbesitzers, war streng und unnahbar gewesen. Damit hatte Ruth sich bald abgefunden – sie brauchte die Stelle, um in England bleiben und ihre Familie zu sich holen zu können. Doch die Angst um ihr Leben war zur Angst um das Leben ihrer Familie geworden. Lange hatte sie darum fürchten müssen. Würden sie es rechtzeitig schaffen auszureisen? Erst im letzten Moment war es tatsächlich wahr geworden, und sie hatte ihre Lieben wieder in die Arme schließen können. Doch dann war der Krieg ausgebrochen, und plötzlich bedrohte die Invasion Nazideutschlands England. Und sie, die Geflüchteten, wurden zu möglichen Feinden innerhalb des Landes.

Es war selten eine offene Feindseligkeit, die sie verspürten, es war eher ein unterschwelliges Grollen gegen sie. Sie waren Juden – verfolgt in Deutschland. Aber sie waren auch Deutsche – die Feinde Englands.

Mit der Ausreise nach Amerika, so hatte Ruth gehofft, würden alle diese Lasten von ihr abfallen. In Amerika würden sie neu anfangen, befreit von allen Vorurteilen, von allen Anfeindungen. Sie kämen als freie Menschen in ein freies Land.

Doch schon auf der Überfahrt war ihr klar geworden, dass dies eine Illusion war. Sie würden immer und immer ihre Vergangenheit mit sich tragen. Die Angst und die Last. Sie würden immer Juden für andere bleiben. »Juden« – als ob sie das zu anderen Menschen machte. Aber manche dachten eben so, andere zum Glück nicht. Vielleicht würde es mehr Menschen geben, denen ihre Herkunft und ihr Glauben egal wäre – dort, in Amerika.

Ruth schaute wieder aus dem Fenster, doch auch jetzt waren nur Wellen und der entfernte Horizont, der mit dem Atlantik verschmolz, zu sehen. Sie trank den letzten Schluck Kaffee, Bohnenkaffee – diesen Luxus hatte sie auf dem Schiff sehr genossen –, und stand auf.

Martha sah sie an. »Hast du alles gepackt? Nachher wird es vielleicht schnell gehen müssen.«

»Wieso?«, fragte Ruth irritiert.

»Setz dich wieder«, sagte Vati. Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Dann beugte er sich zu ihr. »Ich habe jemanden getroffen«, wisperte er. »Er ist Amerikaner und hat Verbindungen.«

»Verbindungen?« Ruth schüttelte fragend den Kopf. »Was für Verbindungen?«

»Sei still und hör zu.« Ihr Vater sah sie an. »Alle wollen so schnell wie möglich vom Schiff. Alle wollen so schnell es geht an Land und weiter. Wir auch. Verstehst du?«

Ruth nickte. »Es wird Gedränge geben«, sagte sie beklommen.

»Nein«, sagte Martha lächelnd. »Nicht für uns. Vati hat vorgesorgt.«

»Wie das?«, fragte Ruth verblüfft.

»Ich habe Karten gekauft, Einreisekarten – damit wir unter den Ersten sind, die das Schiff verlassen dürfen. Unser Gepäck wird auch gesondert ausgeladen – vor allen andern.«

»Vor der ersten Klasse?«, fragte Ruth ungläubig.

Karl schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Die erste Klasse geht immer vor. Aber direkt danach kommen wir. Wir müssen uns nur gleich in einen speziellen Raum begeben – mit unserem Handgepäck. Und unser anderes Gepäck muss schon abgegeben sein.«

»Du musst also jetzt packen«, bestätigte Martha die Worte ihres Mannes.

»Und dann kommen wir schneller von Bord?«, fragte Ruth noch einmal nach.

»Ja.«

»Was ist dann? Was machen wir an Land?«

»Wir müssen eine Droschke nehmen und zum Bahnhof fahren«, sagte ihr Vater. »Ich habe schon hier an Bord Bahnfahrkarten kaufen können, die uns schnell nach Chicago bringen werden.« Er lächelte. »Übermorgen werden wir hoffentlich da sein.«

»Sofie hat eine Wohnung für uns angemietet«, sagte Martha und strahlte glücklich »Eine Wohnung in Chicago. Dort wird unser neues Leben beginnen.«

»Sofie?« Ruth sah ihre Mutter fragend an.

»Sofie Gompetz, Schätzchen. Du wirst sie doch nicht vergessen haben?«

Natürlich hatte Ruth das Ehepaar Gompetz nicht vergessen. Die Freunde ihrer Eltern hatten bereits Ende 1938 aus Deutschland ausreisen können. Sie hatten sich schon früh um Visa für Amerika bemüht. Immer noch gab es die Quote von ca. 22 000 Einwanderern, die Amerika ins Land ließ; dies aber auch nur, wenn sie ein Affidavit – eine Bürgschaft von jemandem im Land – hatten. Wenn gewährleistet war, dass es genug Geld gab, damit sie nicht auf Staatskosten leben würden.

Obwohl die Meyers einige Verwandte in Amerika hatten, war keiner von ihnen bereit gewesen, das Affidavit für sie zu leisten. Erst nach vielen Briefen und auch einigem Geld, das geflossen war, hatte sich die entfernte Cousine von Martha dazu bereit erklärt. Sie hatte aber jede weitere Verantwortung abgelehnt und wollte auch keinen Kontakt.

So hatten die Freunde, Sofie und Walter Gompetz, den Möbelcontainer der Meyers angenommen und untergebracht und ihnen auch ein kleines Apartment in Chicago angemietet, wo sie selbst untergekommen waren.

Nach der Quote, die Amerika ausgegeben hatte, hätten die Meyers erst Ende 1941 nach Amerika einreisen dürfen, aber nach Kriegsbeginn waren die Grenzen Deutschlands geschlossen worden und kaum ein Jude durfte nun noch ausreisen. Deshalb rückten alle anderen nach, die inzwischen im Ausland saßen – so wie die Meyers. Sie nahmen die Plätze von anderen Leuten ein. Was mit diesen Menschen wurde, mochten sie sich kaum ausmalen; trotzdem ließen sie die Gedanken an diese Menschen nicht los.

»Ja, natürlich«, sagte Ruth leise. »Sofie. Ich freue mich, sie wiederzusehen.«

»Dann geh jetzt packen, Kind«, sagte Karl. »Gleich gehen wir nochmal an Deck, vielleicht können wir jetzt die Freiheitsstatue sehen.«

»Ich will unbedingt dabei sein, wenn wir an ihr vorbeifahren«, sagte Martha. »Es muss erhebend sein – dieses Gefühl, endlich anzukommen.«

Ja, dachte Ruth, das will ich auch. Schnell ging sie in die Kabine. Schon gestern hatte sie das meiste gepackt, jetzt gab es nur noch Reste zu verstauen und ihren Kulturbeutel zu füllen. Sie putzte sich die Zähne, kämmte sich die Haare und besah sich gründlich im Spiegel.

Ich bin gerade neunzehn. Ich habe meine Heimat verlassen, wahrscheinlich für immer. Einige Monate habe ich in England gearbeitet, und jetzt werden wir gleich...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2020
Reihe/Serie Die große Seidenstadt-Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • an der front • Chicago • Familiendrama • Große Liebe • Jahre aus Seide • schwierige Liebe • Soldat • Vierziger Jahre • Zeit aus Glas
ISBN-10 3-8412-1901-2 / 3841219012
ISBN-13 978-3-8412-1901-5 / 9783841219015
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99