Tage in Weiß (eBook)

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99518-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tage in Weiß -  Rainer Jund
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Mit existenzieller Tiefe und literarischer Lakonie erzählt Rainer Jund Geschichten, die uns alle betreffen. Weil sie uns zeigen, was wir sind: ein Wunder, verletzlich, ein Mensch. Eine aparte Kunsthistorikerin und ihr Mann auf Hochzeitsreise in Florenz. Zwischen dem größten Glück und der Katastrophe geht etwas verloren - die Selbstverständlichkeit des Lebens. Eine abrupte Gehirnblutung ändert für die Frau alles. Immer an ihrer Seite ein Klinik-Arzt, der in der Unfassbarkeit seines Alltags alles erlebt: Momente der Empathie, das bloße Funktionieren im Notfall, als er einem kleinen Jungen nach einer Mandel-OP das Leben rettet, die Zartheit des Abschieds einer alten Frau von ihrem geliebten Ehemann und das Wunder der Geburt.

Rainer Jund, geboren 1965, studierte Medizin und Wissenschaftsmarketing. Nach seiner Ausbildung an der Universitätsklinik München praktiziert er heute als HNO-Arzt. In den letzten Jahren näherte er sich seinem Beruf zunehmend auch erzählerisch. Er lebt mit seiner Frau, ebenfalls Ärztin, und ihren drei gemeinsamen Kindern in München. »Tage in Weiß« ist seine erste literarische Veröffentlichung.

Rainer Jund, geboren 1965, studierte Medizin und Wissenschaftsmarketing. Nach seiner Ausbildung an der Universitätsklinik München praktiziert er heute als HNO-Arzt. In den letzten Jahren näherte er sich seinem Beruf zunehmend auch erzählerisch. Er lebt mit seiner Frau, ebenfalls Ärztin, und ihren drei gemeinsamen Kindern in München. "Tage in Weiß" ist seine erste literarische Veröffentlichung.

Die Liebenden


Hinter meinen geschlossenen Lidern zogen verschwommene Bilder vorbei. Ein Strom, ein Sog, ein an- und abschwellendes Gefühl, mein Bewusstsein blies mir einen frischen Moment in den Halbschlaf, dann schob sich eine farblose Stille davor. Es war vier Uhr morgens. In mir tobte ein Drängen. Ich wollte lernen, verstehen. Alles.

Daneben irritierende Fetzen, enttäuschende Gerüche. Frauenlachen. Im Hinterkopf eine flammende Säule: Alles, was ich wollte, war, ein sinnhaftes Leben führen. Eine zweite Chance darauf gab es nur außerhalb dieses Strebens.

Ich war in der Ausbildung. In einer neurochirurgischen Klinik. Ich war jung, interessiert, ein Rekrut im System.

In die Klinik hinein. Durch eine Tür, über der zwei teilnahmslose Engel aus Stein kauerten. Sofort begannen meine Sohlen, am glatt geschliffenen Steinboden zu kleben. Bademantelmenschen kamen mir wie Inselbewohner entgegen. Manche mit einer Zigarette im Mund, die nicht brannte.

 

Auf der Station zog ich mich schnell um, nicht ohne aus dem Augenwinkel schon gesehen zu haben, welche Schwestern heute da waren. Welche Frauen heute an meiner Seite stehen sollten.

Die Klinik war groß. Und kalt. Alles war da: Anästhesie, Neurochirurgie, Allgemeinchirurgie, Unfallchirurgie, mehrere Abteilungen für Innere Medizin, Radiologie, Onkologie, Pathologie. Sie stand am Rand des Ballungsraumes. Jeden Tag kam der Notarzt. Mit dem Auto, mit dem Hubschrauber. Brachte Menschen, die einen ansahen, als ob man sie einfach ausgeschaltet hätte, kein Gefühl mehr in den Augen.

 

Wenn Gefäße im Kopf platzen und Blut ins Gehirn schießt, stirbt ein Drittel, ein Drittel überlebt schwerbehindert, ein Drittel der Menschen schafft es ohne Behinderung. Manche Zusammenhänge sind leicht in Zahlen zu fassen.

Tritt eine solche Blutung auf, entladen sich entsetzliche Kopfschmerzen. Vernichtungsschmerzen.

Viele von uns haben Aussackungen der Blutgefäße im Kopf, ohne es zu wissen. Sie können ganz plötzlich reißen. Oder sie halten ein ganzes Leben lang. Wir wissen es nicht so genau. Wird bei einer Kernspintomografie zufälligerweise eine solche Aussackung gefunden, die eine bestimmte Größe überschritten hat, werden die Patienten operiert, weil das Risiko, dass das Aneurysma unkontrolliert einreißt, einfach zu groß wird.

Das Problem: Auch die OP ist riskant und birgt Probleme. Es kann sein, dass das Gefäß dabei platzt, dass Hirnanteile nicht mehr durchblutet werden. Dann entstehen Störungen, ähnlich wie bei einem Schlaganfall.

Neurochirurgen stehen ständig vor einem Dilemma. Sie entscheiden. Manchmal müssen sie das ganz allein tun, weil bei so einem Geröllhaufen von Eventualitäten kein Mensch weiß, was richtig ist. Weil das Sprechen über Risiken wie ein Schrapnell zwischen »nicht ausgeschlossen«, »vorstellbar«, »erdenklich«, »wahrscheinlich« hin- und herkreischt. Eine solche Entscheidung, wie auch immer sie ausfällt, kann gravierende Konsequenzen haben für einen Menschen.

 

Die Frau, die an diesem Morgen zu uns kam, hatte rotblonde Haare. Sie war dreißig Jahre alt, hatte ebenso viele rosa leuchtende Sommersprossen und gerade in Kunstgeschichte promoviert. Über eine Skulptur. Über eine einzige Skulptur, die zwei Liebende zeigt, die sich innig umarmen, hatte diese Frau eine Doktorarbeit geschrieben. Sie wollte an der Universität bleiben, lehren, die Faszination, die Gefühle weitergeben an andere Menschen. Menschen für die Kunst begeistern. Sie wollte auch: Kinder bekommen. Gerade hatte sie geheiratet.

In den Flitterwochen, die sie in Florenz mit ihrem Mann verbrachte, bekam sie beim Betrachten eines Bildes im Duomo Santa Maria del Fiore einen Krampfanfall. Zuerst spürte sie ein Zucken im Arm. Er bewegte sich unkontrolliert. Dieses Zucken breitete sich über die Schultern bis in den Brustkorb aus. Die anderen Besucher schauten sich erschrocken um.

Sie hatte unglaubliche Angst, erlebte alles bei vollem Bewusstsein. Als ihr Mann aus einer Seitenkapelle gerannt kam, lag seine Frau auf dem Boden, der Mund offen, die Augen weit aufgerissen, sie starrten an die Wand des Seitenschiffs.

Da war Dante Alighieri. Auf dem Bild hält Dante mit steinernem Gesicht in seiner linken Hand die Göttliche Komödie und weist, mit seiner Rechten, fast verächtlich auf die Hölle und das Paradies hinter ihm.

Das sah sie aber nicht mehr, durch ihr Gehirn schossen Blitze und Stürme, unkontrollierte Entladungen schlugen wie Wellen an die Mauern ihres Bewusstseins. Sie pinkelte auf den jahrhundertealten Boden. Ihr Mann verzweifelt, um Hilfe rufend. Der vierundachtzig Meter hohe Kuppelbau des Doms wirkte unnahbar.

 

Als sie im Krankenhaus von Careggi aufwachte, stand ihr Mann nicht am Bett. Sondern am Schreibtisch eines Arztes. Noch bevor dieser dem frisch verheirateten Ehemann die Diagnose erklärte, war dem eleganten Etrusker die Hilflosigkeit vor Ort klar. Er zeigte ihm die Computertomografie seiner Frau. Graue Abbildungen ihres Gehirns auf schwarzer Folie. Der Mann sah den weißen Fleck erst, als der Arzt darauf deutete und ihm mit schmalen Lippen erklärte, dass seine Frau einen Blutschwamm im Kleinhirn und einen weiteren im Großhirn habe, der geplatzt sei. Dadurch sei Blut ausgetreten, das den Anfall ausgelöst habe. Mit Glück werde sie wieder ganz gesund. Auf die Frage, ob man gegen den Blutschwamm nicht etwas machen müsse, antwortete der Arzt, dass man dies in Deutschland besprechen werde.

Der Ehemann hatte gerötete Augen und spürte einen Druck im Magen, als er auf die Intensivstation ging. Sie würden seine Frau nach Deutschland zurückbringen. Zu uns, in die Neurochirurgie. Er begleitete sie.

Die Hochzeitsreise wurde dadurch nicht verkürzt, weil sie noch einige Tage in Florenz warten mussten, bis die Frau stabil genug war, um die Heimreise im ADAC-Flugzeug antreten zu können. Alles ging anders aus, als die beiden sich das vorgestellt hatten. Ihr ganzes Leben, ihre Planung, ihr Wunsch, Kinder zu haben, glücklich zu werden, veränderte sich innerhalb einer Sekunde beim Betrachten eines fünfhundertdreißig Jahre alten Bildes im Duomo Santa Maria Del Fiore

.

Als sie bei uns in der Klinik ankam, war sie fast unauffällig. Kopfschmerzen und leichte Doppelbilder beim starken Seitwärtsblick. Sonst zeigte die hübsche rothaarige Frau keine medizinischen Auffälligkeiten.

Sie saß vor uns, die MRT-Bilder auf den Knien. Der Chef sah sich die Bilder lange an. Er murmelte seinem Oberarzt etwas zu. Dann drehte er sich wieder zu der Patientin und ihrem Mann um.

»Ein Hämangiom. Im Kleinhirn, da, wo die Bewegungen gesteuert werden. Blutungen in diesem Bereich können aber auch leicht den Hirnstamm mit beeinflussen, und wenn der abgedrückt wird, dann ist das lebensgefährlich.«

Die beiden schluckten.

»Das im Großhirn liegt oberflächlich, das dürfte kein Problem sein.«

Sie knüllte ein Taschentuch.

»Das Risiko, dass es an dieser Stelle noch einmal zu einer Blutung kommt, ist sehr hoch. Darum sollten wir operieren.«

Er machte keine Pause, sondern sah den Oberarzt an. Dieser murmelte wieder etwas. Die Sonne schien schräg hinter dem Rücken des Kollegen ins Krankenzimmer. Die rotblonden Haare schimmerten wie ein Korallenstock.

Ihr Mann saß so versunken da, er war kaum wahrzunehmen. Nur noch eine Hülle. Seine Augen waren matt, und man sah ihm den Kummer der letzten zwei Wochen an. Violette Schatten klebten unter seinen Lidern. Die Lippen trocken.

 

Zwei Wochen nach dem Aufklärungsgespräch durch den Chef der Abteilung kam sie zur Operation in die Klinik. In Begleitung ihres Mannes, dessen Konturen zerrissen wirkten, fast gegen die Umgebung verschoben. Sie stellte eine Postkarte mit den Liebenden auf ihr Nachtkästchen. Ein Mann, an dessen Schultern man jede Muskelfaser erkennen kann, drückt sein erstaunlich ausdrucksloses Gesicht an die Wange einer faltigen Frau. Sie schenkte mir eine davon. Noch Wochen später lag die Karte auf dem Beifahrersitz meines Alfas.

Sie wurde in einer zehnstündigen Operation behandelt. Sie wachte auf. Das war gut. Ihr rechtes Auge sah in eine andere Richtung als ihr linkes. Und sie konnte nicht schlucken.

Die Gründe für diese Veränderungen waren schlicht: Der Blutschwamm lag in der Nähe von Gehirnzentren, die die Augenbewegungen steuern. Und beim Eingriff waren die Nervenkerne des Glossopharyngeus zerstört worden, des Hirnnerven, der für Schluckprozesse mitverantwortlich ist.

Dieser Nerv steuert die Empfindlichkeit im Rachen, sorgt dafür, dass es uns würgt, wenn wir mit der Zahnbürste zu weit nach hinten kommen. Außerdem leitet er die Impulse für das Schlucken an die Rachenmuskeln weiter. Was das bedeutet, wenn beide Kerngebiete dieses Nervs – der Mensch hat zwei, auf jeder Seite einen – ausgefallen sind?

Man kann nicht trinken, weil das Wasser einfach in die Lunge läuft. Man verschluckt sich und spürt, wie unangenehm es ist, kann aber nichts dagegen machen. Man kann nicht essen, weil man gar nicht schlucken kann. Der Reflex wird einfach nicht ausgelöst. Das Essen klebt wie ein Pappeknödel im Mund, und wenn man diesen nach hinten schleudern würde, bliebe er auch da liegen. Man könnte nicht schlucken, man könnte nicht würgen, das Essen würde den Weg verkleben. Bevorzugt den Weg in die Lunge. Man ist nicht mehr lebensfähig.

Ihr Zustand war grauenhaft. Sie lag im Bett. Ihr rechtes Auge sah nach rechts, aus dem Fenster hinaus. Ihr linkes Auge sah nach links oben, zur Decke hin. Beide Augen tränten ohne Unterlass. Ihre Haut war aufgequollen und verpickelt durch das Kortison, das wir geben mussten, um eine Schwellung im Kopf zu verhindern. Die Sommersprossen waren verschwunden. In ihrer Nase steckte eine Magensonde. Sie war tracheotomiert....

Erscheint lt. Verlag 2.9.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abgründe • Arzt • Arztroman • Deutsche Literatur • existenziell • Gesund • Gesundheit • Heilung • Klinik • Krankenhaus • Krankheit • Medizin • menschliche Existenz • Menschsein • Rainer Jund • Schicksal • Stories • Tod • Wahre Geschichten • Wirklichkeit
ISBN-10 3-492-99518-7 / 3492995187
ISBN-13 978-3-492-99518-4 / 9783492995184
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