Das flüssige Land (eBook)
350 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-19196-7 (ISBN)
Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.
Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Außerdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman »Das flüssige Land« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman »DAVE« erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.
Das Loch war von unbekannter Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit. Es zog sich wie ein unterirdisches Myzel unter den Bergkuppen und Siedlungen durch, brach in Röhrchen und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig das nervöse Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte. Der einzige Segen war, dass all das so unendlich langsam geschah, dass Generation um Generation sich die Sorge darum aufgeteilt hatte - und man alibihalber jede Woche Beton in Schächte kippen konnte und genug Zeit hatte, die zerbrechenden Fensterbretter, die sich den Absenkungen geschlagen gegeben hatten, zu tauschen, bevor die Kinder aus der Schule kamen. Das Ende des Winters und die Schneeschmelze vor ein paar Monaten hatten in kürzester Zeit die Hälfte der Stadt um über einen Meter tiefer sinken lassen und die Straßen in einen so desolaten Zustand gebracht, dass man beim Überqueren meinte, im Morast zu waten. Sämtliche Pflastersteine, die den historischen Belag der Stadt bildeten, waren von den Absenkungen geradezu fortgesprengt worden und lagen nun lose auf den Plätzen und Straßen. Zwar hatte man zwischendurch immer wieder versucht, sie anzubetonieren, doch lösten sie sich, sobald das Loch durch eine feuchte Nacht auch nur einen Millimeter absackte. Ganzjährig herrschte akute Rutschgefahr: Wir alle waren Meister darin geworden, uns dennoch fortzubewegen. Sogar die Greise, normalerweise kaum in der Lage, auf festem Untergrund im Equilibrium zu bleiben, streckten versiert den Gehstock von sich, als wären sie auf hohen Seilen unterwegs. Der Hauptplatz war das Zentrum des Einbruchs: Auf ihm waren die Steine nicht bloß lose, sondern in der Mitte geradewegs auf einen Haufen zusammengerutscht - trichterförmig fiel er zum Bildnis des ehemaligen Erzengels hin ab. Dort unten, also am Tiefpunkt der Parabel, hatte sich im vergangenen Monat der erste Durchbruch ins Bergwerk ereignet. Dünn wie ein Nadelöhr erst, dann bald faust- und beindick. Ich sah diese schwarze Leerstelle, von der ich durch meine Berechnungen wusste, dass sie über der tiefsten Senke des Loches lag, täglich auf meinem Weg zur Arbeit, und stellte mir vor, wie ein Stein, in diese Auslassung geworfen, hundertfünfzig Meter in den Berg einfallen würde. Fortbewegen konnte man sich über den trichterförmigen Hauptplatz nur mehr auf seinem steinernen Pizzarand. Ich und die anderen, die es dennoch tun mussten, schoben uns am schmalen Grat neben der Häuserfront entlang, einander höflich, wie auf einer Einfahrt, den Vorrang lassend - den Bekannten zuwinkend, wenn sie sich auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes an den Laternen entlanghangelten. Man stand auf derselben Struktur und war einander dennoch unerreichbar. Ich schob mich mit dem Rücken zur Wand an der Ostseite des Platzes vorbei, langsamer als sonst, weil um diese Zeit schon eine Gruppe Volksschüler, vorne und hinten mit Seilen an die Lehrerinnen gespannt, auf dem Weg zur Schule war. Trotz des desolaten Zustandes ihrer Stadt hatten die Groß-Einländer frohen Mutes Blumenzwiebeln in die Pflanzkästen gesteckt, deren ausbrechende Triebe sich nun in meinem Nacken rieben. Es fühlte sich an, als wäre man stundenlang damit zugange, diesen Platz zu überqueren, dabei dauerte es nur ein paar Minuten. Das vielleicht Merkwürdigste war überhaupt, wie sehr der Rhythmus der Einbrüche sich auf das Zeitgefühl aller Groß-Einländer übertrug: In Wochen, in denen die Einbrüche rasch vor sich gingen, schien die Zeit zu rasen und man hatte kaum Gelegenheit, die vielen Veränderungen im Ortsbild zu bemerken, sodass sich in wenigen Momenten die Verwitterung von Jahren zu ereignen schien. Blieb aber alles konstant, so nahm der Fluss der Dinge fast eine gewisse Zähigkeit an, und die Monate rollten in belangloser Indolenz über mich. Ich bemerkte dann kaum, wie ein ganzer Herbst vergangen war. So wie die Natur in der Taktung ihrer vier Jahreszeiten die Zeitwahrnehmung normalerweise beeinflusste, so sehr standen und flossen die Dinge hier mit den Absenkungen.
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2019 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ahnen • Bachmannpreis • Bergbau • Bernhard • Buch • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2019 • Deutschsprachige Gegenwartsliteratur • Entdecker • Familie • Feuchtigkeit • Gemeinde • Geschichte • Gräfin • Jelinek • Kleinstadt • Loch • Mythen • Nationalismus • Nationalsozialismus • Österreich • Österreichischer Buchpreis • Physik • Provinzroman • Sprachkritik • Statik • Traumzeit • Verdrängen • Weihnachtsgeschenk • Wien • Zeit • Zeitzeugen • Zwangsarbeiter |
ISBN-10 | 3-608-19196-8 / 3608191968 |
ISBN-13 | 978-3-608-19196-7 / 9783608191967 |
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Größe: 3,5 MB
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