Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (eBook)

Roman
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2019 | 1. Auflage
270 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75544-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten -  Emma Braslavsky
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Berlin, in einer nahen Zukunft. Die Stadt pulsiert dank der Hubot-Industrie: Robotik-Unternehmen stellen künstliche Partner*innen her, die von realen Menschen nicht zu unterscheiden sind; jede Art von Beziehungswunsch ist erfüllbar, uneingeschränktes privates Glück und die vollständige Abschaffung der Einsamkeit sind kurz davor, Wirklichkeit zu werden. Doch die Zahl der Selbsttötungen hat sich verzehnfacht. Denn die neuen Wesen beherrschen zwar die hohe Kunst der simulierten Liebe, können aber keine Verantwortung für jene übernehmen, mit denen sie zusammenleben. Immer mehr Menschen gehen an sozialer Entfremdung zugrunde. Deshalb kommt Roberta auf den Markt. Sie soll die Angehörigen der Suizidant*innen ausfindig machen, um dem Sozialamt die Bestattungskosten zu ersparen. Versagt sie, wird sie in Einzelteile zerlegt und an die Haushaltsrobotik verscherbelt. Und nicht jeder ist am Erfolg ihrer Ermittlungen interessiert.

Emma Braslavsky blickt einer Stadt ins Nachtherz und führt uns auf die dunkle Seite einer aufgekratzten Metropole. Ihr Roman ist Großstadtmärchen und Kriminalgeschichte und erzählt witzig und rasant von der Radikalisierung des Individuums, von der schmalen Grenze zwischen natürlichem und künstlichem Leben und von der Allmacht der Algorithmen.



Emma Braslavsky, 1971 in Erfurt geboren, lebt seit 1999 als freie Autorin und Kuratorin in Berlin. Ihr Deb&uuml;troman, <em>Aus dem Sinn</em>, wurde 2007 mit dem Uwe-Johnson-F&ouml;rderpreis ausgezeichnet. Mit ihrer Erz&auml;hlung <em>Ich bin dein Mensch </em>lieferte sie die Vorlage f&uuml;r den gleichnamigen Film von Maria Schrader, der 2022 mit vier Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet und als deutscher Kandidat f&uuml;r die Oscars ausgew&auml;hlt wurde.

Lennard


Würde die Sonne in der Nacht scheinen, wäre sie sprachlos, was da alles zum Vorschein käme. Das Tageslicht kann die dunklen Seiten einer Stadt nicht aufdecken. Denn nur nachts entblößt die Metropole ihre langen Beine, nur dann zuckt ihr Puls in den nervösen Lichtern. Und nur aus der Ferne betrachtet, glüht dieses Spinnentier in der Finsternis, aus der gerade die Nachtbotendrohnen der Deutschen Post angeflogen kamen, um Briefe in ihren Zustellbezirken zu verteilen. Heute vor genau zehn Jahren hatte Nachtbotendrohne Gert den Zustellbezirk 10999-32 übernommen. Er näherte sich Kreuzberg immer von Südwesten her, stets zur selben Zeit, stets in der vorgeschriebenen gemächlichen Geschwindigkeit und stets auf derselben Route. Dabei erfassten seine Bildsensoren jeden Abend die paradoxen Folgen menschlicher Nyktophobie, der Furcht vor der Dunkelheit, die mit Partys und grellem Gefunkel zurückgedrängt wurde, mit Lichtern und Irrlichtern, mit denen kein Tageslicht mithalten konnte. Die Nacht war mächtig, sie infiltrierte die Gefühle, sie steuerte die Gemüter, im Dunkel entstand und zerfiel das Glück.

Heute war der Abend klar, der Himmel leer, seine Schwärze schien weit weg, es war kühl. Wie immer um diese Zeit war auf der Bergmannstraße viel los. Menschen überall, Paare und Gruppen drängten sich vor und in den Lokalen. Sie liefen quer über die Straße, Fahrzeuge bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Ein Flickenteppich aus Gelächter und Gesprächen rollte sich auf und schob sich über die erleuchteten und geöffneten Fenster hinweg die Fassaden hoch. Gert flog gut zwei Meter über den Köpfen, er steuerte Richtung Hasenheide und dann weiter Richtung Görlitzer Park. Blickte man nach oben, sah man die an ihm befestigte silberfarbene Kassette, prall gefüllt mit Briefen. Gert begann seine Tour in der Wiener Straße. Im Haus Nummer 47 im dritten Stock belieferte er einen Gustav Appel seit zwei Jahren mit Liebesbriefen. Jeden Samstagabend warf er einen in den dafür vorgesehenen Postschlitz neben dem Wohnzimmerfenster. Doch diesmal war der Schlitz zugeklebt. Erfolglos drückte er den Brief gegen die Tesa-Membran. Danach, so erforderte es die Dienstvorschrift, schwenkte er ans Fenster und klopfte mit einem Kunststofffinger gegen das Glas. Herr Appel hatte die Gardinen nicht zugezogen, und das Bild, das Gerts Sensoren erfassten, durfte er nicht speichern oder verarbeiten. Er hätte die Situation auch gar nicht verstanden, denn er war nicht dafür gebaut, zu verstehen, was er da »sah«. Gustav, ein Mann um die vierzig, lag nackt und reglos im Erbrochenen auf dem Sofa. Vier leere Wodkaflaschen, einige Tabletten und Reste von weißem Pulver auf dem Glastisch, daneben ein kleines Messer. Gert klopfte erneut mit dem Kunststofffinger an die Scheibe, so wie es die Dienstvorschrift verlangte. Dann schwenkte er zum Postkasten zurück, druckte einen Sticker aus, klebte ihn gut sichtbar auf den Kasten und schwebte einen Stock tiefer. Er warf den Brief beim Nachbarn ein. Danach setzte er seine Zustellungstour fort.

Hinter dem geöffneten Fenster des Nachbarn im zweiten Stock erschien Beata, die den Einwurf bemerkt hatte, und hob den Brief auf. »Ich habe gekocht, Lennard. Warum willst du in einem Restaurant Geld ausgeben?«

»Kätzchen, wir haben was zu feiern, vergessen?«, sagte Lennard, nachdem er einen Seufzer abgelassen hatte, und verteilte kleine Küsse auf ihrem Hals. »Lass die Rechnung einfach liegen.« Er nahm ihr den Brief aus der Hand und ließ ihn auf den gewienerten Holzfußboden fallen. Seine Hände massierten ihre Schultern. Beate drehte sich zu ihm um und umarmte ihn, dabei legte er seine Wange an ihre Brust.

»Ich bin extra einkaufen gegangen.« Beata hatte Schmolllippen und dunkelblondes Haar und war einen halben Kopf größer als er. »Und ich habe die Tischdecken gewaschen.«

»Wenn ich mehr Kohle hätte, dann hätten wir das mit dem Kochen und Putzen auch noch anpassen lassen.«

»Pedro wollte das eben so.«

Lennard legte die Hände an ihre Wangen. Seine Miene verriet, dass er den Namen nicht mehr hören konnte und dass ihm scheißegal war, ob sie putzte oder kochte, und dass dieser Pedro ein Niemand sein musste, weil er eine optisch so geile Recheneinheit wie Beata mit solch banalen Features hatte ausstatten lassen.

Als Lennard Beata vor drei Monaten unten auf der Straße vor dem Haus begegnet war, konnte er sein Glück nicht fassen. Es war Freitagabend, er war abgebrannt. Obendrein hatte er es verpasst, rechtzeitig die Schlüssel für sein neues Studio beim Vermieter abzuholen und war deshalb das Wochenende über obdachlos. Und Beata war gerade sitzengelassen worden, schon zum zweiten Mal, eine Ex ohne Bezugsperson in einer geputzten, verlassenen Wohnung. Weil ihrem letzten Ex, der zu seinem neuen Lover gezogen war, die Wohnung gehörte, wurde sie nicht sofort vor die Tür gesetzt. Er suchte jemand zur Zwischenmiete, der Beata übernehmen konnte. Er hatte ein Herz, und Lennard kam gerade im richtigen Moment.

Beata sah wie ein Model aus, aber sie wusste ja nicht, wie sie aussah, wie sie wirkte. Das war nicht wichtig. Eine Recheneinheit war ausschließlich für ihre Bezugsperson da, die sie nach ihren Wünschen hatte programmieren und anfertigen lassen. Lennard hatte schon mehrere solcher abgelegten Ex-Partnerinnen gesehen, aber Beata berührte ihn in ihrer glamourösen Anmut. Zwar hatte sie etwas an sich, das ihn an seine Mutter erinnerte, aber, na ja, er war im Moment nicht in der Situation, wählerisch sein zu können. Sie hatte damals an der Hauswand gelehnt und in seine Richtung geblickt, als er mit einem Joint im Mund angetrottet kam, so als wartete sie auf ihn. Er war eigentlich auf dem Weg zu einem neuen Bekannten, der tauchen lernen wollte und dem er seine alte Ausrüstung verkauft hatte. Lennard sollte sein Tauchlehrer werden. An dem Abend waren sie locker verabredet, und Lennard hoffte, bei ihm die zwei Nächte auf dem Sofa verbringen zu können. Aber als er Beata gegenüberstand und sie ihn so erwartungsvoll anstarrte, da blickte er ihr einfach direkt in die Augen und sagte: »Da bin ich.«

Sie hatte nicht gelächelt, sondern nur gesagt: »Jetzt ist das Essen kalt.«

»Kein Ding. Bei der Hitze ist es besser so. Ich hab echt Kohldampf.«

Sie nickte. »Das hab ich dir angesehen.«

Diese Szene war alles andere als außergewöhnlich gewesen. Fälle wie Beata gab es unzählige in der Stadt. Das Geschäft mit den Hubots boomte. Die Recheneinheit Beata war von PersonalPartner programmiert und den Wünschen des Kunden akkurat angepasst und ausgeliefert worden. Mit dem Versprechen, jedem Beziehungsideal gerecht zu werden, war PersonalPartner zu einem Börsenriesen geworden. Sein Konkurrent Youbotlove erklärte Berlin in Werbeslogans sogar zur »Hauptstadt der neuen Liebe«. Wer heute noch einsam und todunglücklich herumlief, war selbst schuld. Niemand brachte dafür mehr Verständnis auf, und selbst notorisch Abgebrannte wie Lennard konnten leicht in den Genuss dieser künstlichen Liebesspender und Lebensgefährten kommen, wenn auch aus zweiter Hand, denn Ideale und Trends waren wie alles in dieser Stadt: flüchtig.

Beata funktionierte top in allen häuslichen Angelegenheiten. Außerdem war sie freundlich und geduldig. Nur wusste sie nicht, wie man Liebe und Wärme gab. Immerhin, dachte Lennard, konnte er ihr das, anders als seiner Ex-Frau, verzeihen. Beata war nicht bitter, nicht eitel, nicht selbstsüchtig, auch nicht herrschsüchtig und verletzend. Aber eben auch nicht liebevoll und zärtlich. Sie hatte diese Programme nicht installiert bekommen, weil dieser Pedro offenbar keinen Bedarf daran hatte. Und ein entsprechendes Upgrade konnte sich Lennard nicht leisten. Also versuchte er mühsam, ihr jenes Verhalten beizubringen, nach dem er sich so sehr sehnte. Nach einem Monat Übung umarmte sie ihn, nachdem er ihr die Schultern massiert hatte, und er konnte seinen Kopf an ihre Brust lehnen. Auch berührten ihre Lippen seine, wenn er sie bat, sie zu küssen; zwar war es kein richtiger Kuss, es war nur eine Berührung, aber schon dafür war er dankbar. Und eigentlich war Lennard froh, dass Beata ohne jeden Vorwurf putzte, wenn er manchmal total breit im Morgengrauen nach Hause kam und sich später im Halbschlaf im Bett übergab. Nie ekelte sie sich vor ihm, und anders als seine Eltern und sein erfolgreicher Bruder verschonte sie ihn mit beißendem Spott, wenn mal wieder eine seiner...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte AI • Algorithmen • Androiden • Artificial Intelligence • Beerdigung • Berlin • Beziehung • Chat-GPT • DALL-E • Dating • Desinteresse • Einsamkeit • Entfremdung • Familie • Freiheit • Gender • Geschlecht • Hubot • humanoid • Identität • Individuum • KI • Kommissarin • Krimi • Kriminalfall • künstlich • Künstliche Intelligenz • Liebe • Literaturpreis des Wirtschaftsclubs im Literaturhaus Stuttgart 2019 • Logbuch • Metamorphose • Noir • Partner • Partnerbörsen • Partnerin • Polizei • Ratschläge zur Verbesserung der Weltlage • Real • Roberta • Roboter • Robotik • Sehnsucht • Selbstmord • Selbsttötung • Simulation • simuliert • Sondereinheit • Sozialamt • Start-up • Suizid • Tod • Warenwelt der Wunder
ISBN-10 3-518-75544-7 / 3518755447
ISBN-13 978-3-518-75544-0 / 9783518755440
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