Im Licht der Zeit (eBook)

Roman

****

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99515-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Licht der Zeit -  Edgar Rai
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In Amerika hat der Tonfilm längst die Kinos erobert, Deutschland verliert mit seinem Stummfilm den Anschluss. Nun soll die mächtige Ufa das Land wieder an die Spitze führen, koste es, was es wolle. Ein halbes Jahr später hat der geniale Karl Vollmöller fast alles beisammen: eines der modernsten Tonfilmateliers, den gefeierten Oscarpreisträger Emil Jannings, den besten Stoff und den perfekten Regisseur. Sein Film, 'Der blaue Engel', wird nicht einfach einer mehr sein, er wird ein neues Zeitalter einläuten, da ist sich Vollmöller sicher. Nur die Hauptdarstellerin fehlt. Die Dietrich könnte passen, als Revuegirl ist sie eine Klasse für sich. Aber sie besitzt doch keinerlei schauspielerisches Talent! Vollmöller würde ihr trotzdem ein Vorsprechen verschaffen.

Edgar Rai, geboren 1967 in Hessen, studierte Musikwissenschaften und Anglistik. Von 2003 bis 2008 war er Dozent für Kreatives Schreiben an der FU-Berlin. Seit 2012 ist er Mitinhaber der literarischen Buchhandlung Uslar & Rai in Berlin. Mit seinem Bestseller »Nächsten Sommer« (2010) gelang ihm der Durchbruch als Autor. Außerdem erschienen »Die fetten Jahre sind vorbei« (Roman zum Film von Hans Weingartner 2004) ), »Vaterliebe« (Roman, 2008), »Salto Rückwärts« (Roman, 2010), »88 Dinge, die Sie mit Ihrem Kind gemacht haben sollten, bevor es auszieht« (Sachbuch zus. mit Hans Rath, 2011), »Sonnenwende« (Roman, 2011), »Wenn nicht, dann jetzt« (Roman, 2012) sowie »Die Gottespartitur« (2014), »Halbschwergewicht« (2018), »Im Licht der Zeit« (2019) und zuletzt »Ascona« (2021). Als Autorenduo zusammen mit Hans Rath entwickelte er die Kriminalromanreihe »Bullenbrüder«, zu denen die beiden auch die Drehbücher verfasst haben. Außerdem legte Edgar Rai unter dem Pseudonym Leon Morell den Bestseller »Der sixtinische Himmel« vor. Er lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Amelie Thoma, und den gemeinsamen Kindern in Berlin.

Edgar Rai, geboren 1967 in Hessen, studierte Musikwissenschaften und Anglistik. Von 2003 bis 2008 war er Dozent für Kreatives Schreiben an der FU-Berlin. Seit 2012 ist er Mitinhaber der literarischen Buchhandlung Uslar & Rai in Berlin. Mit seinem Bestseller "Nächsten Sommer" (2010) gelang ihm der Durchbruch als Autor. Außerdem erschienen "Die fetten Jahre sind vorbei" (Roman zum Film von Hans Weingartner 2004) ), "Vaterliebe" (Roman, 2008), "Salto Rückwärts" (Roman, 2010), "88 Dinge, die Sie mit Ihrem Kind gemacht haben sollten, bevor es auszieht" (Sachbuch zus. mit Hans Rath, 2011), "Sonnenwende" (Roman, 2011), "Wenn nicht, dann jetzt" (Roman, 2012) sowie zuletzt "Die Gottespartitur" (2014) und "Halbschwergewicht" (2018). Als Autorenduo zusammen mit Hans Rath entwickelte er die Kriminalromanreihe "Bullenbrüder", zu denen die beiden auch die Drehbücher verfasst haben. Außerdem legte Edgar Rai unter dem Pseudonym Leon Morell den Bestseller "Der sixtinische Himmel" vor. Er lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Amelie Thoma, und den gemeinsamen Kindern in Berlin.

1


Berliner Volkszeitung

2. Februar 1917

Der K. u. K. Heeresbericht

Amtlich wird verlautbart:

Außergewöhnlich strenges Winterwetter unterbindet auf der gesamten Ostfront jedwede stärkere Kampftätigkeit. Auch vom italienischen Kriegsschauplatz und aus Albanien ist nichts Wesentliches zu melden.

 

 

Der mannshohe Spiegel aus besseren Tagen lehnte an der Wand und schien sie von unten herauf anzublicken. So wirkten ihre Beine noch länger, als sie es ohnehin waren. Marlene legte eine Hand in den Nacken, die andere in die Taille, schob kokett ihr Becken vor. Kindchen, hatte Tante Vally letzten Sommer zu ihr gesagt, diese Beine werden es noch mal weit bringen. Marlene liebte ihren Spiegel, und der Spiegel liebte ihre Beine.

Marlene liebte auch Tante Vally, die immer so fesch gekleidet war und sich so damenhaft zu bewegen wusste. Allein die Art, wie sie ihre Handschuhe auszog, hatte etwas kolossal Mondänes. Eigentlich war sie auch noch nicht alt, gerade einmal dreißig. Selbst Mutter war noch nicht alt, nur zehn Jahre älter als Vally, aber im Gegensatz zur Tante wirkte Josephine verbissen, wie eine alte Hündin, die ihren Knochen verteidigte, obwohl der längst abgenagt war. Dabei war auch Tante Vally bereits verwitwet. Bis auf die ganz alten waren bald alle verwitwet. Man fragte sich, wer an den vielen Fronten überhaupt noch kämpfte.

Marlene versuchte es sitzend, auf der Bettkante, ein Bein ausgestreckt, den Kopf zur Seite gedreht. Nein. Ihre Beine, ja, die waren über jeden Zweifel erhaben, auch an den Schultern gab es wenig auszusetzen. Doch wenn das Licht sie von der Seite traf, so wie jetzt, warf ihre Nase einen grotesken Schatten auf die Wange. Unmöglich sah das aus.

Als Tante Vally ihr sagte, dass ihre Beine es noch weit bringen würden, hatte sie einen ähnlichen Blick auf Marlenes Beine gehabt wie jetzt der Spiegel. Allerdings war Marlene nicht gänzlich nackt gewesen. So weit hatte Tante Vally sich nicht gehen lassen. Immerhin hatte sie erlaubt, dass Marlene sie küsste, während Elisabeth und Mutter unten in der Schlange vor dem Bäcker standen und darauf warteten, ihre Brotkarten gegen etwas Essbares einzutauschen. Das dauerte für gewöhnlich.

Tante Vally zu küssen hatte Marlene heißkalte Schauer über den Rücken laufen lassen, mehr noch als das Küssen selbst aber erregte sie, dass Tante Vally so sehr versuchte, es nicht zu wollen. Dass diese weltgewandte und selbstsichere Frau so hilflos und zugleich berauscht war angesichts von Marlenes leidenschaftlichem Drängen. Bei Vallys nächstem Besuch, das hatte Marlene sich fest vorgenommen, würde sie es nicht bei Küssen belassen. Sie erhob sich und stellte ihr linkes Bein aus. Wohlwollend betrachtete sie die sanfte Erhebung ihres Venushügels. Ihrer Figur hatte der Krieg nicht geschadet. Noch dünner allerdings durfte sie nicht werden. Magere Frauen waren ein Graus.

 

Die Tür schwang auf. »Um Himmels willen!« Auf halber Höhe – Marlenes Kammer war der Hängeboden über dem Badezimmer, und Josephine stand auf der Treppe – erschien Mutters Kopf. »Was ist das bloß mit dir?«

Marlene sah sie von oben herab an, von Scham keine Spur. Nicht einmal die Knie nahm sie zusammen. Das war es, was Josephine am meisten Sorgen bereitete: diese Schamlosigkeit. Jeder hatte von Zeit zu Zeit unzüchtige Gedanken, Begierden und Sehnsüchte. Aber wenn die sich schon nicht unterdrücken ließen, dann doch bitte im Geheimen!

»Wieso hast du nicht geklopft?«, fragte Marlene.

»Ich habe sehr wohl geklopft, zweimal!«

Endlich lupfte Marlene ihren Büstenhalter vom Spiegel und begann sich anzukleiden. »Und warum hast du geklopft? Geübt hab ich schon – zwei Stunden.«

»Becce ist da. Er möchte dich sprechen.«

Marlene fuhr herum. »Becce? Hier, bei uns?«

»Er steht im Flur wie ein begossener Pudel, offenbar ist er sehr in Eile.« Josephine konnte nicht verhindern, dass ihr Blick auf Marlenes unverhüllte Scham fiel. »Aber einerlei, wie eilig er es haben mag, er wird warten müssen, bis du dir etwas angezogen hast, und zwar etwas mehr als diese neumodische Topflappenkonstruktion.«

 

Giuseppe Becce stand im Flur mit gewienerten Schuhen, glänzendem Haar, eingefallenen Wangen und sorgenzerfurchter Stirn. Sein Hut klopfte einen unhörbaren Takt gegen den Oberschenkel. Er trug bereits Frack und Fliege für den Abend, fehlte nur der Taktstock. Elisabeth, neugierig wie immer, war aus ihrem Zimmer gekommen, Josephine, in ihrem vergeblichen Bemühen, die Zügel nicht aus der Hand zu geben, wich Marlene nicht von der Seite. Manchmal konnte sie einem direkt leidtun. Ihr Bestreben, den Werdegang ihrer Töchter in vorgezeichnete Bahnen zu lenken, war schon immer ausgeprägt gewesen, aber seit Eduard gestorben war, hatte dieses Bestreben obsessive Züge angenommen.

»Sie müssen sich ein schwarzes Kleid anziehen, Fräulein Dietrich«, sagte Becce unumwunden. »Ich brauche Sie.«

Natürlich witterte Josephine sofort das nächste Liebesdrama im Hause von Losch. Bei Marlene köchelte immer etwas. Dieses Kind war wie ein Wildpferd mit Federboa, das steckte in ihr drin. Vorletztes Jahr, als sie den Sommer in Bad Harzburg verbracht hatten, war es Josephine gelungen, heimlich einen Blick in Marlenes Tagebuch zu werfen. Die Zeilen standen ihr noch immer vor Augen: Ich hab solche Sehnsucht! HH ist 14, aber wie 17. Abküssen im Hausflur. Danach enttäuscht. Nicht einmal die 14-jährigen Buben in Bad Harzburg waren vor Josephines jüngster Tochter sicher. Und woher bitte wusste Marlene, wie die mit siebzehn waren? Und jetzt Becce. Dabei hätte der Dirigent, der ihre Tochter im Geigenspiel unterrichtete, Marlenes Vater sein können! Unwillkürlich strafften sich Josephines Schultern.

»Die zweite Geige ist ausgefallen«, erklärte Becce. »Lörsch und Rosenberg haben beide Fleckfieber.«

Beinahe schien Josephine enttäuscht, dass es keinen Anlass geben sollte, sich zu echauffieren. Seit die Polonaisen vor den Geschäften länger und länger wurden, ging die Kriegspest um. Lörsch und Rosenberg waren nicht die Einzigen aus Becces Orchester, die es getroffen hatte.

Marlene spürte den Boden unter den Füßen nachgeben. »Ich soll in Ihrem Orchester spielen – bei der Premiere?«

»Die zweite Geige können Sie mühelos vom Blatt spielen«, versicherte Becce.

Elisabeth von links, Becce von vorn, Josephine von rechts. Alle sahen Marlene an. Als gebe es da eine Entscheidung zu treffen. Ihre Hand schloss sich um das Medaillon mit der Fotografie des einen, einzigen Menschen, für den sich Marlene ohne zu zögern in jede Gewehrkugel gestürzt hätte, dem sie Autogrammkarten geschickt, Blumen vor die Garderobe gelegt und vor dessen Haus sie heimlich gewartet hatte, ohne zu wissen worauf.

Lange Zeit hatte Josephine versucht, Marlenes Verehrung für die Schauspielerin als vorübergehende Schwärmerei abzutun, doch von Elisabeth wusste sie, dass Marlene sich jeden Film mit der Diva mindestens ein halbes Dutzend Mal ansah, dass sie ihretwegen seit Jahren Woche für Woche ins Marmorhaus am Ku’damm pilgerte und dass ihr Tagebuch vor Liebesschwüren überquoll.

Marlene glühte vor Aufregung.

»Wird sie da sein?«

»Die Porten?«, erwiderte Becce. »Natürlich wird sie da sein. Ist schließlich die Premiere. Jannings ebenfalls, Trautmann, Biebrach ... Alle werden da sein!«

Selbst Josephine wurde ganz ehrfürchtig, als sie die Namen hörte. Da konnte Marlenes Leidenschaft für das Kino ihr noch so sehr ein Dorn im Auge sein. Andererseits: Wer wollte dem Proletariat vorwerfen, sich in Zeiten wie diesen nach Zerstreuung zu sehnen, nach Herzeleid und Liebesglück? Es gab kaum noch etwas zu essen oder zu heizen, die Menschen erfroren und verhungerten in den eigenen vier Wänden, in den Straßen, verbluteten an der Front, und doch eröffnete jede Woche ein neues Kino.

»Dein Kleid!«, rief Marlene.

Elisabeth, die direkt neben ihr stand, wurde von einem Peitschenhieb getroffen. »Was?«

»Dein schwarzes Kleid – das du bei Vatels Beerdigung getragen hast. Schnell!«

Im nächsten Augenblick waren Marlene und ihre Schwester in Elisabeths Zimmer verschwunden. Josephine von Losch stand vor Giuseppe Becce und fühlte sich übergangen.

»Seit wann spielen Frauen in Filmorchestern?«, wollte sie wissen. Vielleicht ließ sich wenigstens ein kleiner Anlass für Protest finden.

»Seit heute«, erwiderte Becce.

»Heißt das, meine Tochter wird als einzige Frau zwischen lauter Männern im Orchestergraben sitzen?«

»Sofern mir nicht noch die Klarinette ausfällt ...«

Josephines Hände rangen miteinander. Einerseits war das Kino ein für gebildete Menschen unwürdiger Zeitvertreib und konnte der Karriere einer klassischen Geigerin kaum zuträglich sein. Andererseits hatte Josephine inzwischen so viel Zeit, Geld und Nerven in die Ausbildung ihrer Tochter investiert – ein halbes Dutzend Lehrer hatte Marlene bereits verschlissen –, da hatte man für eine Gelegenheit wie diese wahrscheinlich dankbar zu sein.

Josephine erhob einen letzten Einspruch, und auch den nur pro forma.

»Ist sie nicht viel zu jung?«

Giuseppe Becce gab die Antwort aller Fragen. »Es ist Krieg, Madame.«

Schwungvoll kehrten die Töchter in den Flur zurück, Marlene präsentierte sich mit einer eleganten Drehung in Elisabeths schwarzem, knöchellangem Kleid.

Josephine hätte sich gerne großmütig gezeigt und mit einem Lächeln ihr Einverständnis signalisiert, wurde aber beim Anblick des Kleides von einer lähmenden Erinnerung an Eduards Beerdigung überrascht. Trotz des kalten Luftzugs im Flur spürte sie plötzlich wieder die Hitze, die im Abteil geherrscht hatte, als sie...

Erscheint lt. Verlag 5.8.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik Neuerscheinung • Berlin • Berliner Nachtleben • Bestseller • Blauer Engel • Der Blaue Engel • Die Dietrich • Emil Jannings • Filmstudio • Gebunden • Gereon Rath • Geschichtlich • Goldene Zwanziger • Henny Porten • historisch • Historischer Roman • Karl Vollmöller • Kino • Lichtspielhaus • Literatur Deutschland • Marlene Dietrich • Oscar • Oscar-Preisträger • Professor Unrat • Rath • Rosa Fröhlich • Scala • spiegel bestseller • Stummfilm • Tonfilm • Tragödie • Volker Kutscher • Zwanzigerjahre • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-492-99515-2 / 3492995152
ISBN-13 978-3-492-99515-3 / 9783492995153
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