Middlemarch (eBook)
1264 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05741-8 (ISBN)
George Eliot (eigentlich Mary Ann Evans; geboren in Warwickshire am 22. November 1819, gestorben in London am 22. Dezember 1880) gehörte zu den erfolgreichsten Autorinnen des viktorianischen Zeitalters. Ihr Roman 'Middlemarch' ist einer der berühmtesten Klassiker der englischen Literatur und wurde 2015 von 82 internationalen Literaturkritikern und -wissenschaftlern zum bedeutendsten britischen Roman gewählt.
George Eliot (eigentlich Mary Ann Evans; geboren in Warwickshire am 22. November 1819, gestorben in London am 22. Dezember 1880) gehörte zu den erfolgreichsten Autorinnen des viktorianischen Zeitalters. Ihr Roman "Middlemarch" ist einer der berühmtesten Klassiker der englischen Literatur und wurde 2015 von 82 internationalen Literaturkritikern und -wissenschaftlern zum bedeutendsten britischen Roman gewählt. Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, hat, neben zahlreichen Herausgeberarbeiten, u.a. Jane Austen, Honoré de Balzac, A. S. Byatt, Charles Dickens, Michael Ondaatje, R. L. Stevenson und Virginia Woolf übersetzt. Preise und Auszeichnungen: Zuger Übersetzer-Stipendium 1999, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis 2001, Literaturstipendium der Stadt München 2006, zahlreiche Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds. Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, hat, neben zahlreichen Herausgeberarbeiten, u.a. Jane Austen, Honoré de Balzac, A. S. Byatt, Charles Dickens, Michael Ondaatje, R. L. Stevenson und Virginia Woolf übersetzt. Preise und Auszeichnungen: Zuger Übersetzer-Stipendium 1999, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis 2001, Literaturstipendium der Stadt München 2006, zahlreiche Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds. Kristian Wachinger, geboren 1956 in München, gelernter Verlagsbuchhändler, studierte Germanistik und Romanistik in München, Hamburg und in Frankreich. Er lebt und arbeitet als Lektor und Übersetzer in Berlin.
Erstes Buch Miss Brooke
Erstes Kapitel
Da ich als Frau nichts Gutes tun kann,
bemühe ich mich ständig um dem Guten Nahes.
Die Braut von Beaumont und Fletcher
Miss Brookes Schönheit war von jener Art, die durch ärmliche Kleidung betont wird. Hand und Handgelenk waren so anmutig, dass sie Ärmel tragen konnte, die kaum weniger unelegant waren als die, in denen die Heilige Jungfrau italienischen Malern erschienen war; und ihrem Profil, ihrer Gestalt und ihrem Auftreten verlieh die einfache Kleidung noch mehr Würde, was sie neben der provinziellen Mode so beeindruckend wirken ließ wie ein vortreffliches Bibelzitat oder wie das Zitat eines unserer alten Dichter, eingerückt in einen Zeitungsartikel unserer Tage. Man bezeichnete sie für gewöhnlich als ausnehmend klug, allerdings mit dem Zusatz, ihre Schwester Celia verfüge über mehr gesunden Menschenverstand. Dennoch trug Celia kaum mehr Putz, und nur sehr aufmerksamen Beobachtern wäre aufgefallen, dass ihre Kleidung sich von der ihrer Schwester unterschied und ein klein wenig koketter war, denn die schlichte Aufmachung Miss Brookes gründete in Umständen, die fast alle auch ihre Schwester berührten. Stolz auf ihren Stand machte sich darin bemerkbar: Die Brookes waren zwar nicht aristokratischer Herkunft, entstammten aber einer unstreitig «guten» Familie; wenn man ein, zwei Generationen zurückging, fanden sich keine Vorfahren, die Ellenreiter oder Ladenschwengel gewesen wären – keine unedleren Berufe als den eines Admirals oder eines Geistlichen –, und es ließ sich sogar ein Ahne ausmachen, der als puritanischer Edelmann unter Cromwell gedient, danach aber die anglikanische Konfession angenommen hatte und dem es gelungen war, aus allen politischen Wirrnissen mit einem beachtlichen Familienbesitz hervorzugehen. Junge Damen solchen Standes, die auf einem friedlichen Landsitz lebten und eine Dorfkirche besuchten, die kaum größer war als ein Wohnzimmer, mussten Putz zwangsläufig für den Ehrgeiz einer Hausierertochter halten. Hinzu kam die Sparsamkeit besserer Kreise, die es in jenen Tagen geraten sein ließ, auf prunkvolle Kleidung als Erstes zu verzichten, wenn alles, was man erübrigen konnte, für standesgemäßere Ausgaben benötigt wurde. All das hätte schlichte Kleidung mehr als hinreichend erklärt, von religiösen Empfindungen ganz abgesehen, doch im Fall Miss Brookes hätten Letztere allein den Ausschlag gegeben; und Celia fügte sich nachgiebig allen Überzeugungen ihrer Schwester, verdünnte sie aber mit dem gesunden Menschenverstand, der eine gewichtige Doktrin hinnehmen kann, ohne in exzentrische Aufwallungen zu verfallen. Dorothea kannte viele Stellen aus Pascals Pensées und von Jeremy Taylor auswendig, und in ihren Augen machten die Geschicke der Menschheit, im Licht des Christentums gesehen, ein Nachdenken über Damenmoden zu einer des Narrenhauses würdigen Beschäftigung. Die Bestrebungen eines spirituellen Lebens samt seinen Folgen in der Ewigkeit konnte sie nicht mit lebhaftem Interesse an Chemisetten und Tournüren in Einklang bringen. Ihr Geist war theoretischer Ausrichtung und sehnte sich nach einem erhabenen Begriff von der Welt, der selbst die Pfarrei von Tipton und Dorotheas eigene moralische Maßstäbe umfassen konnte; sie schwärmte für Inbrunst und Größe und zögerte nicht, alles gutzuheißen, was ihr davon zu künden schien; es war ihre Art, sich nach dem Märtyrertum zu sehnen, Rückzüge anzutreten und dann das Märtyrertum dort zu erleiden, wo sie nicht damit gerechnet hatte. Solche Persönlichkeitselemente eines heiratsfähigen jungen Mädchens waren dazu angetan, ihr Schicksal nicht zu erleichtern, sondern eher zu verhindern, dass es sich wie üblich erfüllte, durch gutes Aussehen, Eitelkeit und hündische Zuneigung. Bei alledem war sie als die Ältere noch keine zwanzig Jahre; beide Schwestern waren nach dem Alter von zwölf Jahren und dem Verlust ihrer Eltern in Befolgung sowohl sparsamer als auch verworrener Grundsätze zuerst in einer englischen Familie und danach in einer Schweizer Familie in Lausanne aufgewachsen, womit ihr lediger Onkel und Vormund die Nachteile ihres Waisendaseins zu lindern gesucht hatte.
Seit kaum einem Jahr lebten sie in Tipton Grange bei ihrem Onkel, einem Mann von Anfang sechzig, gefügigen Temperaments, divergierender Ansichten und wankelmütigen Wahlverhaltens. In jüngeren Jahren war er gereist, und in diesem Teil der Grafschaft galt er als jemand, der sich eine allzu unstete Geistesverfassung angeeignet hatte. Mr. Brookes Beschlüsse waren so schwer vorauszusehen wie das Wetter: Mit einiger Sicherheit konnte man nur sagen, dass er wohlwollende Absichten hegen und bei ihrer Umsetzung so wenig Geld wie möglich ausgeben würde. Denn auch die schlüpfrigsten und sprunghaftesten Geister bergen einen harten Kern der Gewohnheit, und schon mancher hat sich nachlässig in allen persönlichen Belangen gezeigt bis auf den Umgang mit seiner Schnupftabaksdose, über die er misstrauisch, eifersüchtig und habgierig wachte.
In Mr. Brooke war das Erbe puritanischer Energie unzweifelhaft nur schwach ausgeprägt, doch bei seiner Nichte Dorothea durchglühte es ihre Fehler wie ihre Tugenden, äußerte sich bisweilen als Unmut über das Gerede ihres Onkels und seine Art, auf seinen Ländereien «alles beim Alten» zu belassen, und so erwartete sie ungeduldig den Zeitpunkt, an dem sie volljährig sein und über eigenes Geld für großherzige Vorhaben verfügen würde. Sie galt als Erbin, denn die Schwestern hatten von ihren Eltern nicht nur ein Einkommen von jeweils siebenhundert Pfund jährlich geerbt, sondern falls Dorothea heiratete und einen Sohn bekam, würde dieser Sohn Mr. Brookes Landbesitz im vermuteten Wert von dreitausend Pfund Jahreseinkommen erben – wahrer Reichtum in den Augen von Familien in der Provinz, die sich noch immer über Mr. Peels Kehrtwendung in der Katholikenfrage ereiferten und nichts von künftigen Goldfeldern ahnten oder von der großartigen Plutokratie mit ihrer noblen Veredelung vornehmer Lebensbedürfnisse.
Und warum hätte Dorothea nicht heiraten sollen? – ein so schönes Mädchen mit solchen Aussichten? Nichts stand dem im Weg außer ihrem Hang zur Überspanntheit und der Beharrlichkeit, mit der sie im Alltagsleben Grundsätzen huldigte, die einen vorsichtigen Mann davor zurückscheuen lassen konnten, um ihre Hand anzuhalten, und die sie selbst möglicherweise dazu bewegen mochten, jeden Freier abzuweisen. Eine junge Dame aus gutem Hause und mit Vermögen, die sich unvermittelt neben einem kranken Arbeiter auf den gepflasterten Boden kniete und inbrünstig betete, als wähnte sie sich in den Zeiten der Apostel, und die befremdlichen Grillen frönte – zu fasten wie ein Papist und nachts dazusitzen und alte theologische Schwarten zu lesen! So einer Frau war zuzutrauen, dass sie ihren Ehemann eines schönen Morgens mit einem neuen Plan für die Verwendung ihres Einkommens überraschte, der weder mit politischer Ökonomie noch mit dem Halten von Reitpferden vereinbar gewesen wäre, und verständlicherweise würde ein Mann es sich gut überlegen, bevor er wagte, sich auf eine solche Gemeinschaft einzulassen. Von Frauen erwartete man keine ausgeprägten Ansichten; doch der große Schutzschirm der Gesellschaft und des Privatlebens bestand darin, dass Ansichten keine Taten zeitigten. Vernünftige Menschen handelten, wie ihre Nachbarn handelten, sodass man irgendwelche Geistesgestörten, die ihr Unwesen trieben, erkennen und ihnen aus dem Weg gehen konnte.
Die öffentliche Meinung über die neu zugezogenen jungen Damen tendierte – selbst unter den Landarbeitern – eher zugunsten Celias, die so liebenswürdig und arglos war, während Miss Brookes große Augen genau wie ihre religiösen Überzeugungen allzu ungewohnt und auffällig wirkten. Arme Dorothea! Im Vergleich zu ihr war die arglose Celia durchtrieben und weltklug; so viel undurchschaubarer ist der Geist des Menschen als das äußere Gewebe, das sein Wappen oder Zifferblatt bildet.
Doch wer mit Dorothea näher zu tun hatte, stellte ungeachtet aller auf verstörenden Gerüchten fußenden Voreingenommenheit schnell fest, dass sie einen Zauber besaß, der damit schwer zu vereinbaren war. Die meisten Männer fanden sie hinreißend, wenn sie ritt. Sie liebte die frische Luft und die Aussicht im Freien, und wenn ihre Augen und Wangen von den vielfältigen Freuden glühten, glich sie nicht im Entferntesten einer Betschwester. Das Reiten war ein Vergnügen, das sie sich trotz aller Gewissensbisse erlaubte; sie spürte, dass sie es auf heidnisch-sinnliche Weise genoss, und nahm sich immer wieder vor, darauf zu verzichten.
Sie war ungekünstelt, leidenschaftlich und völlig uneitel; es war bezaubernd zu sehen, wie ihre Phantasie ihre Schwester Celia mit Reizen schmückte, die den ihren weit überlegen waren, und wenn irgendein Gentleman den Landsitz aus anderen Beweggründen aufzusuchen schien als dem, Mr. Brooke zu sprechen, schloss sie daraus, dass er in Celia verliebt sein müsse: Sir James Chettam beispielsweise, den sie unablässig von Celias Standpunkt aus betrachtete und dabei erwog, ob Celia gut daran täte, ihn zu heiraten. Dass er ihr selbst den Hof machen könnte, hätte sie als lächerliche Abstrusität abgetan. Bei all ihrer inbrünstigen Sehnsucht, die Wahrheiten des Lebens zu...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2019 |
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Übersetzer | Melanie Walz |
Zusatzinfo | Mit 1 1-farb. Karte |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 1830er Jahre • Anglistik • Bildungsroman • Bücher über Ehe • Die Mühle am Floß • Dorfgeschichte • Ehe • England • Englische Klassiker • Englische Literatur • Englisches Landleben • Feministische Literatur • Feministische narrative Literatur • Fieberforschung • Frauenrollen • Geschlechterrollen • Gesellschaftsroman • Klassiker • klassische Literatur • Liebe • Mary Ann Evans • Neuübersetzung • Soziale Normen • Viktorianische Literatur • Viktorianisches Zeitalter • Virginia Wolff • Weltliteratur • ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-644-05741-9 / 3644057419 |
ISBN-13 | 978-3-644-05741-8 / 9783644057418 |
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