Es wird Zeit (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-20066-1 (ISBN)
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmäßigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmäßigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
Prolog
So hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Seit Jahren frage ich mich, wie es sein wird, wenn wir uns wiedersehen. Seit Jahren habe ich nichts mehr gefürchtet und nichts mehr erhofft, als dir plötzlich gegenüberzustehen.
Und das soll er nun sein, dieser monumentale Moment?
Ich bin sehr enttäuscht.
Hauptsächlich natürlich von mir. Wie meistens. Ich suche gern die Schuld bei mir. Darin habe ich es in langen Jahren zur Perfektion gebracht. Außerdem hat mir meine Mutter ein gewisses Talent dafür bereits in die Wiege gelegt. Wie ein Drogenspürhund den Stoff finde ich jeden Fehler. Bei mir.
Was die Großereignisse meines Lebens angeht, sind die eigentlich nur selten exakt so abgelaufen, wie ich sie mir vorher ausgemalt hatte. Das scheint aber nicht nur mir so zu gehen, ich werde oft genug Zeuge, wie Leute die Realität im Nachhinein beherzt überarbeiten, damit aus Hochzeitsreisen, Geburten, Jubiläen und der eigenen Kindheit genau die Sternstunden werden, von denen sie im Bekanntenkreis voll eindringlicher Bescheidenheit berichten und an die sie irgendwann selber glauben.
Ich selbst bin immer wieder verblüfft, wenn ich mich, oft leider ungefragt, von den Geburten meiner Kinder schwärmen höre. Das klingt so, als hätte ich die allesamt selbstverständlich außerordentlich schönen und knitterfreien Säuglinge quasi nebenbei abgeworfen. Dabei musste mein Ältester mit der Saugglocke geholt werden, und der eine der Zwillinge sah bei der Geburt aus wie eine sehr ungünstige Kreuzung aus Chucky, der Mörderpuppe, und Sitting Bull. Bei allen Niederkünften wurde ich übrigens gleich nach der ersten Wehe eilig in einen abgelegenen Kreißsaal transportiert, damit mein Gebrüll nicht die Parallel-Gebärenden traumatisierte.
Großes inneres Erstaunen lösen auch die Schilderungen meines Mannes oder meine eigenen aus, wenn wir von unserer Trauung erzählen. Fast könnte ich selbst den Eindruck gewinnen, es habe sich um eine Liebesheirat gehandelt. Tatsächlich bin ich froh, dass es wenige Zeugen und Zeugnisse dieser Veranstaltung gibt und absolut Verlass war auf meine Mutter und ihr Talent, absurd schlechte Fotos zu machen, auf denen in der Regel fast nichts zu erkennen ist. Man sieht mich auf den Bildern nur als senfgelben Fleck mit Fledermausärmeln und Wasserfallkragen, und soweit ich weiß, wurde niemals eine dieser Ablichtungen irgendwo aufgestellt oder aufgehängt. Was nicht nur an der mangelnden Qualität der Fotos, sondern auch an der mangelnden Qualität der Gefühle der Braut gelegen haben könnte. Keiner, der dabei war, hat je von dieser Hochzeit geschwärmt. Womöglich ahnten die meisten, dass irgendwas nicht stimmt. Und dies, obwohl ich bis heute niemandem etwas von meiner Schuld erzählt habe.
Es ist schon so verdammt lang her. Zwanzig Jahre.
Wie aus dem Leben einer Fremden. Ich war ein anderer Mensch damals. Ich wäre ein anderer Mensch geworden, hätte ich mich anders entschieden. Aber die Sache ist längst verjährt. Die Zeit ging ins Land und zertrampelte dabei etliche meiner Träume und meiner Albträume.
Und jetzt diese Begegnung. Noch vor wenigen Sekunden hätte ich voll innerer Überzeugung behauptet, die alte Wunde sei verheilt und der Originalzustand quasi wiederhergestellt; ein unvermutetes Wiedersehen mit dir würde ich souverän und mit gelassener Freundlichkeit meistern, darauf hätte ich gewettet.
Ich habe mich jedoch offensichtlich getäuscht. Mein jahrzehntelang meist reibungslos funktionierender Verdrängungsmechanismus fliegt mir plötzlich um die Ohren wie ein bei Tempo zweihundert platzender Reifen. Jetzt bloß die Ruhe bewahren, sonst könnte erheblicher Sach- und Personenschaden entstehen.
Ich habe dich sofort erkannt, dahinten zwischen den Ilexsträuchern. Und das auf die Entfernung und obwohl ich mit den Bifokallinsen, die ich seit drei Jahren trage, gar nicht gut zurechtkomme. Eigentlich nehme ich mit den inkompetenten Sehhilfen immer gerade das verschwommen wahr, was scharf sein sollte, und umgekehrt. Vor zwei Jahren habe ich mich aus diesem Grund heillos in den angeblich so sehenswerten Gassen von Aix-en-Provence verlaufen, weil es mir weder möglich war, die Straßennamen auf dem Stadtplan zu entziffern, noch die auf den Straßenschildern. Ich fühlte mich umgeben von einem wabernden, unscharfen, lilafarbenen Meer aus Lavendelduftsäckchen und musste schließlich meinen Standort per WhatsApp an den Rest der Familie schicken und mich dort einsammeln lassen. Schon seit geraumer Zeit werde ich von meinen Söhnen wegen der Schriftgröße auf meinem Handy verspottet, weil man meine Nachrichten angeblich aus beliebiger Entfernung mitlesen könne. Und in unschöner Erinnerung bleibt mir auch die Episode, als ich im Freibad trotz Linsen erst in der Herrenumkleide landete und dann gegen das Drehkreuz rumpelte, das ich von der falschen Seite aus betrat.
Natürlich habe ich hin und wieder an dich gedacht, und das tat auch manchmal noch ein bisschen weh. Der erste Oktober war ein regelmäßiger Stolperstein im Rhythmus der Jahre, der Jahrestag der Beerdigung. Ich war ja nicht dabei und auch später nie am Grab gewesen. An diesem leeren Loch, in dem keine Leiche, sondern all meine Träume begraben worden waren.
Ich dachte, ich hätte im Großen und Ganzen meinen Frieden gefunden mit dem, was damals passiert ist. Aber jetzt, wo ich dich sehe, weiß ich, dass ich falsch gedacht habe. Der Frieden ist vorbei.
Du hast immer noch dieselbe Körperhaltung. Stolz und fordernd. Die Haltung eines Menschen, der um nichts kämpfen musste. Das gute Leben ist dir in den Schoß gefallen. Mir nicht.
Ich bin in der Zwischenzeit auch erwachsen und reif geworden, jedenfalls Teile von mir. Ich habe wirklich allen Grund, dir erhobenen Hauptes gegenüberzutreten. Aufrecht und stolz.
Reflexartig ducke ich mich hinter einen Stein und halte den Atem an. Bin ich das wirklich? Dieses krumme Ding? Ich kneife die Augen fest zusammen. Bescheuert. Als würde ich unsichtbar, sobald ich selbst nichts mehr sehen kann. So reagiert eine Zweijährige, die sich vor einer bösen Fee fürchtet. Keine lebenserfahrene Frau, die konsequent die pralle Sonne meidet und regelmäßig zur Zahngesundheitsprophylaxe geht. Das Einzige, woran ich meine Lebenserfahrung in diesem Moment überdeutlich spüre, sind meine Knie und mein unterer Rücken. Alles andere an mir benimmt sich, als wäre ich wieder zwanzig und somit nicht ganz zurechnungsfähig.
Nein, ich kann das nicht! Zwei Jahrzehnte sind offensichtlich doch nicht genug. Bitte, liebes Schicksal, jetzt noch nicht! Morgen vielleicht. Oder lieber übermorgen oder noch viel lieber gar nicht! Ich schaffe es einfach nicht, dir selbstbewusst und glaubhaft ins Gesicht zu lügen.
So hocke ich also im Schatten des schützenden Steins, und Teile meiner Beine fühlen sich bereits an, als gingen sie in Verwesung über, während die gesamte Becken- und Lendenwirbelregion stumm gegen die ungewohnte Krümmung rebelliert. Erste Knorpel drohen knirschend mit Kündigung. Meine Absätze versinken langsam im Erdreich, wodurch ich zunehmend in eine groteske Schieflage gerate. Ich reiße die Augen auf, und in einer letzten, verzweifelten Selbstrettungsgeste greife ich nach dem direkt vor mir pittoresk herabhängenden Ast einer Birke.
Geschafft. Mein Niedergang scheint fürs Erste gestoppt. Ich lasse den Atem langsam und stoßweise durch die halbgeschlossenen Lippen entweichen, wie ich es mit meiner Therapeutin zigmal für Fälle innerer Anspannung und seelischer Not geübt habe.
Bis gestern dachte ich noch, Eintönigkeit und Routine seien meine größten Probleme. Aber wenn ich aus dieser Situation physisch und psychisch unbeschadet wieder rauskomme, dann, das schwöre ich, werde ich mich nie wieder unüberlegt und vorlaut nach mehr Aufregung in meinem Leben sehnen.
Man kann gar nicht vorsichtig genug sein mit dem, was man sich wünscht. Meine Bekannte Helga wollte eine nette, kleine Affäre – jetzt bekommt sie Zwillinge von ihrem Paketboten. Also: Ich nehme offiziell hier und jetzt alles zurück. Ich liebe mein Leben so, wie es ist, und will mich in Zukunft mit der Aufregung und Zerstreuung begnügen, die mir durch Netflix-Serien, die jährliche Betreuung des Krippenspiels für Grundschüler und die Probleme anderer Leute zuteilwird – die Hälfte meiner Freundinnen ist frisch geschieden, oder es ist nur noch eine Frage von Minuten.
Und tatsächlich: Dieses eine Mal wenigstens ist das Glück auf meiner Seite. Der dünne Ast, an dem ich sehr hänge, scheint zu halten, und mein Atem beruhigt sich allmählich.
Doch dann, ohne Vorwarnung und mit geradezu hämischer Heftigkeit gibt der fiese Zweig nach, es kommt mir fast so vor, als würde mich der Baum absichtlich in mein Verderben schubsen. Frühblüher. Kennt man ja. Alles Schweine. Und die Birken sind die aggressivsten.
Wie in einem Klimbim-Sketch aus den Siebzigern mit Ingrid Steeger und Peer Augustinski kippe ich nach hinten, ich falle langsam, aber unabänderlich, wie in Zeitlupe, jedoch mit zerstörerischer Wucht. Irgendetwas scheppert und zerbricht. Es könnte sich unter anderem um mein sowieso fragiles Selbstwertgefühl handeln.
Vorsorglich schließe ich meine Augen erneut. Stille. Hast du womöglich nichts bemerkt? Unwahrscheinlich zwar, aber vielleicht hat dich das nahende Alter mit schlechtem Gehör und grauem Star gesegnet. Man wird ja noch hoffen dürfen.
Ich atme betont positiv ein, um mein Karma zu optimieren. Doch das nutzt anscheinend nichts. Schritte kommen in meine Richtung. Immer näher. Dann wieder Stille.
Ich spüre deinen Blick auf mir, noch bevor ich deine Stimme höre. Vertraut. Vielleicht...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2019 |
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Illustrationen | Peter Pichler |
Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Ill. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Älterwerden • Best Ager • Familie • Frau • Frauenroman • Freunde • Geheimnis • Ildikó von Kürthy • Krebs • Mondscheintarif • Muttertagsgeschenk • Sterben • zeitgenössische Belletristik |
ISBN-10 | 3-644-20066-1 / 3644200661 |
ISBN-13 | 978-3-644-20066-1 / 9783644200661 |
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