Als Kind habe ich Stalin gesehen (eBook)
254 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75287-6 (ISBN)
Eine respektvolle Schweigeminute angesichts der desolaten Lage des ostdeutschen Theaters schlug Christoph Hein auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR 1987 vor; in seiner kompromißlosen Rede gegen die in seinem Land herrschende Zensur formulierte er: »Die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar.« Offen und präzise, engagiert und leidenschaftlich, ironisch und sarkastisch meldet sich Hein in Essais und Reden aus den Jahren 1987 bis 1990 zu Wort - zur Literatur, Politik und Zeitgeschichte, zu Max Frisch und Arno Schmidt ebenso wie zum Historikerstreit und den Ereignissen des Oktober und November 1989.
<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>
II
Die Welt ist kleiner geworden
Eine Vorbemerkung zum Motto unserer Begegnung, die ich abkürzen kann, da Stephan Hermlin und Bernt Engelmann bereits dazu sprachen: »Berlin – ein Ort für den Frieden«, das ist, denke ich, keine Aussage oder Behauptung, sondern ein Versprechen und eine Hoffnung. Von Berlin gingen in den letzten 120 Jahren drei Kriege aus, zwei davon Weltkriege. Wir sollten darum nicht verwundert sein, wenn die Welt die Stadt Berlin noch nicht als ein Symbol für Frieden anzusehen vermag. Geschichte ist nicht zu tilgen, aber sie ist zu nutzen.
Eine zweite Vorbemerkung: Einige Beiträge dieses Gesprächs ließen den Eindruck entstehen, daß – wenn die durch Gorbatschow in Gang gekommenen Abrüstungsinitiativen zum Erfolg führen – wir in einer Welt frei von uns bedrohenden Waffensystemen leben werden. Das ist, fürchte ich, eine Täuschung, ein unrealistischer Euphemismus. Wir werden, selbst wenn die Großmächte – wie wir alle hoffen – zu einer Null-Lösung kommen, weiterhin auf einer waffenstarrenden Welt leben. Wir sollten uns da nicht täuschen, uns nicht täuschen lassen und nicht unfreiwillig andere täuschen.
Schriftstellertreffen zur Friedensforschung stehe ich skeptisch gegenüber, und ich schlug entsprechende Einladungen bislang aus. So besorgt, wie wir alle um den gegenwärtigen Zustand der Welt und das, was wir heute Frieden nennen, sind, weiß ich doch nicht, mit welchem Wort oder Gedanken ich nur das Geringste dazu beitragen kann, diesen Frieden zu erhalten oder gar für die Zukunft zu sichern. Ich glaube nicht, daß ich als Schriftsteller eine besondere Möglichkeit habe, den nicht nur denkbar gewordenen globalen Suizid aufzuhalten. Ich glaube sogar, daß ich als Schriftsteller in diesen Jahrzehnten unseres Jahrhunderts keine größere Verantwortung für den Frieden habe als jeder andere Mensch, da die aufklärerischen Möglichkeiten und Funktionen, die vergleichbare Treffen noch vor Jahrzehnten hatten, in dieser Zeit durch die Massenmedien verlorengingen.
Allerdings scheint es mir nun wieder möglich zu sein, Hoffnung zu haben, ohne als dumm, unbelehrbar oder zynisch zu gelten, seitdem eine Weltmacht begann, der Welt Vorschläge zu unterbreiten, die man noch vor wenigen Jahren als Fantasien allzu blauäugiger Friedensfreunde ansah.
Seit Gorbatschow – und Gorbatschow ist, denke ich, auch ein Ergebnis der weltweiten Friedensbewegung und auch das endlich erreichte Resultat der Arbeit einer nicht verschreckbaren Intelligenz, nennen will ich hier die sowjetische antistalinistische Intelligenz, eingeschlossen die Künstler und Schriftsteller –, seit Gorbatschow haben wir einen greifbaren Ansatz zu einer Hoffnung auf ein Ende der unaufhörlichen, sich bereits verselbständigenden Rüstung.
In den letzten vier Jahrzehnten haben wir die Gefahren der Aufrüstung kennengelernt, wir hier in Europa nur einige ihrer Gefahren. Für die letzten Folgen der Rüstung haben die Erste und Zweite Welt bislang stets die Dritte Welt als Schauplatz gewählt.
Wir werden nun, fürchte ich, mit den Gefahren der Abrüstung konfrontiert. Denn die Rüstung schafft in einem Teil dieser Welt nicht nur Profit, Rüstung bedeutet dort auch Arbeitsplätze, Abrüstung heißt dort Arbeitslosigkeit. Das tägliche Brot ist in diesen Ländern immer noch an die Produktion der Technik für den Weltuntergang geknüpft. Arbeitslosigkeit ist da der reale Schrecken von heute, vor dem der drohende Schrecken von morgen, der Dritte Weltkrieg, verblaßt. Das mag uns absurd, verrückt, verbrecherisch scheinen und ist es auch, aber auch das gehört zur Realität unserer noch immer aus den Fugen geratenen Welt. Und überall in der Welt sitzt das Hemd näher als der Rock, selbst wenn dieser Rock Untergang, Genozid bedeutet. Diese mögliche, um des Friedens willen notwendige Arbeitslosigkeit in der kapitalistischen Welt wird dann direkt zu unserem Problem. Denn Arbeitslosigkeit, die Deutschen sollten es wissen, fördert Rüstung und Krieg.
Die Welt ist kleiner geworden. Die unlösbaren Schwierigkeiten und Widersprüche des politischen Gegners kann die andere Seite nicht mehr triumphierend begrüßen. Sie muß sie als Gefahr für sich selbst begreifen. Es reicht nicht mehr aus, sich für den Gegner berechenbar zu machen, jede Seite muß der anderen förderlich sein, Schaden von ihr wenden, um nicht selbst Schaden zu nehmen. Bei Strafe des eigenen Untergangs. Das werden wir alle als neue, ungewohnte, schwer annehmbare und zu akzeptierende Lektion lernen müssen. »Ende der Voreingenommenheit gegenüber der anderen Seite« nannte das gestern Mykolas Sluckis. Wir können auch sagen: Hoffnung auf ein Ende des Kalten Krieges. Noch ist der Kalte Krieg der einzige Frieden, mit dem umzugehen und mit dem zu leben wir gelernt haben.
In dieser Welt, die sich offenbar auf den einzig heilversprechenden Status quo eingerichtet hat, bleibt das unlösbare Problem der Befreiungsbewegungen. Jede kleinste Veränderung in einem für unsere übliche eurozentristische Weltsicht scheinbar entlegenen Winkel der Welt zerbricht augenblicklich den Status quo, bringt die Weltmächte zur Konfrontation und die Welt an den Abgrund der Katastrophe. Bedeutet das, nur wenn die unterdrückten Völker auf ihre Hoffnung verzichten, kann die Welt hoffen, weiter zu existieren? Müssen wir künftig vor jeder Bewegung, vor jedem Fortschritt in einem der Länder dieser Welt tödlich erschrecken, da diese Veränderung die gesamte Welt gefährdet?
Die Zensur ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar
1. Der verratene Leser
»Die verschiedenen Empfindungen des Vergnügens oder des Verdrusses beruhen nicht so sehr auf der Beschaffenheit der äußeren Dinge, die sie erregen, als auf dem jedem Menschen eigenen Gefühle, dadurch mit Lust oder Unlust gerührt zu werden. Daher kommen die Freuden einiger Menschen, woran andere einen Ekel haben, die verliebte Leidenschaft, die öfters jedermann ein Rätsel ist, oder auch der lebhafte Widerwille, den der eine woran empfindet, was dem andern völlig gleichgültig ist. Das Feld der Beobachtungen dieser Besonderheiten der menschlichen Natur erstreckt sich sehr weit und verbirgt annoch einen reichen Vorrat zu Entdeckungen, die ebenso anmutig als lehrreich sind. Ich werfe für jetzt meinen Blick nur auf einige Stellen, die sich in diesem Bezirke besonders auszunehmen scheinen, und auch auf diese mehr das Auge eines Beobachters als des Philosophen.«
Soweit Immanuel Kant. »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« nennt Kant diesen Blick. Unser Jahrhundert beließ von diesem Vokabular ungekränkt lediglich das Wort »Beobachtung«. Bei dem »Gefühl«, dem »Schönen und Erhabenen« zögern wir. Wir nennen das Thema sachlicher »Literatur und Wirkung«. Die Aufgabe für den Beobachter und Berichterstatter jedoch ist so unverändert wie die verschiedenen Wirkungen des gleichen sie verursachenden Gegenstands, in unserem Fall der Literatur, des Buchs.
Und die Wirkungen sind, wie Immanuel Kant bemerkt, sehr viel weniger dem »äußeren Ding«, dem Buch, geschuldet als der Verfassung des Konsumenten, des Lesers. Die Wirkungen, die Literatur hervorruft, sind fast immer überraschend und häufig unvorhersehbar. Von den Wirkungen läßt sich nur bedingt auf das Buch schließen, aber unbedingt auf den Leser. Schon Immanuel Kant wußte von jenen »wohlbeleibten Personen, deren geistreichster Autor ihr Koch ist und deren Werke von feinem Geschmack sich in ihrem Keller befinden«, jene, die das Bücherlesen und -vorlesen lieben, »weil es sich sehr wohl dabei einschlafen läßt«, und jene, deren emsigste und einzigste Lektüre ihrem Kontobuch gilt.
Beifall und Ablehnung, Begeisterung und Langeweile, moralische und politische Wertungen ...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Essay • Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 • Ostdeutschland • Ostdeutschland DDR • Prix du Meilleur livre étranger 2019 • Reden • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2019 • ST 3624 • ST3624 • suhrkamp taschenbuch 3624 • Zensur |
ISBN-10 | 3-518-75287-1 / 3518752871 |
ISBN-13 | 978-3-518-75287-6 / 9783518752876 |
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