Weihnachten auf Carnton - Tamera Alexander

Weihnachten auf Carnton

*****

Buch | Hardcover
288 Seiten
2019 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-084-3 (ISBN)
5,00 inkl. MwSt
Franklin, Tennessee, 1863: Das Leben macht es Aletta Prescott nicht gerade leicht: Nachdem ihr Mann im Bürgerkrieg gefallen ist, verliert sie nun auch noch ihre Arbeitsstelle. Zum Glück findet die schwangere Witwe mit ihrem ungestümen kleinen Sohn überraschend eine neue Anstellung im Herrenhaus von Carnton. Dort begegnet sie Captain Jake Winston, der sich von einer Schussverletzung erholt. Er ist nicht gerade erpicht darauf, der wohltätigen Frauengruppe, die auf Carnton eine Weihnachtsauktion für verwundete Soldaten ausrichtet, unter die Arme zu greifen. Doch Alettas kleiner Wildfang Andrew hat es ihm angetan. Und während äußere und innere Wunden zu heilen beginnen, scheint die nahende Weihnachtszeit ein ganz besonderes Geschenk für Jake und Aletta bereitzuhalten ...

Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

Kapitel 1 13. November 1863 Franklin, Tennessee 35 km südlich von Nashville »Sehr schöne Stiche, Mrs Prescott.« Aletta blickte auf. Sie war so auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie ihren Vorgesetzten nicht hatte kommen hören. Heute Nachmittag wollte sie pünktlich aus der Fabrik kommen, denn es war ein ganz besonderer Tag und Andrew war bestimmt schon aufgeregt. Ihr Sohn brauchte diese Ermutigung. Und sie selbst auch. »Danke, Mr Bodeen, für Ihre freundlichen Worte.« »Sie leisten immer ausgezeichnete Arbeit, Mrs Prescott. Alle Stiche sind so gerade und gleichmäßig. Einfach perfekt.« Sie lächelte dankend, obwohl sie einen beunruhigenden Unterton in seiner Stimme hörte. Andererseits klang Mr Bodeen nie besonders fröhlich. Er war unverheiratet, nicht viel älter als sie und schien eher zu den traurigen Zeitgenossen zu gehören. Er war ein unzufriedener, melancholischer Mann. Aber wie sollte ein Mann, der gesund war und noch alle Gliedmaßen an seinem Körper hatte, auch ein gutes Selbstwertgefühl haben, von Stolz ganz zu schweigen? Schließlich hatte er beschlossen, zu Hause zu bleiben und in einer Fabrik zu arbeiten, statt sich den anderen Männern anzuschließen, die ihr Zuhause und ihre Lieben zurückgelassen hatten, um im Krieg zu kämpfen? Wie ihr geliebter Warren. Ihre Kehle war vor Schmerz wie zugeschnürt. Würde es immer so wehtun? Sie schluckte. Es war auf den Tag genau ein Monat, seit sie den Brief vom Kriegsministerium bekommen hatte, aber sie konnte immer noch nicht richtig glauben, dass er tot war … »Können Sie zu mir ins Büro kommen, Mrs Prescott?« »In Ihr Büro, Sir?« Aletta hörte mitten im Nähen auf und schaute über die Reihen der anderen Näherinnen zur Uhr an der Fabrikwand. Viertel nach vier. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis ihre Schicht vorbei war. Dann fühlte sie die Blicke der anderen. Als sie sich umschaute, senkten die Frauen schnell wieder die Köpfe und richteten ihre neugierigen Augen wieder auf ihre Arbeit. Bis auf eine Frau. Sie saß auf der anderen Seite der Fabrik. Aletta erkannte sie. Sie hieß Maria, wenn sie sich richtig erinnerte. Sie hatte ungefähr zur gleichen Zeit angefangen in der Chilton-Textilfabrik zu arbeiten wie sie. Maria nahm ihren Mantel und ihr Handtäschchen und wischte sich Tränen aus den Augen. »Mrs Prescott.« Mr Bodeen deutete zur Tür. »In mein Büro bitte.« Aletta legte das Kleidungsstück, das sie gerade nähte, weg. Es behagte ihr überhaupt nicht, es aus der Hand zu legen, obwohl es noch nicht fertig war. Aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass die unfertige Näharbeit ihre geringste Sorge war. Sie folgte ihm durch den Gang und an den Reihen ihrer Kolleginnen vorbei. Das Klappern ihrer Stiefelabsätze erfüllte den Raum, in dem eine deutliche Anspannung zu spüren war. Mr Bodeens Büro war, wie sie schnell feststellte, wesentlich besser vor der Winterkälte geschützt als die Fabrik. Sie rieb ihre Hände aneinander und war für die Wärme dankbar. Trotzdem kostete es sie große Mühe, ihre Nerven zu beherrschen. Ihre Fingerknöchel waren von den vielen Stunden, die sie nähte, steif und geschwollen. Doch wenn sie daran dachte, was Warren ertragen hatte, verstummten diese bedeutungslosen Klagen sofort. Er hatte immer darauf geachtet, in seinen Briefen nicht zu viele Details über den Krieg zu verraten. Aber bei seinem Heimaturlaub im April – als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte – hatte er in der Dunkelheit neben ihr gelegen und bis in die frühen Morgenstunden erzählt, was er alles erlebt hatte, von den Schlachten, vom Leben unter den Soldaten und von den unzähligen Freunden, die er im Krieg gefunden – und wieder verloren hatte. »Freunde, die mir so nahe standen wie Brüder, wenn ich welche gehabt hätte«, hatte er geflüstert, während sein warmer Atem ihre Haut berührt hatte. »Einer dieser Freunde stammt auch aus Franklin. Emmett Zachary. Du würdest ihn mögen, Lettie. Vielleicht lernst du ja irgendwann seine Frau kennen.« So hatte sie ihn noch nie zuvor reden gehört. So offen, als wäre die Last, die auf seiner Seele lag, zu schwer geworden, um sie länger allein tragen zu können. Seine Worte hatten unauslöschliche Bilder in ihrem Kopf eingebrannt. Bilder, die sie gern vergessen würde, aber sie erinnerten sie auch an Warren. Und sie wollte alles, was sie von ihm hatte, festhalten. Sie hatte sich vorgenommen, Kate Zachary zu besuchen, und sie hatten sogar zweimal Tee getrunken. Aber die Stunden und Tage schienen genauso wie die Wochen dahinzufliegen und sie hatte Kate seit dem Nachmittag, an dem sie sie besucht hatte, um ihr den Brief zu zeigen, den sie vom Kriegsministerium bekommen hatte, nicht mehr gesehen. »… auf dem Schlachtfeld gefallen. Er hat für die Liebe zu seiner Heimat und zur Verteidigung seines Landes das größte Opfer gebracht«, hatte in dem Brief gestanden. Dieser Brief war nur zwei Tage nach einem eilig geschriebenen Brief von Warren gekommen. Darin hatte er ihr mitgeteilt, dass es ihm gut gehe und dass er ihr noch zwei weitere Briefe geschrieben hatte, die er bald abschicken würde. Diese Briefe waren jedoch nie bei ihr angekommen. Sie würde vieles geben, wenn sie diese Briefe jetzt hätte. Wenn sie ihren Mann zurückhätte. »Bitte setzen Sie sich, Mrs Prescott.« Aletta kam Mr Bodeens Aufforderung nach. Ihr Blick fiel auf eine handgeschriebene Liste auf seinem Schreibtisch. War es eine Namensliste? Sie versuchte, einen genaueren Blick darauf zu werfen, aber es war nicht so leicht, denn die Worte standen auf dem Kopf … Sie war ziemlich sicher, dass Marias Name daraufstand. Das war die Kollegin, die gerade geweint hatte. Aletta schluckte und Panik machte sich in ihrer Brust breit. »Mrs Prescott, Sie wissen, wie sehr wir Ihre Arbeit schätzen. Wie Sie …« »Bitte nehmen Sie mir nicht meine Arbeit, Mr Bodeen! Wenn es sein muss, kürzen Sie meine Stunden, aber …« »Mrs Prescott, ich …« »Ich liege mit den Hypothekenzahlungen zurück, Mr Bodeen. Ich weiß jetzt schon kaum, wie ich genug zu essen auf den Tisch bringen soll. Mr Stewart im Kolonialwarenladen lässt mich immer wieder anschreiben. Aber ich weiß nicht, was ich …« »Ich wünschte, ich könnte etwas anderes tun, Ma’am, aber …« »Ich habe einen Sohn, Sir. Er heißt Andrew. Er ist sechs. Heute hat er Geburtstag.« Sie bemühte sich zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Er wartet schon auf mich, denn wir wollen …« »Mrs Prescott!« Seine Stimme wurde scharf. »Bitte machen Sie mir die Sache nicht noch schwerer, als sie ohnehin schon für mich ist. Sie sind eine ausgezeichnete Arbeiterin und ich habe Ihnen ein besonders gutes Empfehlungsschreiben ausgestellt. Das ist mehr, als die anderen bekommen.« Er schob ein Blatt Papier über den Schreibtisch. Aletta war so benommen, dass sie das Blatt nur anstarren konnte. Die Worte auf der Seite verschwammen vor ihren Augen. »In Kriegszeiten kaufen die Kunden nicht so viel Kleidung wie früher. Und es gibt einfach nicht genug Arbeit für die Näherinnen, die bei uns angestellt sind. Es tut mir leid. Sie waren eine der letzten Frauen, die wir eingestellt haben.« »Aber Sie haben doch gerade erst meine Arbeit gelobt. Sie haben gesagt, dass ich immer ausgezeichnete Arbeit leiste.« »Ich weiß, was ich gesagt habe, Mrs Prescott.« Er wandte den Blick ab. »Ich wollte … den Schlag abmildern.« Sie blinzelte und legte eine Hand auf ihren Bauch. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Boxhieb in den Magen bekommen, wie Warren sagen würde. Es hatte Wochen gedauert, bis sie diese Arbeit gefunden hatte, und das war vor fast einem Jahr gewesen. Vorher hatte sie ihre Arbeit in der Bäckerei verloren. Die wirtschaftliche Situation in Franklin war jetzt viel angespannter als früher. Als Mr Bodeen sich erhob, stand sie ebenfalls auf, obwohl ihr Verstand wie in einem Nebel war. »Mrs Prescott, da heute Freitag ist, können Sie Ihren Wochenlohn im Rechnungsbüro abholen, wenn Sie gehen.« Sein Entschluss stand fest. Sie nahm das Empfehlungsschreiben, faltete es zusammen und steckte es in ihre Rocktasche. Wenige Minuten später verließ sie die Fabrik. Sie war benommen und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte und wohin sie gehen sollte. Aber wenigstens hatte sie ein Empfehlungsschreiben, und das brauchte sie auch, um aus der Masse der vielen Frauen, die eine Arbeitsstelle suchten, herauszuragen. Tannenkränze zierten bereits die wenigen Schaufenster. Doch in Aletta regten sich beim besten Willen keine festlichen Gefühle. Jedenfalls nicht in diesem Jahr. Als sie sich dem Bahnhof näherte, sah sie einen Mann, der an der Straßenecke saß. Er hielt eine Blechtasse in der Hand. Bettler waren in diesen Tagen ein gewohntes Bild. Sie bedauerte, dass sie nicht viel hatte, das sie ihm geben konnte. Als sie näher kam, stellte sie fest, dass er überhaupt nicht saß. Er war amputiert worden. Dieser Mann hatte beide Beine verloren. Als er sich umdrehte und sie anschaute, ließ sie der gequälte Blick in seinen Augen nicht los. Er war blond und hatte eine rötliche Haut. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Warren. Aber sie konnte nichts anderes sehen als ihren Mann. Wie war Warren gestorben? Auf dem Schlachtfeld, das wusste sie. Aber hatte er gelitten? Oh, sie betete, dass er nicht hatte leiden müssen, sondern sein Tod schnell gekommen war. Sie griff in ihr Handtäschchen, holte eine Münze heraus und ließ sie in die Tasse fallen. Das Klirren von Metall auf Metall machte diesen Moment noch schmerzhafter. »Gott segne Sie, Ma’am.« »Er segne auch Sie, Sir«, flüsterte sie. Dann ging sie weiter, obwohl sie eine starke Niedergeschlagenheit fast erdrückte. Präsident Lincoln hatte vor Kurzem verkündet, dass der letzte Donnerstag im November als ein Tag begangen werden sollte, an dem man Gott dankte und lobte. Gott vergebe ihr, aber sie war im Moment nicht sehr dankbar. Allein schon der Gedanke, ohne Warren Weihnachten zu feiern, tat weh. Sie atmete stockend ein. Die Temperaturen, die um den Gefrierpunkt lagen, drangen durch ihren Mantel, den sie sich enger um den Bauch zog. Die Knöpfe konnte sie nicht mehr zumachen. Sieben Monate und eine Woche. So lange war sie nach ihrer Berechnung schon schwanger. Sie wusste das so genau, weil Warrens Urlaub so lange zurücklag. Sie hatten so aufgepasst, als sie zusammen gewesen waren. Wenigstens hatten sie es versucht. Oh, guter Gott! Wie hatte sie das zulassen können? Was sollte sie nur machen? Sie bemühte sich, ihre Gedanken nicht wieder eine so düstere Richtung einschlagen zu lassen. Schließlich war sie eine Frau, die daran glaubte, dass Gott sie liebte und versorgte. Aber es gab Zeiten wie diese, in denen ihr Glaube schwach war und von den Lasten des Lebens fast erdrückt wurde. Sie wünschte, sie könnte ihre Gedanken vor Gott verstecken. Aber er sah alles. Er hörte jeden stummen Gedanken. Und im Moment war das für sie alles andere als tröstlich. Mit großen Schuldgefühlen, die sich zu ihren Sorgen gesellten, setzte sie ihren Weg auf der Hauptstraße fort. Als sie bei der Baker Street ankam, bog sie nach rechts ab. Zehn Minuten später blieb sie an der Ecke der Fünften Straße und der Vine Street stehen und betrachtete das Haus, das zwei Häuser weiter stand. Ihr Haus. Ein bescheidenes Haus, das Warren vor vier Jahren mit einem Kredit von der Franklin-Bank für ihre Familie gekauft hatte. Die Bank drohte den Kredit zurückzufordern. Jetzt hatte sie auch noch die einzige Möglichkeit verloren, Geld zu verdienen. Sie lief Gefahr, sogar ihren Eigenanteil an dem Haus zu verlieren, wenn sie die Bank nicht überzeugen konnte, ihr mehr Zeit zu geben. Sie hatte daran gedacht, das Haus zu verkaufen, aber niemand kaufte in Zeiten wie diesen ein Haus. Sie ging weiter zum Haus ihrer Freundin. Sie hatte Warren erst Ende August von dem Baby geschrieben, da sie – nach zwei Fehlgeburten in den letzten zwei Jahren – erst hatte sicher sein wollen, dass sie das Baby nicht wieder verlieren würde. Aber in seinem letzten Brief hatte er ihre Schwangerschaft mit keinem Wort erwähnt. Hatte er überhaupt von dem Baby erfahren, bevor er gestorben war? Die Unionsarmee hatte vor Kurzem mehrere Häfen im Süden abgeriegelt und die Post der Konföderierten abgefangen. Vielleicht hatte Warren ihren Brief also nie bekommen. Das würde auch erklären, warum seine letzten beiden Briefe nicht angekommen waren … »Mama!« Kurz bevor sie MaryNells Haus erreicht hatte, sah Aletta ihren Sohn auf sie zustürmen. »Was machst du denn hier draußen, Schatz?« Sie drückte ihn fest an sich und spürte, dass seine kleinen Ohren eiskalt waren. »Und dann auch noch ohne Mantel und Schal?« »Ich brauche keinen Mantel. Seth und ich spielen draußen, weil seine Mutter im Haus mit dem Mann von der Bank spricht.« Aletta runzelte die Stirn, sagte aber nichts, da Seth sie vom Vorgarten aus beobachtete. MaryNell Goodall wusste, wie leicht Andrew krank wurde und dass er sich bei diesem eisigen Wetter warm anziehen musste. Da er drei Wochen zu früh auf die Welt gekommen war, war er schon immer ziemlich klein für sein Alter gewesen. Obwohl er einen gesunden Appetit hatte – wenn sie es sich leisten könnte, würde der Junge den ganzen Tag über essen –, war er immer ein wenig kleiner und leichter als die anderen Jungen in seinem Alter. Was würde jetzt aus ihm werden, nachdem sie ihre Arbeit verloren hatte? Wie sollte sie ihn versorgen? Und in knapp zwei Monaten auch noch das Baby? Erst jetzt fiel ihr ein, dass ihre Kündigung auch Auswirkungen auf MaryNell hatte. Als MaryNell vor einigen Monaten ihre Arbeit verloren hatte, hatte sie angeboten, auf Andrew aufzupassen und ihn zusammen mit Seth zu Hause zu unterrichten. MaryNells Angebot war genau im richtigen Moment gekommen und ein Segen für sie gewesen. Sie wohnte nur vier Straßen von Aletta entfernt und Seth und Andrew waren bereits gute Freunde gewesen. Aletta bestand darauf, MaryNell jede Woche einen kleinen Lohn zu zahlen. Trotzdem wusste sie nicht, wie die Frau über die Runden kam, da sie keine Stelle hatte und genauso wie sie mit den Hypothekenzahlungen zurücklag. Ganz zu schweigen davon, dass sie von ihrem Mann, Richard, seit über drei Monaten nichts mehr gehört hatte. Das ließ nichts Gutes erahnen. Aber es bestand immer noch Hoffnung. MaryNell, die sehr ruhig und überdurchschnittlich hübsch war, hatte sich nie beklagt. Trotz der Sorgen, die schwer auf ihr lasteten, sah Aletta die Aufregung in Andrews Augen und bemühte sich um einen unbeschwerten Tonfall. »Komm, wir holen deinen Mantel, damit wir nach Hause gehen und deinen Geburtstag feiern können!« »Du machst wirklich meinen Lieblingskuchen?« »Natürlich.« Sie hatte wochenlang gespart, um die Zutaten für den Schokosahnekuchen kaufen zu können. Zucker, Vanille und Kakao waren so teuer und so schwer zu bekommen. Doch jetzt konnte sie nichts anderes denken als daran, wie dringend sie dieses Geld für ihren Lebensunterhalt gebraucht hätte. Aber es war Andrews Geburtstag, und sie war entschlossen, alles zu tun, damit es für ihn ein besonderer Tag wurde. Sie stieg die Stufen zur Veranda hinauf und klopfte an die Tür. Einen Moment später öffnete ihr MaryNell und schaute sie überrascht an. »Aletta! Du kommst sehr früh. Aber … schön für dich. Ich sage ja immer, dass du viel zu viel arbeitest.« Nach einem kurzen Zögern trat sie schließlich beiseite. »Komm herein. Ich habe die Jungen hinausgelassen, damit sie ein wenig spielen können.« »Ja, das habe ich gesehen«, antwortete Aletta leise. Dann bemerkte sie einen Mann, der auf dem Sofa saß. Als sie eintrat, stand er auf. Sein Blick wanderte zwischen MaryNell und ihr hin und her. Aletta hatte das Gefühl, dass sie bei irgendetwas störte. »Mr Cornwall«, sagte MaryNell schließlich mit fester Stimme. »Darf ich Ihnen Mrs Warren Prescott vorstellen. Aletta, das ist Mr Cornwall. Er ist … ein Bekannter. Von der Franklin-Bank.« Mr Cornwall war groß, hatte eine breite Brust und einen dicken Bauch. Er war deutlich älter als sie. Er hatte eine beherrschende Art und strahlte etwas Unangenehmes aus. Obwohl ihn MaryNell als einen Bekannten bezeichnet hatte, fand Aletta es seltsam, dass ihre Freundin dem Mann nicht in die Augen schauen konnte. Und seit wann machten Bekannte von der Bank Hausbesuche? »Mrs Prescott.« Er schaute sie an. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Aletta nickte, aber er schaute schon wieder weg. »Ganz meinerseits, Sir.« Dann wandte er sich ab und drehte sich so in MaryNells Richtung, dass Aletta sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. »Mrs Goodall, ich bin froh, dass ich heute Nachmittag mit Ihnen sprechen konnte. Ich freue mich darauf, bald von Ihnen zu hören.« MaryNells unruhiger Blick richtete sich auf ihn. »Ja. Ich werde … mich melden.« Er schritt zur Tür hinaus und schloss sie hinter sich. Aletta schaute ihm durch das Fenster nach, als er an den Jungen vorbeiging, die Cowboy und Indianer spielten. Plötzlich regte sich in ihr ein schrecklicher Verdacht, den sie eigentlich gar nicht zulassen wollte. Aber als sie MaryNell wieder anschaute und das Grauen und die Schuldgefühle im Gesicht ihrer Freundin sah, war sie ziemlich sicher, dass sie mit ihrem Verdacht richtig lag.

Kapitel 113. November 1863Franklin, Tennessee35 km südlich von Nashville»Sehr schöne Stiche, Mrs Prescott.«Aletta blickte auf. Sie war so auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie ihren Vorgesetzten nicht hatte kommen hören. Heute Nachmittag wollte sie pünktlich aus der Fabrik kommen, denn es war ein ganz besonderer Tag und Andrew war bestimmt schon aufgeregt. Ihr Sohn brauchte diese Ermutigung. Und sie selbst auch. »Danke, Mr Bodeen, für Ihre freundlichen Worte.«»Sie leisten immer ausgezeichnete Arbeit, Mrs Prescott. Alle Stiche sind so gerade und gleichmäßig. Einfach perfekt.«Sie lächelte dankend, obwohl sie einen beunruhigenden Unterton in seiner Stimme hörte. Andererseits klang Mr Bodeen nie besonders fröhlich. Er war unverheiratet, nicht viel älter als sie und schien eher zu den traurigen Zeitgenossen zu gehören. Er war ein unzufriedener, melancholischer Mann. Aber wie sollte ein Mann, der gesund war und noch alle Gliedmaßen an seinem Körper hatte, auch ein gutes Selbstwertgefühl haben, von Stolz ganz zu schweigen? Schließlich hatte er beschlossen, zu Hause zu bleiben und in einer Fabrik zu arbeiten, statt sich den anderen Männern anzuschließen, die ihr Zuhause und ihre Lieben zurückgelassen hatten, um im Krieg zu kämpfen?Wie ihr geliebter Warren.Ihre Kehle war vor Schmerz wie zugeschnürt. Würde es immer so wehtun? Sie schluckte. Es war auf den Tag genau ein Monat, seit sie den Brief vom Kriegsministerium bekommen hatte, aber sie konnte immer noch nicht richtig glauben, dass er tot war ...»Können Sie zu mir ins Büro kommen, Mrs Prescott?«»In Ihr Büro, Sir?« Aletta hörte mitten im Nähen auf und schaute über die Reihen der anderen Näherinnen zur Uhr an der Fabrikwand. Viertel nach vier. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis ihre Schicht vorbei war. Dann fühlte sie die Blicke der anderen.Als sie sich umschaute, senkten die Frauen schnell wieder die Köpfe und richteten ihre neugierigen Augen wieder auf ihre Arbeit. Bis auf eine Frau. Sie saß auf der anderen Seite der Fabrik. Aletta erkannte sie. Sie hieß Maria, wenn sie sich richtig erinnerte. Sie hatte ungefähr zur gleichen Zeit angefangen in der Chilton-Textilfabrik zu arbeiten wie sie. Maria nahm ihren Mantel und ihr Handtäschchen und wischte sich Tränen aus den Augen.»Mrs Prescott.« Mr Bodeen deutete zur Tür. »In mein Büro bitte.«Aletta legte das Kleidungsstück, das sie gerade nähte, weg. Es behagte ihr überhaupt nicht, es aus der Hand zu legen, obwohl es noch nicht fertig war. Aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass die unfertige Näharbeit ihre geringste Sorge war.Sie folgte ihm durch den Gang und an den Reihen ihrer Kolleginnen vorbei. Das Klappern ihrer Stiefelabsätze erfüllte den Raum, in dem eine deutliche Anspannung zu spüren war.Mr Bodeens Büro war, wie sie schnell feststellte, wesentlich besser vor der Winterkälte geschützt als die Fabrik. Sie rieb ihre Hände aneinander und war für die Wärme dankbar. Trotzdem kostete es sie große Mühe, ihre Nerven zu beherrschen. Ihre Fingerknöchel waren von den vielen Stunden, die sie nähte, steif und geschwollen. Doch wenn sie daran dachte, was Warren ertragen hatte, verstummten diese bedeutungslosen Klagen sofort.Er hatte immer darauf geachtet, in seinen Briefen nicht zu viele Details über den Krieg zu verraten. Aber bei seinem Heimaturlaub im April - als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte - hatte er in der Dunkelheit neben ihr gelegen und bis in die frühen Morgenstunden erzählt, was er alles erlebt hatte, von den Schlachten, vom Leben unter den Soldaten und von den unzähligen Freunden, die er im Krieg gefunden - und wieder verloren hatte. »Freunde, die mir so nahe standen wie Brüder, wenn ich welche gehabt hätte«, hatte er geflüstert, während sein warmer Atem ihre Haut berührt hatte. »Einer dieser Freunde stammt auch aus Franklin. Emmett Zachary. Du würdest ihn mögen, Lettie. Vielleicht lernst du ja irgendwann seine Frau kennen.«So hatte sie ihn noch nie zuvor reden gehört. So offen, als wäre die Last, di

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Kleine Auszeit Roman
Übersetzer Silvia Lutz
Sprache deutsch
Original-Titel Christmas at Carnton
Maße 125 x 187 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanischer Bürgerkrieg • Christlicher Glaube • Gottes Beistand in schweren Zeiten • Heilung für verletzte Herzen • Kurzroman • Liebe • Trauer • Weihnachten • Wohltätigkeit
ISBN-10 3-96362-084-6 / 3963620846
ISBN-13 978-3-96362-084-3 / 9783963620843
Zustand Neuware
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