Ufer der Erinnerung - Lynn Austin

Ufer der Erinnerung

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(Autor)

Buch | Hardcover
413 Seiten
2019 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-073-7 (ISBN)
19,95 inkl. MwSt
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Chicago 1897:
Anna Nicholson sieht ihre Zukunft schon genau vor sich: Sie wird ihren wohlhabenden Verlobten heiraten und dadurch ihren Vater vor dem Bankrott retten. Doch die Vergangenheit lässt sie nicht los. Immer wieder muss sie an ihre Oma Geesje denken, die sie gerade erst kennengelernt hat, und an Derk, den angehenden jungen Pastor. Durch die beiden hatte sie eine gänzlich andere Perspektive auf das Leben gewonnen. Doch innerhalb des engen Korsetts der gehobenen Gesellschaft zu ihren neuen Überzeugungen zu stehen, erweist sich als äußerst schwierig. Außerdem ist da noch die Tatsache, dass sie adoptiert wurde. Fieberhaft versucht Anna mehr über ihre leiblichen Eltern in Erfahrung zu bringen. Sie ahnt nicht, dass sie damit einen Skandal lostritt, der alles infrage stellen könnte.

Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Holland, Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.

1. Kapitel Anna Chicago, Illinois 1897 Ich liege noch im Bett und genieße den herrlichen Zustand zwischen Träumen und Wachen, als die Nachricht eintrifft. Unser Hausmädchen hat sie auf einem Tablett in mein Schlafzimmer gebracht, zusammen mit Tee und Toast und einem weich gekochten Ei. Als ich sehe, von wem der Brief stammt, bin ich auf einen Schlag hellwach. Die nächsten Augenblicke werden mein Leben verändern. Ich reiße den Umschlag auf und ziehe die Karte he-raus. Von: Detektei Pinkerton Agenten R. J. Albertson und M. Mitchell An: Miss Anna Nicholson Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass wir Details über Ihre Mutter, Christina de Jonge, in Erfahrung gebracht haben, die Sie möglicherweise interessieren. Bitte lassen Sie uns wissen, zu welchem Zeitpunkt wir Ihnen unsere Ergebnisse erläutern können. Ich schlage die Bettdecke zurück und springe so hastig aus dem Bett, dass das Mädchen überrascht einen Schritt zurückweicht. »Wartet der Kurier, der diese Nachricht gebracht hat, noch auf eine Antwort von mir?«, frage ich. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie das Mädchen heißt. Es ist neu und sehr scheu. Mutter verlangt viel von unseren Dienstboten und nur wenige halten es lange bei uns aus. Dieses arme Ding habe ich auch schon in Tränen aufgelöst gesehen. »I…ich weiß nicht genau, Miss Anna. Soll ich nachsehen gehen?« Sie sieht sich um, als suche sie einen Platz, an dem sie das Tablett abstellen könnte. Die Tasse klirrt auf der Untertasse. »Nein, bitte warte einen Moment.« Ich krame in meinem Schreibtisch nach Briefpapier und einem Stift, um eine Antwort zu schreiben. Ich bin mir sicher, dass der heutige Tag bereits gut mit Terminen gefüllt ist, aber ich bin so aufgeregt, dass ich mich an keinen einzigen davon erinnern kann. Die Detektive von Pinkerton haben einen guten Ruf und sind Experten darin, Geheimnisse aus der Vergangenheit auszugraben, deshalb habe ich schon ungeduldig auf einen Bericht von ihnen gewartet. Rasch kritzele ich eine Nachricht an die Agenten Albertson und Mitchell aufs Papier und bitte sie, heute um drei Uhr herzukommen. Dann falte ich den Briefbogen, schiebe ihn in einen Umschlag und versiegele ihn. »Bring das sofort dem Kurier«, sage ich zu dem Mädchen. Dann entreiße ich ihm das Tablett und drücke ihm stattdessen den Umschlag in die Hand. »Beeil dich!« »Jawohl, Miss Anna.« Als sie gegangen ist, fällt mir ein, dass ich zum Mittagessen bei der Mutter und der Schwester meines Verlobten eingeladen bin. Diese Verabredung wird sich gewiss bis drei Uhr hinziehen, da bin ich mir sicher. Nun, dann werde ich mich eben einfach entschuldigen müssen. Mutter wird darüber verärgert sein, aber das ist nicht zu ändern. Ich warte seit Wochen auf Neuigkeiten über meine leibliche Mutter, seit ich im Juli aus Michigan zurückgekehrt bin. Während ich mittags bei der Gartenparty Tee trinke und winzige Sandwiches esse, kann ich an nichts anderes denken als an den Bericht der Detektive. Williams Mutter hat dieses Mittagessen geplant, um mich ihren langjährigen Freundinnen und deren Töchtern als die Verlobte ihres Sohnes vorzustellen. Der Herbsttag ist so schön, dass wir draußen in den makellos gepflegten Gärten hinter dem Anwesen der Wilkinsons essen. Auf dem Rasen zwischen den Blumenbeeten sind Tische und Stühle arrangiert worden und die Tische sind mit weißen Leintüchern, feinem Porzellan und Silberbesteck gedeckt. Dienstmädchen schenken den Tee aus silbernen Teekannen ein und reichen die Häppchen auf silbernen Tellern an. Die Atmosphäre ist heiter, die Vögel zwitschern und die Luft ist vom Duft der letzten Sommerrosen erfüllt, die an den Rankhilfen hinaufklettern. Mutter sieht aus wie eine Königin, während sie mit Williams Mutter plaudert. Sie strahlt, als wäre sie die Braut in spe und nicht ich. Diese Heirat wird ihren Status in der Chicagoer Gesellschaft um mehrere Stufen anheben. Ich sitze ein Stück entfernt mit Williams Schwester Jane, seiner Tante Augusta und zwei Cousinen an einem Tisch. Eigentlich sollte ich mit vornehmer Begeisterung zuhören, wie sie über William reden und mir von ihren Erwartungen an unseren Hochzeitstag erzählen, aber ich kann kaum still sitzen. Meine einzige Aufgabe ist es, hübsch auszusehen, höflich Konversation zu machen und das Essen zu genießen, aber mir wird zunehmend unbehaglich zumute, so als müsste ich dringend irgendetwas anderes tun. Ich habe keine Ahnung, was. Aber irgendetwas Nützliches. Als endlich das Dessert gereicht wird, bin ich das Lächeln leid. Ich bin von Natur aus schüchtern und nicht gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Immer wieder muss ich auf die kleine Uhr sehen, die an meinem Mieder befestigt ist – ein Geschenk von Mutter und Vater. Die Zeit scheint im Schneckentempo zu verstreichen. Mutter bemerkt, wie ich auf die Uhr blicke, und schüttelt diskret den Kopf, um mich an meine Manieren zu erinnern. Ich hatte nie ein Problem damit, die Regeln zu befolgen, die meine gesellschaftliche Stellung mit sich bringt, bis ich im Sommer eine Woche mit meiner Großmutter Geesje in Michigan verbracht und gesehen habe, wie befreiend ein einfacheres Leben sein kann. Jane, die fünf Jahre jünger ist als ich, beugt sich vor, um mir etwas zuzuflüstern. Sie ist schlank und dunkelhaarig wie William und ihre braunen Augen funkeln übermütig, als sie verstohlen auf eine modisch gekleidete junge Frau zeigt, die in der Nähe des Springbrunnens sitzt. »Hast du Clarice Beacham schon kennengelernt?«, fragt sie. »Nur kurz. Warum?« »William hat ihr eine Weile den Hof gemacht, bevor er dich kennengelernt hat. Clarice war außer sich vor Wut, als er sie deinetwegen hat sitzen lassen.« »Es wundert mich, dass sie heute gekommen ist.« »Meine Mutter und ihre Mutter sind sehr alte Freundinnen. Es war von Anfang an ihre Idee, sie und William zusammenzubringen, nicht seine.« »Ich verstehe.« Clarice ist mit Abstand die schönste Frau bei dieser Gesellschaft und ihr kastanienbraunes Haar ist nach der neuesten Mode frisiert. Sie strahlt ein Selbstbewusstsein aus, das ich nie hatte. Es zeigt sich in der Art, wie sie sitzt und geht und sich mühelos mit den anderen Frauen unterhält. Und doch finde ich, dass ein Wort sie am besten beschreibt, das nicht freundlich ist: hochmütig – als wären Reichtum und Luxus und Privilegien ihr Geburtsrecht. Aber ich wage es nicht, sie zu verurteilen, denn ich hatte den Großteil meines bisherigen Lebens die gleiche Einstellung, auch wenn ich meine Stellung in der Gesellschaft durch Adoption erlangt habe und nicht durch meine Geburt. »Clarice beobachtet dich seit Monaten ganz genau«, erzählt Jane mir, »und wartet nur darauf zuzuschlagen, falls es mit dir und William nicht klappt.« Ich frage mich, warum Jane sich mir so anvertraut. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fügt sie hinzu: »Ich erzähle dir das nur, damit du achtgibst, was du in ihrer Gegenwart sagst. Clarice würde alles tun, um William zurückzubekommen.« Es macht mich nervös zu wissen, dass ich eine Rivalin habe, und dazu noch eine so schöne und skrupellose. »Ich verstehe. Danke für die Warnung, Jane.« »Gern geschehen. Dich mag ich viel lieber als Clarice. Ich hoffe, wir werden Freundinnen.« »Das hoffe ich auch.« Ich ergreife ihre Hand und drücke sie. Wie habe ich mich nach einer guten Freundin gesehnt! Die Dienstmädchen huschen mit gerüschten Schürzen durch den Garten, füllen Teetassen auf und reichen Tabletts mit feinen Teekuchen herum. Ich werfe erneut einen Blick auf die Uhr. Als ich wieder aufsehe, kommt Clarice auf mich zu. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Verlobung«, sagt sie lächelnd. Sie setzt sich auf den freien Stuhl neben mir, während die anderen Gäste sich erheben, um zu anderen Tischen zu gehen. »Danke, Clarice.« »Williams Mutter hat mir erzählt, dass Sie vor Kurzem in die Stadt zurückgekehrt sind, nachdem Sie im Sommer einige Wochen fort waren.« »Äh ... das stimmt.« Ich frage mich, ob Mrs Wilkinson Clarice auch erzählt hat, dass der Grund dafür eine kurze Trennung von William und mir war, bevor wir uns wieder versöhnt haben. »Mutter und ich haben einige Zeit in einem Badeort in Michi- gan verbracht«, sage ich zu ihr. »Es war sehr schön und erholsam dort.« »Wieso haben Sie Chicago denn verlassen?« Es ist sehr aufdringlich, solche neugierigen Fragen zu stellen, und ich bin froh über Janes Warnung. »Chicago kann in den Sommermonaten schrecklich heiß sein«, sage ich mit einer wedelnden Handbewegung. »Konnten Sie der Stadt auch ein wenig entkommen?« »Das würde ich gar nicht wollen. Hier gibt es so viele aufregende Dinge zu erleben, dass ich Angst hätte, etwas zu verpassen. Außerdem würde ich, wenn ich einen so attraktiven Verlobten wie William hätte, keinen einzigen Tag von seiner Seite weichen.« Darauf habe ich keine Antwort. »Hören Sie, Anna«, sagt sie und legt ihre Hand auf meine. »Wir kennen einander noch nicht sehr gut, aber ich hoffe, wir können Freundinnen werden. Meine Familie und die von William sind seit einer Ewigkeit befreundet, also werden Sie und ich beinahe wie Schwestern sein, wenn Sie ihn heiraten. Ob Sie wohl einen Nachmittag freihaben, an dem Sie mit mir zu Mittag essen könnten? Dann könnten wir uns ein wenig besser kennenlernen, nur wir zwei. Bitte sagen Sie Ja.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wir müssen sehr bald etwas ausmachen.« Ich frage mich, was sie vorhat, und bin erleichtert, als Mutter sich zu uns gesellt, bevor Clarice mich dazu drängen kann, ihr einen konkreten Termin zu nennen. Mutter hat mehr Erfahrung mit intriganten Frauen als ich. Während sie und Clarice sich unterhalten, wandern meine Gedanken zu meinem Treffen mit den Pinkerton-Detektiven in einer Stunde und ich frage mich, was sie wohl herausgefunden haben. Natürlich möchte ich mehr über meine leibliche Mutter wissen, aber ich hoffe auch zu erfahren, wer mein leiblicher Vater ist. Dank meiner Großmutter weiß ich, dass Mama unsterblich in einen Mann namens Jack Newell verliebt war und dass sie gemeinsam davongelaufen sind, einen Tag, nachdem ein Großteil von Holland, Michigan, durch ein Feuer zerstört worden war, darunter auch die Fabrik, in der Jack arbeitete. Die beiden haben sich nach Chicago aufgemacht, ohne zu wissen, dass in derselben Nacht auch weite Teile der sogenannten windigen Stadt in Flammen aufgegangen waren. Ich habe Augenzeugenberichte vom Großen Brand von Chicago gelesen und frage mich, ob Mama und Jack nach all der Zerstörung dort wohl Arbeit und Obdach gefunden haben. Es ist halb drei, als Clarice endlich davonschlendert. Ich stehe auf und teile Mutter mit, dass ich gerne gehen möchte. Ihre gelassene Fassade bröckelt. »Wir können jetzt nicht gehen«, flüstert sie. »Das wäre unhöflich.« »Einige der anderen Damen gehen auch«, sage ich und deute mit einem Nicken auf zwei aufbrechende Gäste. »Aber du bist der Ehrengast!« »Du kannst gerne noch länger bleiben, wenn du magst, Mutter. Ich werde die Kutsche zu dir zurückschicken.« Mutters Wangen röten sich. Es ist schwer zu sagen, ob sie wütend auf mich ist, weil ich so früh gehen will oder weil ich es wage, mich ihr zu widersetzen. Vielleicht beides. Ich mache Anstalten zu gehen, aber sie steht auf und packt meinen Arm, um mich aufzuhalten. »Was soll das, Anna? Ist dir nicht gut?« Ich könnte lügen und so tun, als wäre ich krank, aber das wäre falsch. »Die Detektive, die Vater beauftragt hat, kommen heute um drei Uhr. Sie haben Neuigkeiten in Bezug auf Mama. Ich muss gehen.« Ich sehe, dass sie hin- und hergerissen ist, weil sie nicht weiß, ob sie bleiben soll, um nichts zu verpassen, oder besser mit mir gehen, um mich im Auge zu behalten. Sie beschließt, mich zu begleiten, und während wir unserer Gastgeberin danken und uns höflich verabschieden, wappne ich mich für den Vortrag, der gewiss kommen wird. Mutter enttäuscht mich nicht. Sobald wir in unserer Kutsche sitzen, sagt sie: »Als dein Vater und ich eingewilligt haben, die Detektei Pinkerton zu beauftragen, dachten wir nicht im Traum daran, dass dies dein Leben auf diese Weise durcheinanderbringen würde.« »Es tut mir leid, aber ich hatte das Mittagessen ganz vergessen, als ich die Detektive für drei Uhr bestellt habe. Außerdem war die Gesellschaft doch sowieso fast vorbei.« »Das ist keine Entschuldigung. Als Ehrengast hättest du als eine der Letzten gehen sollen, nicht als eine der Ersten.« »Ich hoffe, dass die Detektive Informationen darüber haben, wer mein richtiger Vater ist.« Mutter schürzt die Lippen, als würde ihr das dabei helfen, ihre Verärgerung zu beherrschen. Als sie schließlich spricht, klingt sie ruhig, aber ich weiß, dass sie es innerlich nicht ist. »Genügt es denn nicht, dass du die Geschichte deiner Mutter kennst und weißt, wie sie gestorben ist? Den Rest musst du vergessen, Anna, und dein Leben weiterleben.« »Aber ich will auch etwas über meinen Vater wissen. Wenn es wirklich Jack Newell ist, würde ich gerne erfahren, was mit ihm geschehen ist und warum ich mich überhaupt nicht an ihn erinnern kann.« »Du könntest Dinge erfahren, die sehr zwielichtig sind. Diesen Stein dreht man besser nicht um.« »Ich kann nicht anders. Ich will es wissen.« »Hör mir zu.« Wieder packt sie mich am Arm und senkt ihre Stimme, als wollte sie nicht, dass uns jemand hört, obwohl die einzige Person, die nah genug ist, um etwas zu hören, unser Kutscher ist – und er würde doch niemals Familiengeheimnisse ausplaudern, oder? »Es ist durchaus möglich, dass deine Eltern nie verheiratet waren, Anna. Wenn das so ist, dann müssten wir William und seine Familie darüber unterrichten.« »Natürlich werde ich es William erzählen. Er wird schließlich mein Ehemann. Und er wird ebenso sehr wie ich wissen wollen, wer ich wirklich bin.« »Das ist nicht wahr. Du bist die Einzige, die von dieser Frage besessen ist. William und seine Familie würden es lieber nicht wissen.« Ich starre sie überrascht an. »Haben sie dir das gesagt? William hat es mir gegenüber nie erwähnt.« »Seine Mutter hat mir gegenüber auf sehr feinfühlige Weise durchblicken lassen, dass sie die Vergangenheit lieber auf sich beruhen lassen würden. Ein Großteil der Chicagoer Gesellschaft weiß nicht einmal, dass du adoptiert bist, geschweige denn, wie es dazu kam, denn offen gesagt geht das niemanden etwas an. Williams Mutter und ich sind beide der Meinung, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen sollten. Als Williams Frau musst du über jeden Zweifel erhaben sein. Wir können nicht zulassen, dass geschmacklose Einzelheiten über deine Eltern deinen Ruf beschädigen.« »Ich verspreche, dass niemand außerhalb unserer Familie jemals erfahren wird, was ich herausfinde. Aber ich muss weitersuchen, bis ich die Wahrheit kenne.« »Wenn sie erst einmal entfesselt ist, kann die Wahrheit nur selten verborgen bleiben. Je mehr man versucht, sie zu vertuschen, desto anstößiger werden die Gerüchte. Und du musst auch an deine Kinder denken. Alles, was du über deine Vergangenheit erfährst, wird auch Teil ihrer Vergangenheit sein.« »Ich schäme mich nicht für meine Mutter. Sie ist bei dem Versuch, mich zu retten, umgekommen.« »Und dein Adoptivvater hat sich in Lebensgefahr gebracht, um dich zu retten. Vergiss das nicht. Ihm schuldest du auch ein gewisses Maß an Diskretion.« Ich weiß, dass sie recht hat, aber ich kann meine Neugier trotzdem nicht beherrschen. Den restlichen Heimweg über schweige ich, während ich mir fest vornehme, mir den Bericht der Detektive anzuhören und dann einen Strich unter die Sache zu machen. Als wir zu Hause ankommen, parkt vor dem Haus bereits eine kleine Kutsche und unser Butler sagt mir, dass die Herren von Pinkerton im Salon warten. Ich nehme meinen Hut ab, während ich hineineile, um die beiden zu begrüßen. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln reicht Agent Albertson mir einen maschinengeschriebenen Bericht und wir setzen uns auf die Sofas, um über das Geschäftliche zu reden. »Wir haben eine Heiratsurkunde mit dem Namen Ihrer Mutter gefunden. Christina de Jonge hat Jack Newell im Oktober 1871 geheiratet.« Das Herz hüpft mir in der Brust. »Sie haben also geheiratet!« Ich blicke zu Mutter auf und sehe, dass sie erleichtert ist zu hören, dass ich kein uneheliches Kind bin. Ich bin auch erleichtert. Insgeheim übe ich meinen echten Namen – Anneke Newell. »Konnten Sie noch etwas über Jack in Erfahrung bringen?«, frage ich. »Wir verfolgen noch einige mögliche Hinweise. Sie haben uns ja gesagt, dass er Arbeiter war, also durchsuchen wir die Mitgliederlisten verschiedener Gewerkschaften nach seinem Namen. Sobald wir etwas finden, werde ich Ihnen Bescheid geben.« Ich blicke wieder auf den Bericht in meiner Hand. »Hier steht, dass sie zwei Wochen nach dem Großen Brand von Chicago geheiratet haben«, sage ich. »Das ist zwei Wochen, nachdem sie Michigan verlassen haben.« »Ja. Die Trauung wurde von einem Friedensrichter in einem Dorf namens Cicero vorgenommen. Da das Feuer die Innenstadt von Chicago und alle Aufzeichnungen der Behörden vernichtet hat, wurden die meisten rechtlichen Vorgänge in der Stadt durch den Brand behindert. Deshalb haben wir beschlossen, die Akten über Eheschließungen in den Nachbarorten zu durchkämmen, und dort haben wir diese Urkunde gefunden. Sie hatten uns ja erzählt, dass Christina und Jack nach Chicago gekommen waren, um Arbeit zu suchen, und nach dem Brand gab es viel Arbeit in der Baubranche, aber es gab nicht viel Wohnraum. Christina hat eine Adresse in Cicero als ihren Wohnort angegeben.« »Waren Sie bei dieser Anschrift? Gibt es das Haus noch?« »Ja, das waren wir. Es ist eine Pension, die seit etwa dreißig Jahren in Betrieb ist. Wir haben mit der Wirtin Mrs Marusak gesprochen und der Beschreibung nach meint sie, sich an Ihre Mutter zu erinnern.« Ich springe von meinem Diwan auf, zu aufgeregt, um sitzen zu bleiben. »Ich will mit ihr reden. Können Sie mich zu ihr bringen?« »Natürlich, wenn Sie das möchten.« Agent Albertson erhebt sich ebenfalls. »Anna, Liebes. Hast du vergessen, dass du für heute Abend Pläne hast?«, fragt Mutter und tut dabei so, als wäre sie ganz ruhig. »Ich fürchte, meine Tochter hat nicht die Zeit, heute Nachmittag mit Ihnen bis nach Cicero und wieder zurück zu reisen«, erklärt sie den Detektiven. »Wie ist es mit morgen?«, frage ich. »Das wird auch nicht möglich sein«, sagt Mutter. »Dein Kalender ist für die ganze restliche Woche voll, Liebes.« »Aber es muss doch einen Nachmittag geben, an dem ich genug Zeit dafür aufbringen kann. Können wir nicht irgendetwas absagen?« Nachdem sie den Kalender befragt hat, den sie immer höchst gewissenhaft führt, erklärt Mutter mir, dass es angesichts unserer vielfältigen gesellschaftlichen Verpflichtungen und zweier wichtiger Kleideranproben frühestens morgen in einer Woche möglich sein wird, nach Cicero zu reisen. Ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll, so lange zu warten. Einen kurzen Moment kommt mir mein Vorsatz in den Sinn, diese Suche zu beenden, aber meine Neugier überwiegt jede Angst vor dem, was ich in Cicero möglicherweise über meine Eltern herausfinden werde. Als William und ich uns am Abend zum Essen treffen, zeige ich ihm den maschinengeschriebenen Bericht. »Es war eine riesige Erleichterung zu erfahren, dass meine Geburt nicht mit einem Makel behaftet ist«, erkläre ich ihm. Er nickt, zeigt aber wenig Begeisterung, während er das Blatt kurz überfliegt und es anschließend einmal faltet und zur Seite legt. Wir befinden uns in dem eleganten Speisesaal des privaten Herrenklubs, zu dem er und sein Vater gehören, dem einzigen Bereich, zu dem Frauen Zutritt haben. Die vornehme Umgebung und die gedämpfte Atmosphäre geben mir das Gefühl, flüstern zu müssen. »Soll ich für uns beide bestellen?«, fragt William, als der Ober erscheint. »Ja, aber nichts zu Schweres. Wie du weißt, hat deine Mutter heute ein Mittagessen für mich gegeben.« William bestellt und der Ober geht. »An manchen Tagen kommt es mir vor, als würde ich nur in meine Kutsche ein- und wieder aussteigen, ein Kleid nach dem anderen anziehen, Tee trinken und mich höflich durch eine Folge extravaganter Mahlzeiten knabbern. Als ich bei Oma Geesje in Michigan war, haben wir einmal frische Tomaten aus ihrem Garten mit Käse und Brot zu Abend gegessen. Es war eine herrliche Mahlzeit.« William lächelt geduldig und ergreift meine Hand. »Ich wollte heute allein mit dir speisen, weil wir so viel zu besprechen haben. Wenn wir bei gesellschaftlichen Anlässen zusammen sind, haben wir kaum Zeit, über wichtige Dinge zu reden.« Ich werfe einen Blick in Richtung Detekteibericht, den er beiseitegelegt hat. Das ist mir im Augenblick am wichtigsten, aber ich merke, dass er William nicht interessiert. »Du hast recht«, nicke ich. »Wir essen kaum jemals ungestört. Sag mir, was du auf dem Herzen hast.« »Wir haben immer noch keinen Termin für unsere Hochzeit. Mutter hat mir gesagt, dass ihr Damen viel Zeit braucht, um alle Vorbereitungen zu treffen, aber wie viel Zeit genau?« »Ich weiß nicht. Schließlich habe ich noch nie geheiratet«, erwidere ich mit einem neckischen Lächeln. William beugt sich vor, legt eine Hand auf meine Wange und streicht zärtlich mit dem Daumen darüber. »Ich möchte so bald wie möglich mein Leben mit dir beginnen, Anna – und nicht weiter zwei getrennte Leben führen, die sich kaum jemals überschneiden, wie wir es jetzt tun. Ich brauche dich als meine Partnerin und meinen charmantesten Aktivposten in dieser verrückten Welt der Finanzen, zu der ich gehöre.« Ich denke daran, wie streng Mutter im Augenblick meinen gesellschaftlichen Kalender kontrolliert und bis zum Rand mit Aktivitäten füllt, und frage mich, ob meine Verpflichtungen als Williams Ehefrau mich vielleicht sogar noch mehr in Beschlag nehmen werden. In mir macht sich das Gefühl breit, in einer Falle zu sitzen – was albern ist, da mein Leben mir noch nie selbst gehört hat. Ich konnte noch nie machen, was ich wollte. »Am liebsten würde ich dich gleich morgen heiraten«, sagt William. »Sind vier Monate genügend Zeit? Wir könnten unsere Hochzeit gleich zu Beginn des neuen Jahres feiern.« Ich nehme seine Hand und drücke sie. »Wir können heiraten, wann immer wir wollen. Schließlich ist es unsere Hochzeit. Unser Leben. Das neue Jahr gemeinsam zu beginnen, klingt wundervoll.« Meine Worte gefallen ihm und er hebt meine Hand an seine Lippen und küsst sie. »Du bist so schön, Anna.« Ich weiß, dass er es ehrlich meint, aber trotzdem muss ich unwillkürlich an Clarice Beacham und ihr herrliches kastanienbraunes Haar denken. Im Vergleich zu ihr bin ich höchstens hübsch. Der Ober kehrt mit Williams Getränk und dem ersten Gang unserer Mahlzeit zurück – Spargelcremesuppe. Aus irgendeinem Grund muss ich an die holländische Erbsensuppe denken, die Oma Geesje gekocht hat, und ich erinnere mich daran, dass Derk und ich unaufhörlich gelacht haben, während wir die Suppe aßen – obwohl ich nicht mehr weiß, warum wir lachen mussten. Ich vermisse Derk. Er und William sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. William ist attraktiv und elegant, ein wahrer Gentleman in seinem maßgeschneiderten Anzug und dem gestärkten weißen Hemd. Er ist ebenso verschlossen wie der Tresor in der Bank seines Vaters und es entspräche überhaupt nicht seinem Charakter, über einem Teller Suppe laut zu lachen. Derk hingegen ist ganz schlicht und ungekünstelt, so ehrlich und offen wie der blaue Himmel über dem Lake Michigan. Für ihn ist es ebenso natürlich, über seine Gedanken und Gefühle zu sprechen, wie zu atmen. »Wir müssen entscheiden, wo wir nach unserer Hochzeit leben wollen«, sagt William und unterbricht damit meine Gedanken. Ich schelte mich dafür, dass ich die beiden Männer miteinander vergleiche. Immerhin ist es William, den ich heiraten werde. »Wir müssen entscheiden, ob wir ein neues Haus bauen oder ein altes renovieren wollen. So oder so sind dafür Zeit und Planung nötig, und je früher wir damit beginnen, desto eher wird unser Haus fertig sein. Obwohl ich bezweifle, dass irgendein Haus bis zum Januar fertig würde. Was meinst du?« Manche Frauen machen sich vielleicht etwas aus Einzelheiten wie seidenen Vorhängen und türkischen Teppichen und Kristallkronleuchtern, aber zu denen gehöre ich nicht. Schon die Vorstellung, entscheiden zu müssen, wie ich in einem riesigen Herrenhaus einen Raum nach dem anderen mit Möbeln füllen soll, schnürt mir beinahe die Luft ab. Ich lege meinen Suppenlöffel ab und schiebe den Teller von mir. »Ich finde ... es wäre mir lieber, wenn du alle Entscheidungen in Bezug auf das Haus treffen könntest. Ich vertraue deinem Urteil vollkommen.« Ich hoffe, meine Antwort gefällt ihm, aber an seiner gerunzelten Stirn erkenne ich, dass dem nicht so ist. »Ich dachte, ein Haus auszusuchen wäre etwas, das wir beide zusammen tun könnten.« Ich suche nach den richtigen Worten und bekomme etwas Aufschub, als der Ober erscheint, um unsere Suppenteller abzuräumen und den Fischgang aufzutragen. Das Filet hat einen starken fischigen Geruch, der in meiner Kehle brennt. »Es gibt so vieles, was ich im Moment bedenken muss«, sage ich, als der Ober gegangen ist. »Ich muss unglaublich viel vorbereiten und gleichzeitig bin ich gerade dabei, etwas über die Vergangenheit meiner leiblichen Eltern zu erfahren und herauszufinden, wer ich bin.« Ich zeige auf den Bericht der Detektive. »Ist deine Vergangenheit genauso wichtig wie die Person, die du jetzt bist? Und die du sehr bald sein wirst – meine Frau? Warum sollte die Vergangenheit überhaupt eine Rolle spielen, wenn wir doch unsere ganze gemeinsame Zukunft vor uns haben? Außerdem ist es nicht einmal deine Vergangenheit. Du bist hier in Chicago aufgewachsen, bei den Nicholsons – den Eltern, die dich großgezogen haben.« Jetzt merke ich, dass er ärgerlich wird, so wie Mutter an diesem Nachmittag. Ich muss darauf achten, dass diese Besessenheit, wie Mutter es nennt, nicht zwischen mich und die Menschen, die ich liebe, gerät. »Du hast recht«, erwidere ich. »Wenn du schon irgendwelche Häuser oder Grundstücke im Sinn hast, könnten wir doch am Sonntagnachmittag dort vorbeifahren und sie uns zumindest von außen ansehen.« »Das würde ich gerne tun«, sagt William lächelnd. Wieder einmal wird mir bewusst, wie attraktiv er ist, und ich erinnere mich an Clarice Beachams Bemerkungen an diesem Nachmittag. Möglich, dass sie immer noch versucht, ihn zurückzugewinnen, aber William gehört mir und ich gehöre ihm. Der Gedanke entlockt mir ein Lächeln. Auf der Kutschfahrt nach Hause legt William den Arm um mich und drückt mich an sich. War meine Mama glücklich und zufrieden, wenn sie mit Jack Newell zusammen war? Sie hat ihn so sehr geliebt, dass sie mit ihm durchgebrannt ist und ihn geheiratet hat. Wieder einmal wandern meine Gedanken zu der Wirtin, die glaubt, sich an meine Eltern zu erinnern. Wie soll ich es aushalten, bis nächste Woche darauf zu warten, sie kennenzulernen und mehr zu erfahren?

Erscheinungsdatum
Übersetzer Dorothee Dziewas
Sprache deutsch
Original-Titel Legacy of Mercy
Maße 135 x 215 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Christlicher Roman • Gelebter Glaube • Gottesbeziehung • historisch • Identität • Neuanfang • Selbstfindung
ISBN-10 3-96362-073-0 / 3963620730
ISBN-13 978-3-96362-073-7 / 9783963620737
Zustand Neuware
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