Inversion (eBook)

Meisterwerke der Science Fiction - Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
416 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-25216-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Inversion -  Christopher Priest
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In einer Welt, deren Naturgesetze völlig anders sind als auf der Erde, werden die Städte auf Gleisen bewegt. Nur so entkommen sie der Vernichtung durch die Schwerkraft. Den Bewohnern wird dieser Umstand allerdings verschwiegen, um keine Panik entstehen zu lassen. Doch schon werden erste Proteste laut, und die Stadt wird zusehends langsamer. Und Stillstand bedeutet Tod ...

Christopher Priest wurde 1943 in Cheshire, England geboren. Er zählt zu den bedeutendsten englischen Science-Fiction-Schriftstellern; seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurd-Laßwitz-Preis und dem Arthur C. Clarke Award. »Inversion« erhielt den British Science Fiction Association Award. Für seinen Roman »The Prestige«, der 2006 von Christopher Nolan mit Christian Bale und Hugh Jackman in den Hauptrollen verfilmt wurde, erhielt er den World Fantasy Award. Der Autor starb am 2. Februar 2024 auf der Isle of Bute.

3


Zukunftsvermesser Denton ging mit mir einmal rund um die Stadt und brachte mich dann hinaus zu einer kleinen Gruppe von Baracken, die etwa fünfhundert Meter von der Stadt entfernt aufgestellt worden waren. Dort stellte er mich Schienenleger Malchuskin vor und kehrte in die Stadt zurück.

Der Schienenleger war ein stämmiger, dicht behaarter Mann und kämpfte noch mit dem Schlaf. Er schien die frühe Störung jedoch nicht zu verübeln, sondern behandelte mich sogar recht höflich. »Ein Zukunftsvolontär sind Sie?«

Ich nickte. »Ich bin eben aus der Stadt gekommen.«

»Das erste Mal draußen?«

»Ja.«

»Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Nein … der Zukunftsvermesser hat mich aus dem Bett geholt, und wir sind mehr oder weniger direkt hierhergekommen.«

»Na, dann kommen Sie rein. Ich mach uns Kaffee.«

Das Innere der Bretterbude war so primitiv und unordentlich, wie ich in der Stadt nie einen Raum gesehen hatte. Dort schien Sauberkeit und Ordnung irgendwie sehr wichtig zu sein; Malchuskins Hütte war vollgestopft mit schmutzigen Kleidungsstücken, benutzten Töpfen und Pfannen und halb aufgegessenen Mahlzeiten. In einer Ecke lag ein großer Haufen von Metallwerkzeugen und Geräten, und an einer Wand stand eine Pritsche; die Decken waren zerwühlt zurückgeschoben. Der Raum roch schwach nach abgestandenen Speiseresten.

Malchuskin füllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn auf die Kochplatte. Er kramte zwei Becher hervor, spülte sie am Wasserfass aus und schlenkerte sie zum Abtrocknen hin und her. Dann löffelte er etwas synthetischen Kaffee in eine Kanne und goss ihn auf, als das Wasser kochte.

Es gab nur einen Sessel in der Hütte. Malchuskin nahm ein paar schwere Stahlwerkzeuge vom Tisch und schob ihn zur Pritsche hinüber. Er setzte sich und bedeutete mir, den Stuhl zu nehmen. Eine Weile saßen wir schweigend da und tranken Kaffee. Er war genauso wie in der Stadt gemacht worden, und doch schien er mir anders zu schmecken.

»Hab in letzter Zeit nicht viele Volontäre gekriegt.«

»Wieso das?«, sagte ich.

»Keine Ahnung. Wir haben überall Nachwuchsschwierigkeiten. Wie heißen Sie?«

»Helward Mann. Mein Vater ist …«

»Ja, ich kenn ihn. Guter Mann. Wir waren zusammen im Internat.«

Ich runzelte verblüfft die Stirn. Mein Vater und er konnten doch sicher nicht gleich alt sein? Malchuskin bemerkte meinen Gesichtsausdruck.

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf«, sagte er. »Sie werden’s eines Tages schon verstehen. Sie werden es aus eigener Erfahrung lernen, wie alles andere, was man in diesem verdammten Gildensystem früher oder später lernen muss. Es ist ein sonderbares Leben in der Zukunftsgilde. Nichts für mich, aber Sie werden sich schon durchschlagen, glaub ich.«

»Warum wollten Sie kein Zukunftsvermesser werden?«

»Ich hab nicht gesagt, dass ich nicht wollte … ich meinte, es war mir nicht bestimmt. Mein Vater war Schienenleger. Da haben Sie wieder das Gildensystem. Aber wenn Sie von Grund auf alles lernen wollen, dann sind Sie in den richtigen Händen. Haben Sie schon körperliche Arbeit geleistet?«

»Nicht viel …«

Er lachte laut. »Das haben die Volontäre nie. Aber Sie werden sich schon daran gewöhnen.« Er stand auf. »Zeit, dass wir anfangen. Es ist zwar noch früh, aber nachdem Sie mich schon mal aus dem Bett geholt haben, hat’s keinen Sinn, untätig rumzusitzen. Und diese Kerle sind sowieso eine verdammt faule Bande.«

Er ging hinaus. Hastig trank ich meinen Kaffee aus, verbrannte mir damit die Zunge und folgte ihm. Er ging auf die beiden anderen Baracken zu. Ich holte ihn ein.

Mit einem Schraubenschlüssel, den er mitgenommen hatte, hämmerte er an die Türen der beiden Hütten und brüllte den Bewohnern, wer das auch war, zu, dass sie aufstehen sollten. Ich schloss aus den Dellen und Schrammen an den Türen, dass er das wohl jeden Morgen mit irgendeinem Metallwerkzeug tat.

Wir hörten, wie sich die Leute drinnen zu rühren begannen.

Malchuskin ging zu seiner Hütte zurück und begann einige Werkzeuge zusammenzusuchen.

»Halten Sie bloß Abstand von diesen Leuten«, warnte er mich. »Sie sind nicht aus der Stadt, und wenn man nicht weiß, wie … Einer von ihnen, Rafael, kann ein bisschen Englisch. Ich hab ihn als Vormann eingesetzt. Wenn Sie was wollen, dann wenden Sie sich an ihn. Oder kommen Sie besser zu mir. Es ist unwahrscheinlich, dass es Schwierigkeiten gibt, aber wenn … dann rufen Sie mich. Klar?«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Zum Beispiel, wenn sie nicht tun, was Sie oder ich ihnen sagen. Wir bezahlen die Kerle, und wir bezahlen sie dafür, dass sie tun, was wir wollen. Wenn sie’s nicht tun, gibt’s Schwierigkeiten. Dieser Trupp ist so weit ganz in Ordnung, wenn die Burschen nur nicht so stinkfaul wären. Deshalb fangen wir früh an. Später am Tag wird’s ziemlich heiß, und da können wir uns sowieso jedes Wort sparen.«

Es war schon jetzt recht warm. Die Sonne war ein ganzes Stück höher gestiegen, seit ich bei Malchuskin war, und meine Augen begannen zu tränen. Ich war so helles Licht nicht gewöhnt. Ich hatte versucht, nochmals direkt in die Sonne zu schauen, aber das war jetzt ganz unmöglich.

»Nehmen Sie das!« Malchuskin gab mir einen Armvoll langer, stählerner Schraubenschlüssel, und ich stolperte unter dem Gewicht, sodass zwei oder drei zu Boden fielen. Er sah mir schweigend zu, als ich sie aufhob, beschämt über meine Ungeschicklichkeit.

»Wohin damit?«, fragte ich.

»Zur Stadt, natürlich. Bringen sie euch in der Schule denn gar nichts bei?«

Ich wankte in Richtung Stadt. Malchuskin sah mir von der Tür seiner Hütte aus zu.

»Südseite!«, rief er mir nach. Ich blieb stehen und blickte hilflos zurück. Malchuskin kam mir nach.

»Dorthin.« Er wies an der Stadt vorbei. »Zu den Schienen im Süden der Stadt. Klar?«

»Klar.« Ich ging in die angewiesene Richtung und ließ unterwegs nur mehr einen Schraubenschlüssel fallen.

Nach einer oder zwei Stunden begriff ich langsam Malchuskins Urteil über die Männer, die für uns arbeiteten. Sie hörten beim geringsten Vorwand auf, und nur Malchuskins Gebrüll oder Rafaels widerwillige Anordnungen brachte sie wieder an die Arbeit.

»Was sind das für Leute?«, fragte ich Malchuskin, als wir eine Viertelstunde Pause einlegten.

»Eingeborene.«

»Könnten wir nicht mehr anstellen?«

»Die sind alle gleich hier in der Gegend.«

Bis zu einem gewissen Grad hatte ich Verständnis für sie. Arbeit im Freien, ohne den geringsten Schatten, war hart und anstrengend. Obwohl ich fest entschlossen war, nicht schlappzumachen, war es eine größere Plage, als ich verkraften konnte. Ich hatte jedenfalls noch nie so schwer körperlich gearbeitet.

Die Schienen reichten von der Stadt etwa eine halbe Meile nach Süden und endeten dann unvermittelt. Es gab vier Gleise aus je zwei Metallschienen, die an hölzerne Schwellen angeschraubt waren, welche wiederum auf versenkten Betonträgern ruhten. Zwei Gleise waren von Malchuskin und seinen Arbeitern schon ziemlich weit abgebaut worden, und wir machten uns jetzt an jenes, das noch am längsten war.

Malchuskin erklärte mir, die vier Gleise würden, wenn man in Richtung Stadt blickte, durch die Bezeichnungen rechts und links beziehungsweise außen und innen gekennzeichnet. Wir arbeiteten am Rechtsaußen-Gleis.

Viel denken brauchte man bei der Arbeit nicht. Was getan werden musste, war schwer und anstrengend, aber immer das Gleiche.

Als Erstes mussten die Schraubbolzen, die die Schienen mit den Schwellen verbanden, auf einem ganzen Schienenstück gelöst werden. Das Stück wurde dann entfernt und die Parallelschiene ebenso abgeschraubt. Dann befassten wir uns mit den Schwellen. Sie waren mit je zwei Stahlklammern an der Betonunterlage befestigt. Man musste die Klammern lockern und abziehen. Wenn die Schwelle frei war, wurde sie auf eine Draisine verladen, die auf dem nächsten Schienenstück wartete. Die Betonträger waren, wie ich entdeckte, wiederverwendbare Fertigteile, das heißt, wir mussten sie ausgraben und ebenfalls auf die Draisine laden. Ganz zuletzt wurden die beiden stählernen Schienenstücke auf spezielle Träger an der Seite der Draisine gehoben.

Dann fuhren Malchuskin oder ich die batteriebetriebene Draisine zum nächsten Gleisabschnitt, und die ganze Prozedur wurde wiederholt. Wenn die Draisine voll beladen war, stieg die ganze Arbeitsmannschaft auf und fuhr damit bis an die rückwärtige Wand der Stadt. Dort parkten wir, und die Batterie wurde über einen Kontakt neu aufgeladen, der zu diesem Zweck in die Wand eingelassen war.

Es dauerte einen Großteil des Vormittags, die Draisine fertig zu beladen und zur Stadt zu fahren. Ich fühlte mich wie gerädert, der Rücken tat mir scheußlich weh, und ich war dreckig und verschwitzt. Malchuskin, der nicht weniger als alle anderen gearbeitet hatte – und wahrscheinlich mehr als irgendeiner von den Angeheuerten –, grinste mich an.

»Jetzt laden wir ab und fangen von vorne an«, sagte er.

Ich schaute zu den Arbeitern hinüber. Sie sahen so aus, wie ich mich fühlte, obwohl ich meiner Meinung nach ebenfalls mehr als sie gearbeitet hatte, da mir schließlich das alles neu war und ich noch nicht gelernt hatte, meine Muskeln richtig einzusetzen. Die meisten lagen erschöpft in dem schmalen Schattenstreifen unmittelbar an der Stadt.

»Na schön«, sagte ich.

»Hab nur Spaß gemacht. Oder glauben Sie,...

Erscheint lt. Verlag 13.1.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Inverted World
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Arthur C. Clarke Award • britische Science Fiction • diezukunft.de • diezukunft.de (418) • eBooks • fahrende Stadt • Fremde Welten • Meisterwerke der Science-Fiction • Naturgesetze • World Fantasy Award
ISBN-10 3-641-25216-4 / 3641252164
ISBN-13 978-3-641-25216-8 / 9783641252168
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