Der Bär und die Nachtigall (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019
432 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-24074-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Bär und die Nachtigall - Katherine Arden
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Hüte dich vor dem, was in den Wäldern haust ...
In einem Dorf am Rande der Wildnis, weit im Norden Russlands, wo der Wind kalt bläst und der Schnee viele Monate des Jahres fällt, erzählt die alte Dienerin Dunja den Kindern des Grundbesitzers Pjotr Wladimirowitsch Geschichten über Zauberei, Folklore und den Winterkönig mit den frostblauen Augen. Verbotene Geschichten über eine uralte Magie. Doch für die junge, wilde Wasja sind dies weit mehr als Märchen. Sie allein kann die Geister sehen, die ihr Zuhause beschützen. Und sie allein spürt, dass sich in den Wäldern eine dunkle Magie erhebt ...

Katherine Arden, geboren in Austin, Texas, studierte Französische und Russische Literatur am Middlebury College in Vermont und verbrachte ein Auslandssemester in Moskau. Nach ihrem Abschluss lebte sie in Maui auf Hawaii und in Briançon in Frankreich. Während dieser Zeit nahm sie alle möglichen Jobs an, arbeitete auf einer Farm, unterrichtete , und begann ihren ersten Roman »Der Bär und die Nachtigall« zu schreiben. Zurzeit lebt sie in Vermont.

1

Frost

Es war Spätwinter in Nord-Rus und der Himmel düster vom Niederschlag, der weder Regen noch Schnee war. Die strahlende Februarlandschaft war vom trostlosen Grau des Monats März verdrängt worden, die Nasen in Pjotr Wladimirowitschs Haushalt trieften, und alle waren abgemagert nach sechs Wochen mit kargem Schwarzbrot und eingelegtem Kohl. Doch niemand dachte an Frostbeulen oder Schnupfen, ja nicht einmal an Haferbrei und gebratenes Fleisch, denn Dunja würde gleich eine Geschichte erzählen.

Die alte Frau hatte sich den besten Platz dafür ausgesucht: die Holzbank neben dem Ofen in der Küche. Bei dem Ofen handelte es sich um eine riesige Konstruktion aus gebranntem Ton, er war mehr als mannshoch und so groß, dass Pjotr Wladimirowitschs vier Kinder leicht hineingepasst hätten. Die flache Oberseite diente als Schlafgelegenheit; die Hitze im Inneren kochte die Speisen, beheizte die Küche und bereitete Dampfbäder für die Kranken vor.

»Was wollt ihr heute Abend hören?«, erkundigte sich Dunja und genoss die Wärme in ihrem Rücken. Pjotrs Kinder saßen kerzengerade auf ihren Schemeln vor ihr. Sie alle liebten Geschichten, selbst Sascha, der Zweitgeborene. Hätte jemand ihn gefragt, hätte er – ernst und fromm wie er war – zwar vehement behauptet, er würde den Abend lieber mit Gebeten verbringen, doch in der Kirche war es kalt und der Schneeregen draußen war erbarmungslos. Sascha hatte kurz zur Tür hinausgeschaut, sich einen nassen Kopf geholt und sich schließlich mit einer Miene gottesfürchtiger Gleichmut ein Stückchen abseits der kleinen Gruppe auf einen Stuhl gesetzt.

Die anderen riefen auf Dunjas Frage hin alle durcheinander:

»Finist der Falke!«

»Iwan und der graue Wolf!«

»Feuervogel! Feuervogel!«

Der kleine Aljoscha stellte sich auf seinen Schemel und fuchtelte mit den Armen, um sich unter seinen älteren Geschwistern Gehör zu verschaffen. Pjotrs Dogge hob den großen, vernarbten Kopf ob des Tumults.

Noch bevor Dunja etwas sagen konnte, wurde die Eingangstür aufgestoßen, sodass das Brüllen des Sturms hereinfuhr. Eine Frau stand im Türrahmen und schüttelte sich die langen, nassen Haare aus. Ihr Gesicht glühte wegen der Kälte, und sie war sogar noch dünner als ihre eigenen Kinder. Ihre tief liegenden Augen reflektierten den Feuerschein, Schatten tanzten über ihre hohlen Wangen, den kantigen Kehlkopf und die Schläfen. Sie hob Aljoscha hoch und drückte ihn an sich.

Der Kleine quiekte vor Entzücken. »Mutter!«, rief er, »Matjuschka!«

Marina Iwanowna ließ sich mit Aljoscha auf einen Stuhl sinken und rückte näher ans Feuer. Der Kleine grub die Hände in ihren Zopf. Sie zitterte, auch wenn es unter ihrer dicken Kleidung nicht zu sehen war. »Betet, dass die arme Aue heute Nacht lammt«, sagte sie. »Sonst sehen wir euren Vater nie wieder, fürchte ich. Erzählst du gerade eine Geschichte, Dunja?«

»Sobald endlich alle still sind«, antwortete die alte Frau knapp. Sie war auch Marinas Kindermädchen gewesen, vor langer Zeit.

»Ich wüsste eine«, sagte Marina sogleich. Ihr Ton war leicht, ihr Blick jedoch dunkel. Dunja musterte sie, draußen seufzte der Wind. »Erzähl uns die Geschichte von Väterchen Frost, Dunjaschka. Erzähl uns vom Frostdämon, dem Winterkönig Karatschun. Er streift draußen umher und ist wütend über das Tauwetter.«

Dunja zögerte, die älteren Kinder schauten einander an. Der heutige Name für Väterchen Frost lautete Morosko, der Winterdämon. Doch vor langer Zeit nannten die Menschen ihn Karatschun, den Todesgott. Damals war er der König des schwärzesten Winters, der sich nachts die bösen Kinder holte. Der Name stand unter keinem guten Stern. Es brachte Unglück, wenn man ihn aussprach, solange der Dämon das Land noch in seinem eisigen Griff hielt. Marina drückte ihren Sohn so fest, dass er sich wand und an ihrem Zopf zog.

»Na gut«, sagte Dunja schließlich. »Ich erzähle euch die Geschichte von Morosko, von seiner Güte und seiner Grausamkeit.« Sie betonte den Namen ganz leicht, den harmlosen, der kein Unglück bringen würde. Marina lächelte spöttisch und nahm Aljoschas Hände von ihrem Zopf. Die Geschichte von Väterchen Frost war alt, alle hatten sie schon viele Male gehört, doch niemand protestierte. Mit Dunjas voller, artikulierter Stimme war sie jedes Mal aufs Neue ein Vergnügen.

»In einem alten Fürstentum …«, begann sie und verstummte sogleich wieder, als Aljoscha begann, quiekend wie eine Fledermaus auf dem Schoß seiner Mutter herumzurutschen.

»Still«, sagte Marina und gab ihm wieder das Ende ihres Zopfes, damit er etwas zum Spielen hatte.

»In einem alten Fürstentum«, wiederholte Dunja würdevoll, »lebte ein Bauer mit einer schönen Tochter.«

»Wie hieß sie?«, fragte Aljoscha. Er war inzwischen alt genug, um eine Geschichte auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen, indem er gezielt nach Einzelheiten fragte.

»Sie hieß Marfa«, antwortete Dunja. »Die kleine Marfa war so schön wie der Sonnenschein im Juni, außerdem war sie mutig und herzensgut. Doch Marfa hatte keine Mutter. Sie war gestorben, als Marfa noch ein Kind war. Ihr Vater hatte wieder geheiratet, trotzdem war Marfa immer noch so mutterlos wie eine Waise. Denn ihre Stiefmutter war zwar hübsch, wie es heißt, sie buk köstliche Kuchen, wob die feinsten Stoffe und braute schmackhaften Kwas, aber ihr Herz war kalt und grausam. Sie hasste Marfa wegen ihrer Schönheit und Gutherzigkeit und bevorzugte ihre eigene, hässliche und faule Tochter in allem. Zunächst versuchte sie, Marfa genauso hässlich zu machen, indem sie ihr nur die schwersten Arbeiten gab, damit ihre Hände knorrig, der Rücken krumm und das Gesicht faltig werde. Doch Marfa war stark, und vielleicht besaß sie auch ein bisschen Magie, denn sie erledigte alle Arbeiten klaglos und wurde im Lauf der Jahre nur immer noch schöner.

Als sie das bemerkte, fasste die Stiefmutter – Daria Nikolajewna war ihr Name –«, fügte Dunja ein, als sie sah, wie Aljoscha schon wieder den Mund öffnete, »einen Plan, um das Mädchen loszuwerden. Eines Tages im tiefsten Winter sagte Daria zu ihrem Mann: ›Mein Gatte, ich glaube, es ist Zeit, dass unsere Marfa heiratet.‹

Marfa machte gerade Pfannkuchen und blickte erstaunt auf. Ihre Stiefmutter hatte nie Interesse an ihr gezeigt, außer es ging darum, ihr etwas anzukreiden. Doch Marfas Freude schlug sogleich in Furcht um, als Daria weitersprach: ›Und ich habe gerade den rechten Mann für sie. Pack sie auf den Schlitten und bring sie in den Wald. Wir werden sie mit Morosko verheiraten, dem Wintergott. Könnte eine Maid sich einen besseren, reicheren Bräutigam wünschen als den Herrscher über den weißen Schnee, die schwarzen Tannen und den silbernen Frost?‹

Der Vater – sein Name war Boris Borisowitsch – starrte seine Frau entsetzt an. Boris liebte seine Tochter und wusste, dass die kalte Umarmung des Wintergottes nichts für Sterbliche ist. Doch auch Daria konnte ein wenig zaubern, und Boris konnte ihr nie etwas abschlagen. Weinend fuhr er mit seiner Tochter tief in den Wald und ließ sie dort am Fuß einer Tanne zurück.

So saß das Mädchen lange alleine da, bebte und zitterte, während ihm immer kälter wurde. Schließlich hörte sie ein Knacken. Sie blickte auf und sah Väterchen Frost zwischen den Bäumen, wie er mit langen Sätzen und mit den Fingern schnippend auf sie zukam.«

»Und wie hat er ausgesehen?«, wollte Olga wissen.

Dunja zuckte die Achseln. »Was das betrifft, sagen alle etwas anderes. Manche behaupten, er wäre eine Brise, die zwischen den Tannen flüstert. Andere sagen, er sei ein alter Mann auf einem Schlitten, mit leuchtenden Augen und kalten Händen. Wieder andere behaupten, er sei ein vor Kraft strotzender Krieger mit weißer Rüstung und Waffen aus Eis. Niemand weiß es. Jedenfalls, etwas näherte sich Marfa, als sie so dasaß. Ein eisiger Windstoß fuhr ihr ins Gesicht, und ihr wurde noch kälter. Dann sprach Väterchen Frost zu ihr, mit der Stimme des Winterwinds und des fallenden Schnees:

›Ist dir auch schön warm, meine Schöne?‹

Marfa war ein wohlerzogenes Mädchen, das seine Last klaglos ertrug, und so antwortete sie: ›Ja, danke, liebes Väterchen Frost.‹ Der Dämon lachte nur, und der Wind blies stärker denn je. Die Baumkronen über ihnen stöhnten, da fragte Väterchen Frost noch einmal: ›Und jetzt, Kleine? Warm genug?‹ Marfa konnte kaum noch sprechen vor Kälte, trotzdem antwortete sie: ›Warm, mir ist immer noch warm, danke.‹ Ein Sturm brach los, der Wind heulte und mahlte mit den Zähnen, bis die arme Marfa sicher war, er würde ihr die Haut von den Knochen reißen. Jetzt lachte Väterchen Frost nicht mehr, und als er ein drittes Mal fragte: ›Ist dir warm, Herzchen?‹, tanzten schon schwarze Flecken vor ihren Augen, und sie antwortete mit steifgefrorenen Lippen: ›Ja … warm. Mir ist warm, liebes Väterchen Frost.‹

Da konnte er nicht mehr anders, als ihren Mut zu bewundern, und hatte Erbarmen. Er wickelte sie in seinen Mantel aus blauem Brokat und legte sie auf seinen Schlitten. Als er Marfa vor ihrem Haus absetzte, trug sie den kostbaren Mantel immer noch und außerdem eine kleine Truhe voller Gold- und Silberschmuck. Marfas Vater weinte vor Freude, als er das Mädchen wiederhatte, doch Daria und ihre Tochter waren außer sich, Marfa in einem so wertvollen Mantel und obendrein noch fürstlich beschenkt zu sehen. Also wandte sich Daria an ihren Mann und sagte: ›Mein Gatte, schnell! Setz meine Tochter Lisa auf deinen Schlitten. Marfas Geschenke sind nichts gegen das, was Väterchen...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2019
Reihe/Serie Winternacht-Trilogie
Winternacht-Trilogie
Übersetzer Michael Pfingstl
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Bear and the Nightingale - Winternight Trilogy Book 1
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte ab 14 Jahre • Aschenputtel • Bücher • Buecher • eBooks • Fantasy • Geschenk • Geschenke • Jugendbücher ab 14 • Junge Erwachsene Romane • Mädchen Geschenke • Magie • Märchen • Märchenbuch • russische Fantastik • Russland • Sagen und Mythen • Teenager Mädchen Bücher • Weihnachten • Weihnachtsgeschenke • Weihnachtsgeschenke für Kinder • weinachtsgeschenke • Winterkönig
ISBN-10 3-641-24074-3 / 3641240743
ISBN-13 978-3-641-24074-5 / 9783641240745
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