Die lange Reise (eBook)
496 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24665-5 (ISBN)
»Ich bin für eine Weile nicht auf dem Planeten. Zurück im Mai«. Das war die Abwesenheitsnotiz von Samantha Cristoforetti, als sie 200 Tage auf der ISS verbrachte. Bis die Ingenieurin und Pilotin endlich in das Raumschiff stieg, war es ein weiter Weg, den sie mit Wissbegier, Beharrlichkeit und einer Portion Glück absolvierte - als eine von nur wenigen Frauen. Persönlich und humorvoll schildert sie ihre Erfahrungen, von den harten Astronautenlehrjahren über die Zeit im All bis hin zur Rückkehr auf die Erde. Welche Gedanken begleiten die letzten Stunden vor dem Abflug? Womit entspannt man sich nach einem langen Arbeitstag auf der Raumstation? Wie fängt man einen Raumtransporter ein? Mit einem wunderbaren Blick für die Herausforderungen und Merkwürdigkeiten des Astronautenberufs nimmt sie uns mit auf eine unvergleichliche Reise.
Seit 28. April 2022 ist Samantha Cristoforetti für fünf Monate erneut auf der ISS.
Samantha Cristoforetti, geboren 1977 in Mailand, ist eine italienische Astronautin und Kampfpilotin. Sie studierte Luft- und Raumfahrttechnik an der TU München. Beim Auswahlverfahren der ESA setzte sie sich gegen mehr als 8400 Bewerber durch und wurde 2009 als einzige Frau unter sechs neuen Astronauten, darunter auch Alexander Gerst, ins Europäische Astronautenkorps berufen. Von November 2014 bis Juni 2015 war sie mit zwei Amerikanern und drei Russen auf der Internationalen Raumstation (ISS). Von April 2022 bis September 2022 hält sie sich erneut auf der ISS auf. Sie spricht Italienisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch und arbeitet im Astronautenzentrum der ESA in Köln.
2
Ich frage mich, ob die Sterne leuchten, damit jeder eines Tages den seinen wiederfinden kann.
Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz
Militärflugplatz Istrana, nahe Treviso, 18. Mai 2009
Es war der wichtigste Anruf meines Lebens, und ich habe ihn verpasst, weil ich mir ein paar Minuten mehr unter der Dusche gegönnt habe. Heute Abend hatte ich keine Nachricht von der ESA – der Europäischen Weltraumorganisation – mehr erwartet. Aber eigentlich kann es niemand anderes gewesen sein: eine unbekannte französische Nummer, keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. In meinem spartanischen Zimmer setze ich mich auf mein knarrendes Bett mit der Tagesdecke im Blau der italienischen Luftwaffe und atme ein paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Was tun? Auf einen erneuten Anruf warten? Versuchen zurückzurufen? Seit Wochen warte ich auf dieses Telefonat, während die wachsende Anspannung mich jeden Tag mehr zermürbt. In Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Dänemark und Finnland warten neun weitere junge Menschen mit derselben Unruhe wie ich. Wir sind die letzten zehn Kandidaten, die nach einem über einjährigen Auswahlverfahren für Astronauten noch übrig geblieben sind. Eigentlich hatten wir, damals noch zweiundzwanzig, die Entscheidung schon vor ein paar Monaten erwartet, nach einem Auswahlgespräch mit ESA-Führungskräften. Doch dann kam vorigen Monat die letzte Überraschung: ein Anruf aus Frankreich, der nicht die lang ersehnte Entscheidung brachte, ein Ja oder Nein, das die kaum zu ertragende Ungewissheit beendete, sondern die Einladung zu einer weiteren Prüfung, einem letzten Gespräch mit dem Generaldirektor. Zehn Kandidaten nahmen daran teil, gerade noch zehn. Tausende waren in den vorherigen Auswahlrunden schon ausgeschieden, doch wie niederschmetternd wäre es, gerade jetzt eine Absage zu erhalten, wo der Traum sich zu materialisieren beginnt und nicht mehr nur ein Windstoß aus Wille und Vorstellung zu sein scheint.
Seit einigen Tagen kann ich die Anspannung kaum noch ertragen. Übermorgen sollen die ausgewählten Kandidaten auf einer Pressekonferenz in Paris vorgestellt werden. Wer hätte je gedacht, dass wir zwei Tage vorher, abends um neun, noch immer nicht wissen, wer es geschafft hat? Glücklicherweise ist unsere Generation gut vernetzt. Direkt oder indirekt stehen wir alle in Kontakt miteinander, und wir beruhigen uns gegenseitig damit, dass bisher niemand etwas weiß.
Noch immer sitze ich unentschlossen auf dem Bett, als mich eine neue E-Mail aufspringen lässt. Betreff: »ESA Astronaut Selection«. Hektisch klicke ich auf die Nachricht, eigentlich erwarte ich eine Telefonnummer, unter der ich zurückrufen soll, mit der gewünschten Uhrzeit. Doch ein einfacher, trockener Satz lässt auf einmal alle Anspannung von mir abfallen. Jede Faser meines Körpers, jeder Nerv meines Geistes entspannt sich. Ich juble nicht, ich lache nicht, ich weine nicht. Eine ruhige, gleichmäßige Freude durchströmt mich, stumm genieße ich das Gefühl einer tiefen Erleichterung. Es gibt kein Gestern und kein Morgen, nur die strahlende Gegenwart. Einen Moment lang steht das ganze Universum still und blickt mich wohlwollend lächelnd an.
Ich antworte auf die E-Mail und bestätige dann per Telefon: Natürlich werde ich liebend gern übermorgen in Paris sein! Natürlich verstehe ich auch, dass ich bis zur Pressekonferenz Stillschweigen wahren muss. Das hatte ich erwartet und mich schon vor ein paar Tagen bei meinen Freundinnen und Freunden dafür entschuldigt, dass sie wahrscheinlich erst aus den Medien von der Entscheidung erfahren würden. Ich rufe lediglich meine Eltern an. Sie wissen, wie sehr mich mein Traum, Astronautin zu werden, seit meiner Kindheit begleitet, und haben in vielerlei Hinsicht dazu beigetragen, ihn Wirklichkeit werden zu lassen. Aus ihren Stimmen höre ich die gleiche Erleichterung heraus.
Dann schreibe ich den anderen noch verbliebenen Kandidaten. Eigentlich dürfte ich das wegen der Geheimhaltungsvorschriften nicht, aber wir hatten uns versprochen, uns gegenseitig zu benachrichtigen. Das monatelange gemeinsame quälende Warten, auch wenn wir es nur aus der Ferne teilen konnten, hat uns zusammengeschweißt, sodass ich jetzt einfach Wort halten muss. Mitten in der Nacht schreiben mir zwei zurück, sie hätten noch nichts gehört. Keiner spricht es aus, aber es ist klar, dass sie höchstwahrscheinlich nicht ausgewählt wurden. Wie schmal und willkürlich doch manchmal der Grat zwischen überwältigendem Erfolg und niederschmetternder Enttäuschung ist.
Ehe ich mich schlafen lege, schaue ich zu dem kleinen Stück Himmel hoch, das ich durch das Fenster sehen kann. Eines Tages, an Bord der ISS, werde auch ich nur ein winziger leuchtender Punkt dort oben sein. Noch immer kann ich es kaum glauben. Ich habe durch Talent, harte Arbeit und viel, viel Glück das beinahe Unmögliche geschafft. Das Leben hat mir nämlich einen mächtigen, aber auch tückischen Traum geschenkt: Die Chance, Astronautin zu werden, ist eigentlich erschreckend gering. Doch nun steht mir der Weg ins Weltall offen. Auch wenn ich mich vielleicht noch jahrelang gedulden muss, bin ich zuversichtlich, dass früher oder später eine Rakete an der Startrampe auf mich warten wird.
Beim Einschlafen denke ich: Heute habe ich meinen Stern gefunden.
Alles hatte vor über einem Jahr begonnen, im Umkleideraum eines Schwimmbads nicht weit vom Militärflugplatz Istrana, an dem ich Dienst tat. Nach einer abendlichen Schwimmrunde sah ich überrascht, dass auf meinem Handy jede Menge E-Mails, SMS und Telefonanrufe eingegangen waren. Alle mit derselben aufregenden Mitteilung: Bei der Europäischen Weltraumorganisation würde, so ging aus mehreren Quellen hervor, eine neue Astronautenauswahlrunde starten. Was Familie und Freunde nicht schrieben, mir aber sagen wollten, war: Das ist es! Das ist die Gelegenheit, deinen Lebenstraum wahr werden zu lassen.
Meine Reaktion war eher verhalten. Ich wollte mich nicht zu sehr freuen, um bei einem falschen Alarm nicht enttäuscht zu sein. Welche Anforderungen wurden gestellt? War ich überhaupt ausreichend qualifiziert? Vielleicht kam das auch alles viel zu früh: Mit 31 Jahren war ich jünger als die meisten europäischen und amerikanischen Astronauten zum Zeitpunkt ihrer Auswahl, ich stand ja gerade erst am Anfang meiner Laufbahn als Kampfpilotin, war weit entfernt von der Ausbildung zur Testpilotin, die ich für die Zukunft anstrebte und die schon immer ein privilegierter Zugang zum Weltraum war. Eigentlich brauchte ich noch ein paar Jahre.
Andererseits würde ich bei der nächsten Gelegenheit vermutlich schon zu alt sein. Während es in den USA und Russland alle paar Jahre Astronautenauswahlverfahren gibt, ist das in Europa nicht der Fall. Wer hier Astronaut werden will, hat in seinem Leben wahrscheinlich nur eine einzige Chance. Das letzte europäische Auswahlverfahren endete vor zehn Jahren, 1998, als ich noch die Technische Universität in München besuchte. Damals wurde das FGB, ein Lager- und Funktionsmodul, als erstes Modul der Internationalen Raumstation ISS ins All geschossen. Ich hatte gerade vier Semester Maschinenbau hinter mir und mich für weitere sechs Semester Luft- und Raumfahrttechnik entschieden. Ich wurde 21, für mich ein traurigerweise entscheidendes Alter, denn damit war mir endgültig der Weg verbaut, über den ich in jenen Jahren des Wartens auf die Öffnung der Streitkräfte für Frauen so oft nachgedacht hatte: als Pilotenanwärterin in die Luftwaffenakademie eintreten zu können. Es gehört zu den vielen glücklichen Umständen in meinem Leben, dass schon ein Jahr später völlig unerwartet, wie aus heiterem Himmel, der freiwillige Militärdienst für Frauen eingeführt und das maximale Eintrittsalter für sie vorübergehend angehoben wurde. Dank dieses geradezu unverschämten Glücks öffnete sich für mich eine Tür, die eigentlich schon zugefallen schien. Natürlich bewarb ich mich, trotz der praktischen Schwierigkeiten, an den Aufnahmeprüfungen teilzunehmen, denn ich war im letzten Unijahr und schrieb in Moskau an meiner Diplomarbeit über Raketenfesttreibstoffe. Ich glaubte nicht wirklich an eine Chance, doch an einem schönen Augusttag kam zu meiner großen Überraschung ein Telegramm mit der Einberufung: Ich hatte die Aufnahmeprüfung an der Luftwaffenakademie als Beste bestanden.
Und so saß ich also Jahre später in diesem Umkleideraum und dachte über meine damals eher gewagte Entscheidung nach, mit 24 Jahren noch ein weiteres, wenn auch kürzeres Studium in Angriff zu nehmen, bei dem ich gemeinsam mit frischgebackenen Abiturienten im Hörsaal saß. Angesichts der nun bevorstehenden Astronautenauswahl fragte ich mich, ob meine Entscheidung wirklich richtig gewesen war. Ich hatte auf so vieles verzichten müssen, auf Freiheit, soziale Kontakte, alternative Lebenswege. Natürlich würde sich das irgendwann auszahlen, aber eben erst irgendwann. Nach der Luftwaffenakademie hatte ich in den USA noch die Ausbildung zur Militärpilotin absolviert und danach in Italien einen Lehrgang besucht, der die taktischen Grundlagen des Luftkampfes und des Luft-Boden-Einsatzes vermittelte. Erst jetzt sollte ich, nach monatelangem Warten, das sich einer Reihe widriger Umstände verdankte, endlich zum Militärflugplatz Amendola nahe Foggia aufbrechen und mit der Schulung für »mein« Flugzeug, den AMX-Jagdbomber, beginnen.
Natürlich freute ich mich, doch wie viel lieber wäre ich mit abgeschlossener Ausbildung in das ESA-Auswahlverfahren eingestiegen! Auf dem Weg vom...
Erscheint lt. Verlag | 2.9.2019 |
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Übersetzer | Christine Ammann, Walter Kögler |
Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Diario di un'apprendista astronauta |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Alexander Gerst • Apollo 11 • Astronautenausbildung • Astronautinnen • Astrophysik • Buch Raumfahrt • cosmic kiss • eBooks • Elon Musk • erste europäische Astronautin • ESA • ESA Astronaut • ESA Ukrainekrieg • fliegen lernen • Frauen • geo interview • Harald Lesch • Insa Thiele-Eich • ISS • ISS Ukrainekrieg • Jugendbuch Raumfahrt • Matthias Maurer • MINT • Mondlandung • Mondmission • Nasa • Pilot • Pilotenausbildung • Raumfahrttechnik • Raumstation • Reisebericht Weltall • Space X • Suzanna Randall • tag bemannte raumfahrt • Traumberuf • Weltall |
ISBN-10 | 3-641-24665-2 / 3641246652 |
ISBN-13 | 978-3-641-24665-5 / 9783641246655 |
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