Und morgen eine neue Welt

Der große Friedrich-Engels-Roman

(Autor)

Buch | Hardcover
511 Seiten
2019
Pendo Verlag
978-3-86612-430-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und morgen eine neue Welt - Tilman Röhrig
20,00 inkl. MwSt
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Zeitlebens ist Friedrich Engels ein Mann voller Widersprüche. Er ist Gelehrter und Revolutionär, Frauenheld und Fabrikant. Erfolgreich führt er die Fabrik seines Vaters in England und ist dennoch einer der großen Vordenker des Kommunismus.

Für Karl Marx war er nicht nur enger Freund und Impulsgeber für dessen Werk, sondern auch unverzichtbarer Mäzen. Durch die Irin Mary Burns lernt Friedrich Engels das elende Leben der Arbeiter kennen – und findet in ihr die Liebe seines Lebens.

Tilman Röhrig, geboren 1945, lebt in der Nähe von Köln. Der ausgebildete Schauspieler ist seit über vier Jahrzehnten als freier Schriftsteller tätig. Seine historischen Romane waren allesamt Bestseller und wurden vielfach übersetzt. In „Und morgen eine neue Welt“ widmet er sich Friedrich Engels, mit dem Röhrig selbst verwandt ist. Tilman Röhrig wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Großen Rheinischen Kulturpreis.

In seiner ebenso fundierten wie fesselnden Romanbiographie »Und morgen eine neue Welt« fächert Bestsellerautor Tilman Röhrig (u.a. »Riemenschneider«, »Die Könige von Köln«, »Der Sonnenfürst« und »Caravaggios Geheimnis«) die entscheidenden Jahre im Leben Friedrich Engels auf, dessen Geburtstag sich im Jahr 2020 zum 200. Mal jährt.

»Geschickt vermischt Tilman Röhrig auf anschauliche und ungemein lebenspralle Art Dichtung und Wahrheit.« Aachener Zeitung (über »Die Könige von Köln«)

»Abermals ein strahlend-unterhaltsamer Historienroman. Die Mischung aus historisch fundiertem Hintergrund und kurzweiliger Phantasie macht den Roman zu einer niveauvollen Lektüre. Und dass Tilman Röhrig zudem ein Meister des geschliffenen Wortes und der präzisen Formulierung ist, steigert das Lesevergnügen zudem sehr nachhaltig.« Westfalenpost (über »Der Sonnenfürst«)

1 Brüssel, Rue de l’Alliance 5 Ende April 1845 Die Haustüre war nur angelehnt? Helene zögerte, betätigte den Klopfer erneut. Mit leisem Scharren schwang die Tür weiter nach innen. Sie blickte über die Schulter zu den beiden Herren auf der andern Straßenseite, wollte nachfragen. Gleich wandten die sich ab, verbargen ihre Gesichter in den hochgestellten Mantelkragen und schlenderten die schmale Rue de l’Alliance hinunter. Seltsam, dachte Helene, als ich mich vorhin nach dem Haus der Familie Marx erkundigte, sahen sie mich nicht an, sondern deuteten nur mit dem Daumen hier auf die Nummer 5. Und diese Nummer hatte sie auch auf dem Zettel stehen, dazu stimmte die Straße, also musste sie an der richtigen Adresse sein. Aber nichts rührt sich im Haus. Vielleicht sind die Herrschaften kurz weggegangen? Ich könnte auch drinnen warten. Helene fasste die Henkel ihrer Reisetasche fester, trat ein und lehnte die Haustüre hinter sich nur an. Säuerlich schaler Geruch stand im halbdunklen Flur. Ihr Fuß stieß an etwas Weiches. Sie beugte sich vor. Ein Mantel? Ohne Zögern setzte Helene die Tasche ab, hob das Kleidungsstück vom Boden, schlug es aus und hängte es zu den übrigen Jacken an die Garderobe. Weiter vorn entdeckte sie einen Zylinder, daneben eine Stoffpuppe, beides nahm sie auf, säuberte den Hut flüchtig mit dem Ärmel und stülpte ihn über den Haken. Die Puppe behielt sie in der Hand, zupfte an den verknoteten Haaren aus Wollfäden. Was ist hier geschehen? Langsam ging Helene weiter. Nahe der Treppe ins erste Stockwerk stand rechts eine Tür halb offen. Vorsichtig spähte sie in den Raum. Kalter Tabakqualm verschlimmerte den Gestank. War das die Wohnstube? Stühle und Sessel kreuz und quer, auf dem großen ovalen Tisch lagen Brot- und Käsereste zwischen Gläsern und umgelegten Flaschen. In den übervollen Aschenbechern steckten Zigarrenstümpfe. Kerzen waren niedergebrannt, die Wachsstraßen zerlaufen und eingetrocknet. Ein Gelage, Helene rümpfte die Nase, deshalb stinkt es hier so. In der hinteren Ecke entdeckte sie den Laufstall, sah den lockigen Kopf, das Mädchen kaute an einem weißlichen Holzstück. Da ist Klein Jenny. Aber wieso allein? Sie trat ins Zimmer und ging in Richtung der vergitterten Spielecke. »Na, meine Süße. Hab keine Angst vor mir!« Unvermittelt wurde ihre Hand gepackt. »Halt!« Aus dem Sessel neben Helene wuchs ein Kopf, wirres dunkelblondes Haar, die hellen Augen stierten sie glasig an. »Angst kenn ich nicht.« Die schwere Zunge hatte Mühe, die Worte zu formen. »Aber du … du Schöne. Wie kommst du hierher? Du weißt, unsere Baronesse will das nicht.« Der rötliche Randbart vom linken Ohr entlang des Kinns bis hin zum rechten Ohr verstärkte das Grinsen. »Meine Schöne.« Helene spürte seine Finger unter ihrem Rock, zielstrebig strich die Hand den Schenkel hinauf, ehe sie es fasste, wurde ihr Po mit kräftigem Zugreifen betastet. »Was für ein Hintern.« »Herr!« Helene gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Unterstehen Sie sich!« Darüber lachte er, griff noch fester zu. »Was für stramme Backen!« »Wagen Sie es nicht …« Nun hieb sie ihm rechts und links ins Gesicht. »Was erlauben Sie sich.« Die Stimme wurde lauter. »Unverschämt, ich werde Frau Jenny …« »Still.« Er zog die Hand zurück, raffte sich halb aus dem Sessel. »Nur still. Wecke die Baronesse nicht auf.« Er nestelte vom offenen Hemdkragen die Knopfleiste hinunter bis zur Weste und klaubte ein Geldstück aus der Tasche. »Hier. Besser, du verschwindest. Warte nebenan …« Die Münze entglitt den Fingern, und er sank zurück. Erneut überkam ihn der Rausch. »Du weißt, ich wohne im Nachbarhaus. Da … da wartest du.« Er schlief. Mit zitternden Lippen richtete Helene ihr Kleid. Dieser versoffene Schnösel. Behandelt mich wie eine Hure. So etwas ist mir … Lautes Kreischen. Das Mädchen im Laufställchen brüllte. Es hatte seine Beißwurzel verloren. Beide Ärmchen streckte es zwischen den Holzstäben hinaus, zu kurz, die Köstlichkeit lag zu weit weg. »Ich helfe dir.« Helene hob das schreiende Kind auf, schaukelte es, zeigte die Puppe, das Unglück aber war zu groß. Erst die klebrige Kauwurzel konnte das Mädchen beruhigen. Helene spürte, wie ihr Ärmel feucht wurde, und roch an der Windel. »Jesses, du bist ja noch gar nicht versorgt. Das wird höchste Zeit. Erst aber suchen wir nach deinen Eltern.« Mit der Kleinen auf dem Arm verließ sie, ohne den Kerl im Sessel noch eines Blickes zu würdigen, das Wohnzimmer. »Wir werden oben nachschauen.« Aus dem Toilettenverschlag auf dem ersten Treppenabsatz roch es bedenklich. Helene schüttelte den Kopf. Da muss mit Soda geputzt werden. »Wer ist denn da?«, rief eine Stimme von oben. »Ich bin es. Helene … Helene Demuth.« Das Atemholen war deutlich zu hören. »Lenchen?« Oben erschien eine Frau, dunkle Augen in einem schmalen Gesicht, die offenen Haare wellten sich über den Kragen des Nachthemdes, reichten bis zum Busen. »Aber Lene! Heute schon? Ich dachte, erst morgen …« »Aber Frau Jenny? Die Baronin, Ihre Mutter, hat Ihnen doch geschrieben.« »Ist gleich. Dann habe ich den Tag verwechselt.« Jenny Marx kam barfuß die Stufen hinunter, ihr Lächeln leuchtete. »Ich freue mich. Und sei herzlich willkommen. Ach, Liebchen, wie schön. Und Klein Jenny hast du auch schon entdeckt.« »Unten in der Stube. Da saß das Kind allein.« »Weil Püppchen quengelte, habe ich es heute früh rasch runtergebracht. Sonst hätte sie mir meinen Mohr noch geweckt. Ich habe mich noch mal hingelegt und muss wohl wieder eingenickt sein.« Frau Marx gähnte. »Ich bin zwar gestern vor allen anderen ins Bett, aber es war für mich doch schon sehr spät. Ich weiß gar nicht, wann die Männer gegangen sind.« »Einer von denen liegt noch unten im Sessel.« Die Falte auf Helenes Stirn verschärfte sich. »Und die anderen haben vergessen, die Haustür zu schließen.« Sie stopfte die Puppe in ihre Manteltasche, behutsam strich sie dem Kind über die Locken. »Und Klein Jenny. Niemand hat sich um dich gekümmert.« Frau Marx hob den Finger. »Sei nicht so streng mit mir. Weißt du eigentlich, dass ich wieder schwanger bin?« Großer Gott, dachte Helene, das eine Kind übersteigt doch schon die Kräfte, sagte aber: »Welch ein Glück. Da hat mich Frau Baronin gerade zur rechten Zeit geschickt.« »Ein größeres Geschenk hätte mir Mutter im Augenblick nicht machen können.« Nachdem Doktor Karl Marx über Nacht Paris wegen angeblicher politischer Hetze gegen das mit Frankreich befreundete Preußen verlassen musste und die junge Familie versuchte, in Brüssel Fuß zu fassen, hatte Baronin Caroline von Westphalen dem jungen Paar ihre Dienstmagd Helene Demuth zur Unterstützung für den Haushalt überlassen. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Helene sechs Jahre jünger als Baronesse Jenny. Ihre Tatkraft, ihre Umsicht sollten dazu beitragen, in dem, wie die alte Dame sich ausdrückte, unsoliden Lebenswandel der Familie Marx etwas mehr Ordnung und Beständigkeit zu schaffen. Helene tastete sich vor. »So fertig eingerichtet scheint mir das Wohnzimmer noch nicht?« Ein verständnisvolles Lächeln. »Aber Sie sind ja auch gerade erst eingezogen.« Da ballte Frau Marx die Faust und drohte in Richtung Südwesten. »Diese Franzosen. Halsabschneider!« Nach der überstürzten Ausweisung ihres Mannes Anfang Februar 1845 war sie noch in Paris geblieben, hatte versucht, die Möbel und einen Teil der Wäsche zu verkaufen, um das Geld für die Reise nach Brüssel zu beschaffen. Außerdem sollte noch genug für eine neue Einrichtung übrig bleiben. »Nicht einmal für die Postkutsche hat es ganz gereicht. Bei Freunden musste ich mir den fehlenden Betrag erbetteln.« Sie deutete nach unten. »Was da im Wohnzimmer steht, haben uns die anderen deutschen Flüchtlinge aus unserer Straße geliehen.« Wenn alle so sind wie der Kerl da vorhin, dann sind wir ja von feinen Leuten umgeben. Helene bezwang den Zorn. »Also schnarcht der Gast da unten in seinem eigenen Sessel?« Jenny lachte hell auf. »Du meinst Fritz? Er und mein Mohr trinken am schnellsten, vertragen am wenigsten und wissen nie, wann sie genug haben.« Sie ging schon die Treppe hinab. »Komm, ich stell dich vor!« »Nein danke. Nicht nötig.« Helene eilte ihr nach. »Erst das Kind. So wartet doch. Wo kann ich es wickeln?« Die Hausherrin war nicht aufzuhalten, schon halb im Wohnzimmer deutete sie kurz auf die Tür am Ende des Flurs. »Da vorn ist die Küche. Da findest du alles.« Helene hatte eine Decke über den Tisch gebreitet. Vergnügt strampelte Klein Jenny mit den nackten Beinchen, als ihr der Po abgewischt wurde. Die Baronesse brachte den Gast in die Küche. »Dies hier, lieber Fritz, ist die tüchtigste Helferin im Haushalt meiner Mutter. Ach, was sage ich, es gibt, nein, es gab keine bessere in ganz Trier. Denn ab sofort wird sie der gute Geist in unsrem Hause sein.« Langsam drehte sich Helene mit der durchnässten und verschmierten Windel zwischen den Fingern um. Betont respektvoll fuhr Frau Jenny mit der Vorstellung fort: »Und dies hier ist unser Freund und Nachbar Friedrich Engels.« In dem bartumrandeten verkaterten Gesicht arbeitete es, die Erinnerung weitete die graublauen Augen. »Sehr … ich bin sehr erfreut.« Engels streckte die Hand zum Gruß. Nur einen Schritt kam Helene näher, ehe er begriff, drückte sie ihm die schmutzige Windel in die Hand. »Gott zum Gruß.« Gleich tat sie erschrocken. »Oh, verzeihen Sie! Das Kind … ich war in Gedanken. Bitte stecken Sie die Schweinerei da zu den anderen in den Windeleimer.« Ohne ein empörtes Wort, ohne die Miene zu verziehen, gehorchte Engels. Nachdem er sich die Finger gewaschen hatte, verneigte er sich sogar leicht. »Ich bin sicher, die Familie Marx ist bei dir in besten Händen.« Ihr Blick sagte ihm, dass die Partie ausgeglichen war und keine Beschwerde nach sich ziehen würde. »Ich wünsche dir einen guten Start hier bei uns in Brüssel.« Frau Jenny führte den Gast hinaus, und Helene lächelte, während sie dem Kind die frischen Windeln anlegte. 2 Brüssel, Ministerium des Inneren, Rue de la Loi 4 Mai 1845 Ein Platzregen ging über Brüssel nieder. Vor der Nebenpforte des Ministeriums des Inneren drängte sich die Schlange der Wartenden enger ans Mauerwerk. Der Dachvorsprung hoch oben bot nur wenig Schutz, dennoch verließ keiner seinen Platz. Seit dem frühen Morgen harrten die Menschen aus, und quälend langsam schob sich die Schlange, beaufsichtigt von zwei bewaffneten Posten, ins weiße Gebäude hinein. Jeder Reisende musste sich hier im Büro für Passangelegenheiten sein Dokument ausstellen lassen, und bereits um drei Uhr nachmittags schloss sich die Pforte. Etwas weiter oben standen auf der anderen Straßenseite die beiden Männer im Halbdunkel der offenen Säulenvorhalle des Parktheaters. Von hier aus überprüften sie durch ihre handlichen Stecher Gesicht nach Gesicht. »Einer auffällig?«, fragte der Kleinere. »Unbekannt.« Der Hagere sog den Speichel durch die Zahnlücke. »Keiner von unsren Verdächtigen dabei.« So unvermittelt, wie er begonnen hatte, brach der Regen ab. Das Pflaster glänzte in der Sonne. Beide Herren verließen ihre Deckung, den Zylinder tief in der Stirn, den Mantelkragen hochgestellt, querten sie in langen Schritten die Straße. Ohne auf den empörten Protest zu achten, gingen sie an der Schlange vorbei direkt zum Eingang. Sofort fassten die Wächter die Gewehre mit beiden Händen. Ein kurzes Geflüster entspann sich, erst nachdem die Herren eine metallene Marke vorgewiesen hatten, durften sie passieren. Im Passbüro wollte der Beamte auffahren, auch ihn beschwichtigte die verstohlen vorgezeigte Plakette mit dem preußischen Adler. »Zweiter Stock«, raunte er hinter vorgehaltener Hand. »Linker Flur, letztes Zimmer.« Vor der gesuchten Tür nahmen beide Männer den Zylinder ab, beide räusperten sich, noch ein gegenseitiges Nicken, und der Hagere pochte viermal kurz hintereinander. Er wartete zwei Atemzüge, dann wiederholte er das Klopfzeichen. Stille. Endlich wurde von drinnen aufgeschlossen. »Du zuerst. Und vergiss nicht zu fragen!« Der Kleinere öffnete dem Kollegen, ließ ihn eintreten und drückte die Tür hinter sich zu. Ein ausladender Schreibtisch beherrschte den Raum, auf der mit grünem Leder bespannten Platte lagen sorgfältig gereihte Papierstapel, daneben stand das Tintenfass, die weiße Schreibfeder war an der Seite zurechtgestutzt. Und aufgerichtet hinter dem Ordnungstisch saß der Vorgesetzte, die Haare mittig gescheitelt, geölt und eng an die Schädelseiten gekämmt. Der Hagere nahm Haltung an. »Offizier Han…« »Untersteh dich, Kerl! Keine privaten Namen. Du und dein Kollege, ihr seid hier als geheime Agenten für unser geliebtes Preußen eingesetzt. Ich habe euch Decknamen zugeteilt.« Die Faust schlug auf die Platte. »Also: Schulz und Müller melden sich heute und jetzt zum Rapport! Verstanden?« Ein bedeutungsvoller Blick nach rechts. Dort saß ein Herr, das Gesicht zum Fenster gewandt, er hatte den Zylinder nicht abgenommen, die linke Hand ruhte auf dem Silberknauf seines Stocks. »Wir haben hohen Besuch aus Berlin.« Der Vorgesetzte schmeckte das Wort vor, ehe er es aussprach: »Diplomatie. Ihr verdanken wir es, dass wir hier im neutralen Belgien ein Büro unterhalten dürfen und die hiesige Polizeibehörde mit uns zusammenarbeitet.« »Zur Sache!« Der Stock stieß einmal hart auf den Boden. »Meine Zeit ist knapp. Ich verlange Informationen über die kommunistischen Rädelsführer.« Gleich gab der Vorgesetzte die Rüge nach unten weiter. »Was zögert ihr?« »Mit wem sollen wir anfangen?« Der hagere Schulz ließ den Zylinderrand Stück für Stück durch die Finger wandern. »Da oben in der Rue de l’Alliance braut sich was zusammen …« »Mit Marx. Beginnt mit diesem Umstürzler Karl Marx. Aus Paris konnte er verjagt werden. Hier in Brüssel darf er sich nur aufhalten, solange er jede politische Aktivität unterlässt. Und hält er sich daran?« »Nein, da sind wir ganz sicher. Drei, vier Spelunken haben wir unter Beobachtung. Da verkehren die deutschen Exilanten, und zwar regelmäßig, ebenso unsere Zielpersonen. Im Hinterzimmer trifft sich Marx mit deutschen Handwerkern. Vielleicht sind wir da einer Geheimgesellschaft auf der Spur.« »Sehr gut. Dranbleiben, dranbleiben!« Der untersetzte Müller trat einen Schritt vor. »Wie mein Kollege schon erwähnte. In der Rue de l’Alliance hat sich ein Schlangennest gebildet. Der Marx allein wäre noch zu bändigen, aber jetzt ist der aus Köln verjagte Moses Hess dazugezogen, und es kommt schlimmer: Im April hat sich dieser Friedrich Engels aus Barmen dort eingenistet. Haus an Haus wohnen …« Das harte Aufstoßen des Stocks unterbrach. Ohne das Gesicht zu wenden, verlangte der Besucher aus Berlin: »Engels? Was weiß man über ihn?« Der Vorgesetzte griff nach einem Papierstapel, nahm ein Blatt und tippte mit dem Finger darauf. »Laut Polizeiakte ist sein Vater ein ehrbarer, zuverlässiger Geschäftsmann aus dem Tal der Wupper. In Barmen und in Engelskirchen hat er große Garnfabriken. Einer seiner Söhne, dieser Friedrich, ist ein verfluchter Kommunist, der sich als Literat herumtreibt. Geboren 1820, also heute im fünfundzwanzigsten Jahr. Statur: groß, schlank und kräftig. Er ist uns bereits in Paris aufgefallen. An der Seite des Karl Marx. Im Übrigen sind beide fast gleichen Alters. Wobei Marx zwei Jahre mehr zählt.« Agent Müller nickte. »Und jetzt wohnen sie Tür an Tür. Besonders auffällig bei Engels ist zu vermerken: Bei ihm gehen die Weiber ein und aus … Wohlgemerkt, er ist unverheiratet.« »Freie Liebe?« Der Vorgesetzte fuhr mit der Fingerkuppe die Spur seines Scheitels nach. »Das möchte ich näher erläutert haben. Grundsätzlich gibt es gegen Frauenspersonen nichts einzuwenden, dennoch könnten sie zur Gefahr werden.« Er gab ein kurzes Lachgemecker von sich. »Was man so hört, halten diese Kommunisten nicht viel von der Ehe.« Das Pochen des Stocks ermahnte ihn, sein Grinsen erstarb. »Informationen?« Agent Schulz senkte die Stimme. »Uns fiel auf, dass nicht nur Friedrich Engels …« Das Schnalzen durch die Zahnlücke ergänzte den Satz deutlicher als Worte. »Nein, vor gut drei Wochen ist auch bei Karl Marx eine zweite Frau eingezogen.« »Beschreibung?« »Nicht sehr groß. Keine Schönheit, eher bieder mit Haarknoten, auch nicht schlank. Unscheinbar eben.« »Gefährlich. Haltet diese Person im Auge. Gerade von den Unscheinbaren geht Gefahr aus. Und nun wieder an die Arbeit. Hinaus mit euch!« Die Agenten dienerten, gingen zur Tür. Da stieß Müller dem Kollegen in die Seite. »Du wolltest fragen«, zischte er. Schulz zögerte, ein zweiter Stoß half nach. Er wandte sich um. »Verzeiht. Es ist nötig. Wir sind viel gelaufen, das Pflaster hier in Brüssel ist nicht gut, außerdem müssen wir bergauf und bergab. Dann der Regen und die Pfützen.« »Klarheit!« Der Vorgesetzte straffte den Rücken. »Agent Schulz, worum geht es?« »Um das Sohlengeld.« Sein Kollege pflichtete ihm bei: »Wir benötigen dringend neue Stiefel.« »Schon wieder? Ich verlange den Beweis.« Sie schürzten die Hosenbeine, der eine zeigte den abgenutzten linken, der andere den rechten Stiefel. Halb erhob sich der Vorgesetzte aus dem Stuhl, zwängte das Monokel ans Auge und beäugte die großen Löcher in den Sohlen. »Fatal. In der Tat.« Er ließ sich nieder, nahm zwei Formulare, beschriftete sie mit geübter Hand und schob die Blätter den Agenten hin. »Keine neuen Stiefel. Die gibt es laut Vorschrift nur einmal im Jahr.« Er entnahm der Lade unter dem Schreibtisch zwei Münzen. »Sucht einen günstigen Schuster! Das Geld sollte für neue Sohlen ausreichen.« »Aber …« »Keine Diskussion. Unterschreibt, und dann zurück an die Arbeit!« Gehorsam und mit gesenkten Köpfen verließen die Agenten den Raum. Die Tür fiel ins Schloss. »Um Vergebung, Herr Geheimrat.« Die Hände glätteten die geölten Haare an den Schädelseiten nach. »Es sind eben nur einfache Beamte. Gerne hätte ich besseres Personal.« Der Besucher aus Berlin erhob sich, leicht tippte er die Stockspitze auf den Sims des Fensters. »Gar nicht so übel, mein Freund.« Er wandte sich um. Ein bleiches Gesicht, scharfe kleine Augen hinter den Brillengläsern. »Unsere Zielpersonen werden längst diese beiden Männer und deren Kollegen entdeckt haben. Und dies ist gut so. Die Verdächtigen sollen wissen, dass wir ihnen auf Schritt und Tritt folgen.« Er trat näher zum Tisch. »Mit diesen Spitzeln binden wir ihre Aufmerksamkeit, lenken sie ab. Und inzwischen platzieren wir eine zweite Riege.« Von oberster Stelle im preußischen Innenministerium war geplant, etliche Informanten direkt in die Gruppe der Exilanten einzuschleusen. Sie sollten stichhaltige Beweise für die geheimen umstürzlerischen Pläne sammeln und stets mit Berlin und Wien in Kontakt stehen. »Das braucht Zeit. Aber …« Der Stock pfiff einmal scharf durch die Luft. »Ob nun Gefängnis oder Galgen. Bald schon werden wir diesen Kommunisten den Garaus gemacht haben.« 3 Brüssel, Gasthaus Bohème Mai 1845 »Papperlapapp!« Mit der Hand wischte Karl Marx durch die Luft und hätte beinah den Weinkrug vom Tisch gefegt. »Scharlatanerie!« Nun stieß er den Finger in Richtung Heinzen. »Wer so denkt, sollte das Stroh in seinem Schädel selbst anzünden!« »Unterstehe dich, so unflätig über mich …« »Der Mensch macht die Religion. Die Religion macht nicht den Menschen. Merke es dir, hämmere es dir in deinen kleinen Kopf!« Karl lachte, der schwarze struppige Bart wippte dazu, er tauschte mit Friedrich Engels neben sich einen Blick. Weil dessen Miene ernst blieb, lachte er umso lauter bis in einen Husten hinein, Tabakqualm und Hitze im Hinterzimmer des Gasthauses Bohème verstärkten den Anfall. Marx keuchte und spuckte ins Taschentuch. Ruhig schob ihm Friedrich den Weinbecher hin. Erst große Schlucke beruhigten ihn wieder. Er überging Heinzen und sprach zu Moses Hess und den drei anderen am Tisch. »Freunde, Religion ist nicht mehr als das Gemüt einer herzlosen Welt, der Geist geistloser Zustände.« Heinzen erhob sich halb, wollte widersprechen, ehe er ansetzen konnte, donnerte ihm Marx entgegen: »Religion ist Opium des Volkes!« »Was hat das mit mir zu tun?«, gelang es Heinzen zu fragen. Der große, stark gebaute Mann bebte vor Zorn. »Ich bin ebenso Demokrat, ebenso Revolutionär wie du oder dein neuer Genosse, dieser saubere Friedrich.« Marx bohrte sich mit dem Finger im Ohr, als wäre es verstopft und er hätte deshalb nicht recht verstanden. »Hörte ich da Revolutionär? Oder gar Kommunist?« Spott glitzerte in den kleinen Augen. »Dazu braucht es nicht Dummheit und Muskeln, dazu benötigt es vor allem Verstand.« Heinzen ließ sich auf den Stuhl zurückfallen, er blickte in die Runde, suchte Unterstützung. Die Freunde, auch Moses Hess, tranken hastig, niemand wollte sich einmischen. Da wagte es Heinzen allein. »Meine Kritik an der preußischen Bürokratie …« »Ein Fliegenschiss. Mehr nicht.« Marx nahm die kleine Glocke und bimmelte, übertönte dabei den unterdrückten Fluch des Geschmähten, er bimmelte, bis die Kellnerin erschien. »Bring uns noch zwei Krüge. Und Zigarren!« Als die Becher wieder gefüllt waren, blickte er übermilde zu Heinzen hinüber. »Nimm es nicht so schwer. Lass uns trinken und den Abend genießen.« Eine Weile hielt der Frieden. Das Thema betraf jetzt die geheimen Versammlungen der aus Preußen geflohenen Handwerker. Friedrich Engels erkundigte sich genau nach dem Treffpunkt und schlug vor, an einer dieser Versammlungen teilzunehmen. Derweil spannte Heinzen die Lippen, das Lächeln gelang ihm nicht. Unentwegt schob er den Becher in der Faust auf dem Tisch hin und her. »Weißt du«, unterbrach er das Gespräch über den Geheimbund und beugte sich in Richtung Marx. »Weißt du, wie ich als Freund zu dir stehe? Damals in Köln, als wir noch gemeinsam in der Zeitungsredaktion saßen, da habe ich eine Zeit lang zu dir aufgeschaut. Bis ich dich richtig kennengelernt habe. Und heute? Ich gebe dir zwar immer noch die Hand. Mit der anderen aber würde ich dir am liebsten hinter die Ohren schlagen.« »Was?« Karl Marx sprang auf. Auch Heinzen erhob sich wieder, er überragte den Spötter um einen Kopf, einen großen Kopf. Einen Augenblick lang starrten sich die beiden nur an. Marx streckte den Finger. »Mich ohrfeigen? Dann steche ich dir ein Messer in den Wanst.« Nun verzog Heinzen das Gesicht. »Wenn du kleiner Mann so läppisch bist, dann eben keine Ohrfeige, sondern nur ein kräftiger Tritt.« Damit kam er um den Tisch herum, gleich wich Marx einen Schritt zurück. Da lachte Heinzen, schnippte mit den Fingern. »Keine Angst, ich geh nur mein Wasser wegschütten.« Moses Hess schob den Stuhl zurück. »Ich komme gleich mit.« Der schmächtige Mann beeilte sich, durch die Tür zu schlüpfen, ehe sie zuschlug. »Was für ein vergnüglicher Abend.« Marx rieb sich die Hände. »Dieser kleine Disput hebt die Stimmung, dazu Tabak und genug vom Roten.« Er nahm eine von den Zigarren, leckte sie vorn, ehe er das andere Ende zwischen die Zähne steckte und ankaute. Eilfertig hielt ihm einer der Tischgenossen den brennenden Fidibus hin. Auch Friedrich rauchte. Während Marx mit den übrigen drei Exilanten überlegte, ob ein Fuchs die Gans tötet und frisst oder ob er ihr den Hals durchbeißt, sich am Blut satt trinkt und das Fleisch liegen lässt, starrte Friedrich zur Tür. Die zwei? Wo bleiben sie? Freund Moses wird sich doch nicht mit dem groben Kerl verbünden? Unser kleiner Rabbi hat zwar gute Kontakte zu den Verlegern, aber leider ein weiches Rückgrat. Langsam erhob sich Friedrich, der Freund beachtete ihn beim Hinausgehen nicht, wie ein Schulmeister wollte er von den Exilanten wissen, wer in der menschlichen Gesellschaft mit dem Fuchs zu vergleichen sei. Der Flur war nur schwach von zwei Öllampen beleuchtet. Aus der Küche roch es nach Gebratenem und Suppe, je näher Friedrich aber der geöffneten Hintertür kam, umso ärger mischte sich scharfer Gestank von Fäulnis und Kot in die Essensgerüche. Gleich neben dem Ausgang zum Hof hing eine Lampe. Ihr Schein fiel auf die beiden Bretterbuden, die Verschläge waren halb geöffnet. Daneben standen die beiden Männer an der blechernen Pissrinne. Ihre Notdurft schien längst verrichtet. Der lange Heinzen sprach auf Hess ein, dabei unterstrich er seine Worte mit großen Armbewegungen. »Wie ich schon sagte, wir, der Marx und ich hatten an dem Abend schon mehrere Flaschen Wein getrunken.« »Das war noch in Köln?«, vergewisserte sich Hess. »Und da soll er dich berührt …?« »Ja, Köln. Sag ich doch. Herrgott, hör doch zu!« Heinzen packte den schmächtigen Mann am Gehrock und rückte ihn direkt vor sich. »Was ich dir jetzt über diesen Wichtigtuer erzähle, ist die reine Wahrheit.« Friedrich Engels ging nicht weiter. Also habe ich recht. Dieser dumme Rüpel sucht einen Verbündeten. Er trat in den Schatten der Hintertür und lehnte sich an die Wand. »Marx verträgt nicht viel, wie du weißt. Also habe ich ihn nach Hause gebracht. Es dauerte, bis er mit dem langen Schlüssel die Haustür geöffnet bekam. Und dann flüsterte er mir zu: Komm mit rein. Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen. Sobald ich im Haus war, verschloss er die Tür, und ehe ich es mitbekam, hatte er den Schlüssel versteckt. Du bist jetzt mein Gefangener, kicherte er. Komm mit nach oben!« Heinzen stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich wollte nur wissen, was dieser komische Kauz vorhatte, und bin mit ihm die Stiege hinauf.« Dort habe er sich aufs Kanapee gesetzt und abgewartet. Nach einer Weile sei Marx hinter ihn getreten und habe immer wieder gekichert und halb gesungen: »Du bist jetzt in meiner Gewalt. Gehörst mir. Du bist jetzt in meiner Gewalt.« Moses Hess schüttelte den Kopf. »Was sollte solch ein Verhalten?« »Warte, es kommt noch schlimmer.« Heinzen beugte sich zu dem jüdischen Gelehrten hinunter. »Ins Hemd ist er mir gefahren. Erst die Brust, als er tiefer wollte, hab ich mich gedreht und die Hand rausgezogen. Aber er hat nur gekichert.« Marx habe ihm gedroht, wenn er sich weiter wehren würde, so könne er ihm die Position bei der Zeitung nicht mehr garantieren. »Und schon fasste er mich erneut an. Da hab ich ihn gewarnt, ihm gesagt, dass ich so was widerwärtig finde, und wenn er nicht damit aufhört, dass ich ihm das mit Gewalt klarmachen würde. Und über meinen Posten hätte er sowieso nicht zu entscheiden.« Im Schatten der Hintertür griff sich Engels ans bärtige Kinn. Was für ein Schwätzer, dachte er. Eine infame Verleumdung. »Halt, hab ich ihn gewarnt.« Die Stimme an der Pissrinne wurde lauter. »Er wollte mir den Teufel vormachen, wie er mich an sich reißt, mir die Kleider zerfetzt. Nun ja.« Heinzen richtete sich wieder auf. »Mir blieb nichts anderes übrig. Ein Schlag, und er taumelte rückwärts, lag in der Zimmerecke.« »Allmächtiger!« Moses hob beide Hände. »So ein kluger, studierter Mann.« »Gerade die …« Heinzen schnippte mit den Fingern. »Sauber sind da nur wenige.« »Hat er sich entschuldigt?« Ein kurzer Lacher. »Der große Karl Marx entschuldigt sich nie. Im Gegenteil.« Heinzen habe nach dem Schlüssel gefragt, sein Wächter aber hätte aus dem Faust gesungen: »Drinnen gefangen ist einer! Bleibet draußen, folg ihm keiner! Wie im Eisen der Fuchs, Zagt ein alter Höllenluchs …« Kurz entschlossen sei Heinzen die Stiege hinunter. Mit gewaltigem Ruck habe er die Haustür aus dem Schloss gerissen und von der Straße zu Marx hinaufgerufen, er solle sein Haus besser verschließen, damit keine Diebe eindrängen. »Er aber lag nur im Fenster, sagte kein Wort, stierte mir nur mit seinen kleinen Augen nach wie ein begossener Kobold.« Moses Hess fiel nicht ins Gelächter von Heinzen mit ein. »Ich kann es kaum glauben. Aber wenn du es selbst erlebt hast …« »Marx war betrunken.« Der große Mann führte Moses an der Schulter zur Hintertür. Rasch trat Engels noch tiefer ins Dunkel der Hauswand. Die beiden bemerkten ihn nicht, als sie vorbeigingen. Aus dem Flur vernahm Friedrich noch: »Und glaub es mir, gerade in solch einem Zustand zeigt sich die nackte Wahrheit.« Dieser gemeine, dumme Rüpel. Friedrich ging zur Rinne, vor Zorn hatte er Mühe, die Hose aufzuknöpfen. Neid und Missgunst, sonst nichts. Dieser Flegel! Alles frei erfunden. Sicher verlief der Abend völlig harmlos. Ich werde dafür sorgen, dass diese Geschichte nicht in Umlauf gerät. Von jetzt an werde ich Heinzen und auch Moses genau beobachten. Und sollte einer von ihnen versuchen, daraus Kapital zu schlagen, so wird er mich von meiner schlimmsten Seite kennenlernen. Friedrich kehrte ins Gasthaus zurück. Als er die Tür zur Hinterstube öffnete, stand Marx vor Heinzen, ein Stuhl lag umgestürzt neben ihnen. »Du bist kein Atheist. So begreife doch …« »Hör auf, mich zu beleidigen. Wir alle hier sind reine Atheisten, kämpfen für eine neue Politik. Die Fessel des Christentums und der Kirche haben wir längst abgeworfen. Frei sind wir …« »Papperlapapp!« Die Zigarre in der Linken stieß Marx ihm den Mittelfinger der Rechten gegen die Brust. »Idee! An Ideen für einen Umsturz glaubt ihr jetzt. Das ist eure neue heilige Religion. Und damit seid ihr keine Atheisten.« Mit einer heftigen Bewegung wischte Heinzen den Finger beiseite. »Wir kämpfen für das unterdrückte Volk, es soll endlich aufstehen.« »Warum? Was habt ihr den Armen denn anzubieten? Ihr versprecht Besserung, ohne zu wissen, wie sie durchgeführt werden soll, ihr weckt Hoffnungen, von denen keiner weiß, wie sie erfüllt werden können. Das ist Betrug!« »Halt’s Maul, Kerl! Nenn mich nicht Betrüger.« Als Friedrich sah, wie Heinzen die Fäuste ballte, öffnete und wieder ballte, ging er zum Tisch und griff nach einem leeren Becher, schlug ihn probeweise mit dem Boden voran in die Handfläche. Die Gesichter der Genossen waren angespannt. Moses Hess flüsterte Engels zu: »Friede. Versuche doch, die beiden auseinanderzubringen.« »Dann lernt keiner was«, lächelte Friedrich dünn. »Ich sorge nur dafür, dass sie sich nicht totschlagen.« Marx nahm einen Zug aus der Zigarre und blies Heinzen den Qualm ins Gesicht. »So benebelt bist du, genauso wie deine Freunde. Jetzt das Volk in blutige Aufstände zu hetzen ist gewissenlos. Weil erst ans Grundübel herangegangen werden muss.« »Und nur der schlaue Dr. Marx in seiner Studierstube weiß, wie es gemacht wird«, höhnte Heinzen. »So ist es, mein Freund. Das Privateigentum muss abgeschafft werden. Es ist das Grundübel.« »Wer hier das Übel für unsere Bewegung ist, zeig ich dir. Du schwarz behaarter Affe, selbst aus den Löchern deines Drecksknorren wuchert dir das Fell.« »Fällt dir das Denken so schwer? Kaum hast du keine Argumente mehr, musst du mich beleidigen. Versuche dein bisschen Hirn zu sammeln.« »Mir reicht’s!« Heinzen stieß dem Gegner vor die Brust, der wankte, stolperte über den Stuhl und schlug rücklings zu Boden. Gleich kniete Friedrich bei dem Freund. »Geht es?« Marx nickte, unter Ächzen raffte er sich halb hoch und lehnte den Rücken an die Wand. »Meine Zigarre?« Er entdeckte sie an einem Tischbein. »Gib sie mir!« Engels steckte ihm das zerkaute Ende zwischen die Zähne, ließ ihn einige Züge paffen, ehe er ihm ganz aufhalf. Heinzen stand an der Tür, den Zylinder in der Hand. »So weit musste es nicht kommen.« »Ist das eine Entschuldigung?«, wollte Marx mit spitzer Stimme wissen. »Herrgott, nein.« Heinzen schlug die Tür hinter sich zu. Die Stimmung war verdorben, rasch brachen auch die übrigen Genossen auf. Moses Hess bot noch seine Hilfe an, dafür dankte ihm Friedrich, und der kleine Mann verließ mit eingezogenem Kopf die Hinterstube des Bohème. »Erklimmen wir den Berg!« Die Stimme gehorchte Marx nicht mehr ganz. »Hinauf zu unsrem Schloss.« Er legte den Arm um die Schulter des Freundes. »Aber erst müssen wir noch die leidige Zeche begleichen. Könntest du …? Ich habe ein Weib und ein Kind zu versorgen. Nein, bald sind es schon zwei. Du weißt, meine Jenny …« Er beschrieb eine Wölbung vor dem Bauch. »Unterstütze also bitte den geplagten Familienvorstand!« Und Friedrich bezahlte. Brüssel schlief schon. Wankend querten die Angetrunkenen den Opernplatz. Die Gassen hinauf zur Kathedrale Saints-Michel-et-Gudule raubte ihnen den Atem. Unterhalb des Hauptportals zog Marx den Freund auf eine Bank. »Warte, sonst erlebe ich den Gipfel nicht, und die Welt wäre um ein Genie ärmer.« Beide lachten in sich hinein. Marx hob den Finger. »Was sage ich? Ein Genie? Um das einzig große Genie.« Er lehnte den Kopf an Friedrichs Schulter. »Im Ernst: Wir müssen das Grundübel noch besser erforschen. Das Privateigentum ist ein Raubtier. Es geht umher und frisst sich an den Armen satt. Wir wissen noch viel zu wenig über dieses Ungeheuer, seine grausame Jagdtechnik. Also, wie genau funktioniert das Privateigentum?« Er boxte Engels leicht in die Seite. »Wenn du es weißt, heraus damit!« Friedrich fasste nach der Faust und hielt sie fest. »Ich bin unsicher. Aber ich weiß aus meiner Zeit in Manchester, dass man sich in England schon lange mit der Ökonomie beschäftigt. Die Bibliotheken da sind bestens ausgestattet, da finden wir alles, was neu erschienen ist.« Während seiner zweijährigen Lehrzeit bei Ermen & Engels, einer englischen Filiale der Spinnereifabriken seines Vaters, hatte er das Elend der Arbeiterklasse hautnah kennengelernt, selbst darüber ein Buch geschrieben und gerade fertiggestellt. Marx kicherte vor sich hin. »Mein Kapitalist mit dem Herz für Arme.« »Und du? Der Mann einer Adeligen, der Kommunist sein will.« »Da sei der Teufel vor.« Marx streckte beide Hände in den nächtlichen Himmel. »Kommunismus? Ich denke nur darüber nach.« Er setzte sich auf, wischte mit dem Ärmel über die Stirn, kämmte mit den Fingern durch den zottigen Bart, die Trunkenheit wich aus der Stimme. »Sagtest du Manchester? Wir sollten hinfahren und uns durch die Bücher fressen. Erst wenn wir exakt wissen, was die anderen über die Nationalökonomie geschrieben haben, können wir mit unserer Arbeit loslegen.« Gleich stieg Friedrich ein: »Und ich kenne jede Bibliothek. Besonders Chetham’s Library wird dir gefallen …« »Ach, was träumen wir.« Marx blies den Atem aus, sank wieder in sich zurück. »Der schnöde Mammon. Woher das Reisegeld nehmen? Es langt ja nicht einmal für ordentliche Möbelstücke.« Er wies mit dem Finger über die Schulter zur Kathedrale hinauf. »Vom heiligen Michael haben wir als Atheisten keine Hilfe zu erwarten.« »Nicht so voreilig!« Friedrich strich sich den Schnauzbart. »Sorge dich nicht ums Geld. Mir wird da schon etwas einfallen.«

Erscheinungsdatum
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 138 x 220 mm
Gewicht 736 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • 200. Geburtstag Engels • Bestsellerautor • Brüssel • Brüssel • Friedrich Engels • Gesellschaftsroman • Helene Demuth • Historischer Roman • Industrielle Revolution • Karl Marx • Köln • Kommunismus • Köln • London • Manchester • Marxismus • Mary Burns • Paris • Persönlichkeit 19. Jahrhundert • Persönlichkeit 19. Jahrhundert • Romanbiographie • Tilman Röhrig • Tilman Röhrig • Wuppertal
ISBN-10 3-86612-430-9 / 3866124309
ISBN-13 978-3-86612-430-1 / 9783866124301
Zustand Neuware
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