In dem Kurzroman »Die Tänzerin am Abgrund« beleuchtet Brandon Sanderson das Schicksal einer bislang kaum beachteten Figur seiner epischen »Sturmlicht-Chroniken«.
Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Mit den »Sturmlicht-Chroniken«, seinem großen Epos um das Schicksal der Welt von Roschar, erobert er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und begeistert auch in Deutschland viele Zehntausende Fans. Er wird bereits als der J. R. R. Tolkien des 21. Jahrhunderts gepriesen. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.
1
Lift bereitete sich darauf vor, großartig zu sein.
Sie rannte über ein offenes Feld im nördlichen Taschikk, etwa eine Tagesreise von Azimir entfernt. Die Gegend war mit braunem, ein oder zwei Fuß hohem Gras bewachsen. Die Bäume, die hier und da standen, waren hoch und knorrig; ihre Stämme wirkten, als bestünden sie aus umeinander geschlungenen Ranken, und die Äste zeigten eher aufwärts als seitwärts.
Sie mochten irgendeinen offiziellen Namen haben, doch jedermann nannte sie wegen ihrer nachgebenden, federnden Wurzeln bloß Totsteller. In einem Sturm fielen sie einfach zu Boden und blieben dort liegen. Danach sprangen sie wieder auf, als wäre das eine grobe Geste gegen den Wind.
Lifts Sprint schreckte eine Gruppe von Axthirschen auf, die in der Nähe gegrast hatten. Diese schlanken Kreaturen sprangen auf vier Beinen aus dem Weg und hatten dabei die beiden Vorderklauen dicht an den Körper gelegt. Diese Tierchen waren besonders lecker. Und sie hatten kaum eine richtige Schale. Aber Lift war diesmal nicht in der Stimmung für eine Mahlzeit.
Sie war auf der Flucht.
»Herrin!«, rief Wyndel, ihr Bringer der Leere – oder eher ihr Haustierchen. Er nahm die Form einer Ranke an und wuchs so schnell neben ihr her, dass er mit ihr mithalten konnte. Im Augenblick hatte er kein Gesicht, aber er konnte sprechen. Leider.
»Herrin«, bettelte er. »Könnten wir bitte einfach zurückgehen?«
Nö.
Lift wurde großartig. Dazu zog sie etwas aus dem Zeug in ihrem Innern – aus dem Zeug, das sie zum Glühen brachte. Sie machte die Sohlen ihrer Füße damit glatt und rutschte noch schneller voran.
Plötzlich rieb sich der Boden nicht mehr gegen sie. Sie glitt wie auf Eis dahin und peitschte durch die Felder. Überall um sie herum zuckte das Gras, rollte sich auf und duckte sich in die Steinfurchen. Es sah aus, als würde es sich in einer Welle vor Lift verneigen.
Sie flitzte dahin, der Wind schob ihre langen schwarzen Haare zurück und zupfte an dem flatternden Hemd, das sie über dem engeren braunen Unterhemd trug und das wiederum in ihre locker sitzende Hose gesteckt war.
Sie glitt dahin und fühlte sich frei. Nur sie und der Wind. Ein kleines Windsprengsel folgte ihr – ein weißes Band in der Luft.
Dann prallte sie gegen einen Felsen.
Dieser dämliche Fels war ihr nicht ausgewichen. Er wurde von kleinen Moosbüscheln festgehalten, die auf dem Boden wuchsen und sich an solche Dinge wie Steine klammerten, die sie als Schutz gegen den Wind nutzten. In Lifts Fuß blitzte der Schmerz auf, und sie taumelte durch die Luft und schlug mit dem Gesicht voran auf den steinigen Boden.
In einem Reflex ließ sie ihr Gesicht großartig werden – und so rutschte sie einfach weiter, glitt auf ihrem Gesicht dahin, bis sie gegen einen Baum stieß. Nun endlich hielt sie inne.
Der Baum kippte langsam und stellte sich tot. Mit einem zitternden Rascheln der Blätter und Zweige fiel er zu Boden.
Lift setzte sich auf und rieb sich das Gesicht. Sie hatte eine Schnittwunde am Fuß davongetragen, aber ihre Großartigkeit zog den Spalt im Fleisch zusammen und heilte ihn rasch. Ihr Gesicht schmerzte nicht einmal stark. Wenn ein Teil von ihr dermaßen großartig war, dann rieb er sich nicht an dem, was er berührte, sondern … glitt bloß darüber hinweg.
Dennoch kam sie sich dumm vor.
»Herrin«, sagte Wyndel und rollte sich neben ihr auf. Seine Ranke sah aus wie die, mit denen die Leute ihre Hauswände bedeckten, wenn diese nicht elegant genug wirkten. Aber entlang seiner Ranke wuchsen überall kleine Kristalle. Sie wirkten ziemlich fehl am Platze – wie Zehennägel in einem Gesicht.
Wenn er sich bewegte, schlängelte er sich nicht wie ein Aal. Er wuchs wirklich und ließ eine lange Spur aus Ranken hinter sich, die bald kristallisierten, vermoderten und sich zu Staub auflösten. Die Bringer der Leere waren schon ziemlich seltsam.
Er wand sich in einem Kreis um sich selbst, wie ein Seil, das aufgerollt wurde, und bildete einen kleinen Turm aus Ranken. Und dann wuchs etwas aus der Spitze hervor – ein Gesicht, geformt aus Ranken, Blättern und Edelsteinen. Der Mund bewegte sich, als er sprach.
»Oh, Herrin«, sagte er. »Könnten wir bitte damit aufhören, hier draußen zu spielen? Wir müssen nach Azimir zurück!«
»Zurück?« Lift stand auf. »Wir sind doch gerade erst von dort geflohen!«
»Geflohen! Aus dem Palast? Herrin, du bist Ehrengast des Kaisers gewesen! Du hattest alles, was du wolltest: Essen und …«
»Alles Lügen«, verkündete sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Damit ich die Wahrheit nicht bemerke. Sie wollten mich essen.«
Wyndel geriet ins Stammeln. Für einen Bringer der Leere wirkte er nicht sonderlich furchterregend. Er musste … unter seinesgleichen musste er wie derjenige gewesen sein, den alle verspotten, weil er einen dummen Hut trägt. Sicherlich hatte er die anderen stets verbessert und ihnen erklärt, welche Gabel sie zu benutzen hatten, wenn sie sich zu Tisch setzten und menschliche Seele verspeisten.
»Herrin!«, sagte Wyndel. »Menschen essen keine anderen Menschen. Du bist ein Gast gewesen!«
»Ja, aber warum? Sie haben mir zu viel zu essen gegeben.«
»Du hast dem König das Leben gerettet!«
»Das hätte doch ausreichen müssen, um dort ein paar Tage zu schmarotzen«, sagte sie. »Ich habe einmal einen Kerl aus dem Gefängnis geholt, und er hat mir fünf ganze kostenlose Tage in seiner Höhle geschenkt, und dazu noch ein hübsches Taschentuch. Das war großzügig. Aber die Azisch hatten mir erlaubt, so lange bei ihnen zu bleiben, wie es mit passt.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollten etwas von mir. Das ist die einzige Erklärung. Sie wollten mich essen.«
»Aber …«
Lift rannte wieder los. Der kalte Stein, der von Grasbüscheln durchsetzt war, fühlte sich unter ihren Zehen und Füßen gut an. Keine Schuhe. Wozu waren Schuhe gut? Im Palast hatten sie ihr einen ganzen Haufen von Schuhen angeboten. Und dazu auch hübsche Kleidung – weite, bequeme Umhänge und Roben. Kleidungsstücke, in denen man verloren gehen konnte. Lieber hätte sie bloß etwas Weiches getragen.
Und dann hatten sie Fragen gestellt. Warum nahm sie nicht ein paar Unterrichtsstunden und lernte lesen? Sie waren dankbar für das, was sie für Gawx getan hatte, der nun der Prim Aquasix war – ein hübscher Titel für ihren Anführer. Wegen dem, was sie geleistet hatte, durfte sie sich Lehrer aussuchen, hatten sie gesagt. Sie konnte lernen, die Kleidung in der richtigen Weise zu tragen; und außerdem konnte sie das Schreiben erlernen.
Es hatte angefangen, sie aufzufressen. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis sie nicht mehr Lift gewesen wäre, wenn sie geblieben wäre? Wie lange, bis sie ganz aufgesaugt worden wäre und ein fremdes Mädchen ihre Stelle eingenommen hätte? Gleiches Gesicht, aber doch jemand ganz anderes?
Sie versuchte wieder ihre Großartigkeit einzusetzen. Im Palast hatten sie davon gesprochen, die alten Mächte wiederzubeleben. Die Strahlenden Ritter. Das Wogenbinden. Die natürlichen Kräfte.
Ich werde mich an all jene erinnern, die vergessen wurden.
Lift machte sich mit ihrer ganzen Kraft vollkommen glatt, rutschte einige Fuß über den Boden, kippte um und rollte durch das Gras.
Sie schlug mit der Faust auf die Steine ein. Dummer Boden. Dumme Großartigkeit. Wie sollte sie denn auf den Beinen bleiben, wenn ihre Füße so schlüpfrig waren, als hätte jemand sie mit Öl eingepinselt? Sie sollte einfach wieder auf ihren Knien rutschen. Das war so viel leichter. Auf diese Weise konnte sie balancieren und ihre Hände zum Steuern verwenden. Wie eine kleine Krabbe, die hierhin und dorthin huschte.
Sie waren anmutige Schöpfungen der Schönheit, hatte Finsternis gesagt. Sie konnten auf dem dünnsten Seil dahinreiten, über die Dächer tanzen und wie ein Band im Wind auf dem Schlachtfeld umhertoben …
Das Geschöpf namens Finsternis, der Schatten eines Mannes, der sie einmal gejagt hatte, hatte diese Worte im Palast gesprochen und von jenen geredet, die – vor langer Zeit – Kräfte wie die von Lift benutzt hatten. Vielleicht hatte er auch gelogen … schließlich hatte er sie umbringen wollen.
Aber warum hätte er lügen sollen? Er hatte sie mit Spott behandelt, als wäre sie ein Nichts. Wertlos.
Sie reckte das Kinn vor und stand auf. Wyndel redete noch immer, aber sie beachtete ihn nicht, sondern rannte so schnell, wie sie es vermochte, über das verlassene Feld und schreckte dabei das Gras auf. Sie erreichte die Spitze eines kleinen Hügels, sprang in die Luft und überzog ihre Füße mit der Kraft.
Sofort geriet sie ins Rutschen. Die Luft. Die Luft, gegen die sie drückte, wenn sie sich bewegte, hielt sie zurück. Lift zischte und bestrich dann ihr ganzes Selbst mit der Kraft. Sie schnitt wie ein Messer durch den Wind und drehte sich seitwärts, während sie den Hang hinabschlitterte. Die Luft rutschte von ihr ab, als könnte sie Lift nicht zu fassen bekommen. Sogar das Sonnenlicht schien auf ihrer Haut zu schmelzen. Sie befand sich zwischen den Orten, war hier und doch nicht hier. Keine Luft, kein Boden. Nur die reine Bewegung, und zwar so schnell, dass Lift das Gras erreichte, bevor sich dieses vor ihr zurückziehen konnte. Es umschwamm sie geradezu und wurde durch ihre Kraft beiseitegedrückt.
Ihre Haut glühte; Ranken aus rauchigem Licht stiegen von ihr auf. Lachend erreichte sie den Fuß des kleinen...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2019 |
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Reihe/Serie | Die Sturmlicht-Chroniken | Die Sturmlicht-Chroniken |
Übersetzer | Michael Siefener |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Edgedancer |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Alethkar • eBooks • epische Schlachten • Fantasy • Fantasy-Epos • High Fantasy • Magie • Parshendi • Roschar • Strahlende Ritter |
ISBN-10 | 3-641-18770-2 / 3641187702 |
ISBN-13 | 978-3-641-18770-5 / 9783641187705 |
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