Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen (eBook)

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2019 | 1. Auflage
128 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25350-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen -  Paolo Cognetti
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Auf der Suche nach Ruhe und Kraft - eine Reise durch die einsame Bergwelt des Himalaja
Paolo Cognetti nimmt uns mit auf eine atemberaubende Reise in die Ferne, die uns zu uns selbst zurückführt. Schon als Junge träumte er von den kargen Bergen Nepals, nun endlich macht er sich mit seinen zwei engsten Freunden auf den Weg. Sie überqueren 5000er Pässe, kommen an Herden von Blauschafen vorbei, an buddhistischen Klöstern, dem einsamen Hochland immer weiter entgegen. Doch nicht die entlegene Himalaja-Region Dolpo ist Cognettis eigentliches Ziel, auch der Gipfel des Kristallbergs nicht, sondern das Gehen ist seine Mission, sein Zeit- und Raummaß, seine Art zu denken. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug schärft sich die Wahrnehmung für das Hier und Jetzt, für das, was wesentlich ist: Verbundenheit, Mitgefühl und Verantwortung.

Der Penguin Verlag dankt dem italienischen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und internationale Kooperation für die großzügige Förderung der Übersetzung dieses Buchs.

Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo alla traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt seine Zeit am liebsten im Hochgebirge, und seine Erlebnisse in der kargen Bergwelt inspirieren den Mathematiker und Filmemacher zum Schreiben. Für seinen internationalen Bestseller »Acht Berge« , der ins Aostatal führt, erhielt er u. a. den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. »Das Glück des Wolfes« ist sein neuester Roman, der erneut in über 20 Ländern erscheint.

Kapitel 1

Den Fluss entlang

In dem kleinen Flugzeug nach Norden fiel mir beim Anblick des aus dichten Tropenwolken hervorragenden Himalaja ein Buch wieder ein, das ich einst an einem Fiebertag von meinem Vater bekommen hatte – ich dürfte damals ungefähr neun gewesen sein. Es hieß Die schönsten Gipfel der Welt und hatte den Monte Rosa auf dem Umschlag, der für mich damals mein Ein und Alles war. Ich hatte bereits eine kleine Kostprobe von Fels und Eis bekommen, allerdings im Sommer. Im Winter waren die Berge bloß noch eine ferne Erinnerung, weshalb ich viele Stunden mit diesem Bildband im Bett verbrachte, um mich von meiner Grippe und der Sehnsucht nach ihnen zu erholen. Ich betrachtete die Umrisse des Everest, des K2, des Nanga Parbat, las von den Männern, die sie erklommen hatten, und lernte Namen und Höhenangaben auswendig – mit der Hartnäckigkeit eines Kindes, für das dieses Sich-Einprägen ein magischer Akt ist, weil es ihm vorgaukelt, so von den Dingen Besitz zu ergreifen. Damals träumte ich noch davon, Bergsteiger zu werden, las Messner und Bonatti, als wären sie Stevenson und Verne, während Tibet und Nepal sagenhafte Reiche, ja, Schatzinseln waren.

Noch dreißig Jahre später konnte ich den Dhaulagiri, den am westlichsten gelegenen Achttausender Nepals, anhand seiner Umrisse identifizieren. Das kleine Flugzeug ging tiefer, streifte die von der Sonne beschienenen Wolken und ließ ihn ostwärts liegen. Weitere dunkle Gipfel tauchten vor uns auf, eine Gebirgskette auf fünftausend Metern Höhe: Wie erhofft, blieb der Nebel an dieser Wand hängen. Dann entdeckte ich unter den Propellern nach und nach schmale Grate, Schluchten, die in morgendliches Dunkel abfielen, und Schotterrinnen, die Steinlawinen zur Regenzeit gegraben hatten. Ich warf einen Blick auf Remigio, der am Fenster klebte, und glaubte zu wissen, wonach er suchte: nach einer Landschaft, die er lesen konnte, nach einer Schrift, die ihm vertraut war.

Seit ich in den Bergen lebte, interessierten mich Täler mehr als Gipfel und Bergbewohner mehr als Bergsteiger. Mir gefiel die Vorstellung von einem einzigen großen Hochgebirgsvolk auf der Welt, aber das war nur so eine romantische Idee. In den Alpen waren wir mittlerweile Bewohner einer gigantischen europäischen Riesenmetropole beziehungsweise ihrer bewaldeten Peripherie. Wir lebten, arbeiteten, reisten und unterhielten Beziehungen wie Städter. Bergbewohner – gab es die überhaupt noch? Gab es noch irgendwo authentische Berge, unberührt vom Kolonialismus der Stadt, unversehrt in ihrem Berg-Sein? Mit diesen Fragen war ich vor wenigen Jahren nach Nepal geflogen und hatte die beliebtesten Gebiete bereist – nur um festzustellen, dass die Moderne mittlerweile auch den Himalaja beglückte: mit Straßen, Motoren, Telefonen, elektrischem Strom, Industriegütern und gepriesenen Wohlstandssegnungen im Tausch gegen eine uralte, genügsame Kultur, die genauso dem Untergang geweiht war wie die alpenländische. Ich musste weitersuchen, weiter in die Ferne ziehen.

Der Pilot, dessen Handgriffe ich genau im Auge behielt, drehte behutsam ab und folgte den Windungen eines sonnenbeschienenen Tals. Er steuerte eine kurze Schotterpiste an – nur wenige hundert Meter auf halber Höhe eines Hangs – und begann mit dem Landeanflug. Er setzte auf und bremste energisch zwischen den Häusern von Juphal, dem Ausgangspunkt unserer langen Tour nach Norden: niedrige Steinhütten, umgeben von Terrassenfeldern. Die Ernte war in dieser Region so gut wie eingeholt. An mir klebte der Schweiß eines schwülen Tropenvormittags, doch als ich die Flugzeugtreppe hinunterstieg, roch ich sofort die klare Bergluft. Ich hatte gerade noch Zeit, nach meinem Rucksack zu greifen, als das zweimotorige Flugzeug auch schon wieder abhob.

Sete war siebenundvierzig und ein Tamang aus Ostnepal – breite Wangenknochen, schmale Augen, dunkler Teint. Schon von klein auf war er es gewohnt, sich den Tragekorb umzuhängen. Nachdem er Koch und Hochgebirgsträger geworden war und als solcher den Everest, den Makalu, den Cho Oyu, den Dhaulagiri und den Shishapangma bestiegen hatte, war auch er mit zunehmendem Alter ins Tal zurückgekehrt. Jetzt arbeitete er sommers wie winters auf den Hütten des Monte Rosa, um im Herbst Expeditionen wie die unsere zu leiten. Er sprach Italienisch und lachte viel. Ich fragte mich, ob diese Fröhlichkeit angeboren oder antrainiert war, um direkten Fragen auszuweichen. In Juphal stellte er seit einigen Tagen die Truppe zusammen, die aus ihm, seinem Bruder, fünf für Zeltlager und Küche zuständigen jungen Männern bestand sowie aus weiteren fünf, die mit den Tieren und dem Transport betraut werden würden. Hinzu kamen fünfundzwanzig Maultiere, die alles tragen sollten, was wir auf unserer knapp einmonatigen Trekkingtour brauchen würden. Und dann noch wir zehn aus den Alpen, sodass sich – Tiere und Menschen zusammengerechnet – die stolze Zahl von siebenundvierzig ergab. Zelte, Ausrüstung, Lebensmittel, Kochbenzin, Maultierfutter und Privatgepäck wurden auf den Packsätteln verstaut. Das Einzige, was wir nicht mitnahmen, war Wasser. Allabendlich einen Bach und einen Zeltplatz zu finden, war Setes Aufgabe, der noch nie zuvor im Dolpo gewesen war. Da er unseren Karten misstraute, erkundigte er sich lieber bei vorbeikommenden Maultiertreibern und Bauern nach dem Weg. In Juphal war es warm, und ich wusste nicht recht, was ich im Rucksack bei mir tragen und was ich aufs Maultier packen lassen sollte. Daher fragte ich Sete, ab wann wir dickere Kleidung benötigen würden.

»Weiter oben.«

»Was genau meinst du mit oben

Er zeigte fahrig auf die ausgebreitete Karte, auf einen ypsilonförmigen Fleck, den großen Phoksundo-See, der zwischen zwei Tälern liegt.

»Und wie lange brauchen wir bis dorthin?«

»Vier Tage möglicherweise.«

»Möglicherweise?«

Ich schaute nach, auf welcher Höhe der See lag: auf dreitausendsechshundert Metern. Auf zweitausendfünfhundert Metern, wo wir uns gerade befanden, wuchs Mais. Während wir von Juphal aus zur Talsohle hinabstiegen, kamen wir an Reisfeldern, mit Gerste und Hirse bebauten Terrassen und üppigen Gemüsebeeten vorbei. Die Häuser hatten Flachdächer aus festgestampfter Erde. Darauf wurden Heu und Chilischoten getrocknet. Das Dorfleben schien sich überwiegend dort oben abzuspielen, vor allem das der Frauen: Die jungen droschen Gerste mit langen Stöcken, die alten siebten sie im Wind, der die Spelzen forttrug. Unten wusch sich ein Mädchen mit Kernseife die Haare in einem Steinbecken. Längliche gelbe Kürbisse, seltsame Erbsen mit dornigen Schoten, ja, sogar Tomatenrispen gediehen an diesem baumlosen Hang, wo nur die Himalaja-Zeder, ein afrikanisch aussehender Nadelbaum, zwischen den Gemüsebeeten Schatten spendete.

Während ich mich umsah, musste ich an die von Unkraut überwucherten Terrassen, die eingestürzten Trockenmauern und von Wald verschluckten Bewässerungskanäle denken, denen ich in den Alpen regelmäßig begegnete. Daran, dass unsere Berge bestimmt auch einmal so gepflegt gewesen waren, und ich fragte mich, wann man diese hier wohl sich selbst überlassen würde. War das da unten eine Straße? Ja, neben dem Fluss verlief eine Schotterstraße, und genau in dem Moment, in dem wir sie erreichten, überholte uns ein kleiner Lieferwagen. Noch vor wenigen Jahren habe hier nur ein Maultierpfad entlanggeführt, sagte man uns.

Bei dieser Nachricht tauschten Remigio und ich einen vielsagenden Blick. Er war in einem Dorf geboren, das bis zu den Siebzigerjahren nur zu Fuß erreichbar gewesen war. Dann war die Straße gebaut worden, und er hatte mit ansehen müssen, wie es sich im Lauf seines Lebens völlig entvölkerte. Einmal hatte er zu mir gesagt: »Wenn die Straße kommt, glaubt man jedes Mal, dass sie etwas bringen wird – nur um dann festzustellen, dass sie einem ausschließlich etwas nimmt.« Er beobachtete zwei Straßenarbeiter, die mit Schaufel und Hacke die Fahrbahn anlegten. Vermutlich sah er sich einer Szene aus seiner Kindheit gegenüber.

Unsere Reisegruppe wirbelte Staub auf, und die Kühle des Flusses da unten übte eine regelrechte Sogwirkung auf mich aus. Nachdem Sete verfügt hatte, wo das Lager aufgeschlagen werden sollte, war ich der Erste, der sich die Stiefel auszog und die Füße ins aufgewühlte Wasser des Bheri Khola tauchte. Er war eistrüb, metallgrau.

»Woher kommt dieses Wasser?«, fragte ich.

»Aus den Bergen.«

»Aus welchen Bergen? Vom Dhaulagiri?«

»Möglicherweise.«

Sete sagte möglicherweise statt vielleicht, was seinen Worten etwas seltsam Orakelhaftes verlieh.

Doch egal, aus welcher Quelle das Wasser stammte – ich hatte auf die Karte geschaut und wusste, worin es mündete: in die Karnali, einen Fluss, der in Tibet entspringt und nach siebenhundert Kilometern in den Ganges fließt. Dort, auf einem Felsblock zwischen Mücken und Farn, stellte ich mir vor, dass ich die Füße gerade ins Wasser des heiligen Flusses tauchte.

»Du warst schon mal da oben, stimmt’s?«

»Wo?«

»Auf dem Dhaulagiri.«

»Ja, das stimmt.«

»Und wie war das so, weißt du das noch?«

»Lang«, erwiderte Sete. Um dann im Küchenzelt zu verschwinden und Anweisungen fürs Abendessen zu geben.

Ich streckte mich aus, um mich von der Sonne trocknen zu lassen, und zog das Buch, das ich mitgenommen hatte, aus meinem Rucksack, Auf der Spur des Schneeleoparden von Peter Matthiessen. Es ist 1978 erschienen und steht noch heute in sämtlichen Buchhandlungen Kathmandus, wo die zerknautschten Taschenbücher in den Rucksäcken neuer Wanderer landen.

Auch dieses Buch hatte etwas mit meiner...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Übersetzer Christiane Burkhardt
Zusatzinfo Mit 12 s/w-Illustrationen des Autors im Innenteil
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Senza mai arrivare in cima
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Acht Berge • Achtsamkeit • Buddha • Buddhismus • Buddhistische Lebensphilosophie • eBooks • erling kagge • Himalaja • Jon Krakauer • Peter Matthiessen • Premio Strega • Reiseerzählung • Reisen • Spiegel-Besteller-Autor • Spiegel-Bestseller-Autor • Spirituelles Leben • Tibet / Nepal • Tiziano Terzani • Trekkingtour
ISBN-10 3-641-25350-0 / 3641253500
ISBN-13 978-3-641-25350-9 / 9783641253509
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