Abgeschlagen (eBook)
416 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45541-8 (ISBN)
Prof. Dr. Michael Tsokos, Jahrgang 1967, ist Professor für Rechtsmedizin und leitet das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Michael Tsokos ist der bekannteste deutsche Rechtsmediziner und regelmäßig als Experte im In- und Ausland tätig, beispielsweise für das BKA bei der Identifizierung der Opfer von Terrorangriffen und Massenkatastrophen. Seine bisherigen 26 Bücher waren allesamt SPIEGEL-Bestseller. Folgen Sie Michael Tsokos auf Instagram: @dr.tsokos
Prof. Dr. Michael Tsokos, Jahrgang 1967, ist Professor für Rechtsmedizin und leitet das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Michael Tsokos ist der bekannteste deutsche Rechtsmediziner und regelmäßig als Experte im In- und Ausland tätig, beispielsweise für das BKA bei der Identifizierung der Opfer von Terrorangriffen und Massenkatastrophen. Seine bisherigen 26 Bücher waren allesamt SPIEGEL-Bestseller. Folgen Sie Michael Tsokos auf Instagram: @dr.tsokos
10
7. Juni, 11.17 Uhr
Kiel. Landgericht, großer Saal
Der große Saal des Landgerichts Kiel roch an diesem Donnerstagmorgen so sauber wie an einem Montagmorgen. Doch wenn er es sich recht überlegte, roch er eigentlich immer wie an einem Montag – eine Mixtur aus seit Jahrzehnten penibel gewischtem Linoleum und ungleich abgestandener Luft.
Professor Doktor Volker Schneider betrat, nachdem er von dem walrossbärtigen Justizbeamten aufgerufen worden war, den Gerichtssaal und musterte durch seine randlose Brille die Pressevertreter in der ersten Reihe, von denen einige schon sicherheitshalber dabei waren, einen Artikel zu dem »Macheten-Prozess« vorzubereiten. Die Reporter und TV-Journalisten hatten ihre bei so großen Prozessen übliche Position eingenommen, einige von ihnen mit Kaffeebechern in den Händen. Das Zeug war wässrig und untrinkbar heiß, das wusste Schneider aus eigener leidvoller Erfahrung. Aber die Kantine im Souterrain des Gebäudes war nicht gerade ein Starbucks. Aber für ein paar gute Bilder vom »Flügelmacher« würde man auch eine verbrannte Zunge in Kauf nehmen. So hatte die Presse Achim Wittfeld bereits kurz nach seiner Festnahme getauft. Das Interesse der Medien hatte dann aber etwas abgenommen, als klar wurde, dass der »Flügelmacher« nicht, wie zuerst berichtet, im Namen Satans ein Blutopfer bringen wollte, dann jedoch von einem stadtbekannten Rocker daran gehindert worden war.
Schneider war ein schlanker Mann von dreiundfünfzig Jahren, seine weißblonden Haare trug er streng nach hinten gekämmt. Nie löste sich eine Strähne. Genauso selten kam es vor, dass er laut lachte. Ein Lächeln in seinem kantigen, fast knochigen Gesicht, in dessen Mitte eine prominente Hakennase thronte, zu erhaschen war eine Seltenheit. Mit seinen langen und sehnigen Gliedmaßen bewegte er sich nahezu raubtierhaft. Die Presse war fasziniert von dem knapp ein Meter neunzig großen Mann, der vor Gericht stets mit Fliege am Kragen eines akkurat gebügelten weißen Hemdes und in einem faltenfreien schwarzen Anzug erschien.
Schneider neigte dazu, jeden Raum, den er betrat, inklusive Gerichtssäle, zu seinem Eigentum zu erklären. Dabei blieb er stets kühl und distanziert. Doch er konnte auch anders. Nämlich dann, wenn er nicht wie ein Experte, oder vielmehr der Experte, behandelt wurde. Dann veränderte sich sein distanzierter Gesichtsausdruck – sein Blick wurde zu dem eines mächtigen Greifvogels, der bereit war, auch auf Löwen einzuhacken, wenn es denn nötig wurde.
Zunächst ließ er seinen Adlerblick durch den Gerichtssaal schweifen und scannte routiniert jeden einzelnen Anwesenden. Im Zuschauerraum hatte sich die übliche Publikumsmischung zu Prozessauftakten dieser Art eingefunden: schreibende Journalisten (Reihe eins). Jura-Studenten (Reihe zwei). Schaulustige, Verrückte und fernsehmüde Rentner (Reihe drei).
Schneider ging zielstrebig zum Zeugen- und Sachverständigentisch, der dem Vorsitzenden Richter und seinen Schöffen gegenüberlag. Im Saal war es still geworden. Für jeden hörbar zog Schneider den Stuhl, auf dem er Platz nehmen wollte, mit einem Quietschen über den Linoleumboden nach hinten.
»Guten Morgen, Herr Professor«, begrüßte der Vorsitzende Richter, ein junger Mann, der so aussah, als ob er eben erst sein Jurastudium abgeschlossen hatte, Schneider mit einem dankbaren Lächeln. Der Richter schien beruhigt zu sein, dass ein so erfahrener und anerkannter Gutachter nun die Sache aufklärte. Danach würden sich sicher nicht mehr allzu viele Fragen ergeben.
Schneider war sich mehr als bewusst, dass er als absolute Koryphäe auf dem Gebiet der Rechtsmedizin galt. Sie wussten, er war redegewandt, und waren von seiner bundesweit gefragten Kompetenz als Sachverständiger beeindruckt. Doch die Journalisten und Prozessbeteiligten wussten mittlerweile auch, dass sie ihm besser nicht zu nahe traten. Schneider freute sich innerlich, dass sich der junge Jurist entsprechend nervös mit der Hand durch seinen altmodischen Scheitel fuhr.
Er persönlich hatte Wittfeld noch in der Tatnacht auf dem Kieler Polizeipräsidium eine Blutprobe entnommen, um zu überprüfen, ob der Irre zum Zeitpunkt der Tat unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand. Einige Tage später hatte er dann Wittfelds Opfer in der Klinik auf die Lebensgefährlichkeit der Verletzungen hin und zur Frage, wie oft mit der Machete zugestochen worden war, untersucht.
Die für den geordneten Ablauf der Gerichtsverhandlung zuständigen Justizbeamten hatten wenige Minuten vor Prozessauftakt auf dem Gerichtsflur nachgeprüft, ob auch wirklich alle für den Verhandlungstag notwendigen Protagonisten anwesend waren: die Zeugen, die am Geschehensort zuerst eingetroffenen Polizeibeamten, der Notarzt, der Vater des Angeklagten, ein hoffnungsloser Trinker, und der Sicherheitsmann des Bordells, Miguel Sandero, ein szenebekannter Soldat der örtlichen Rockerarmee. Ihn hatten sie natürlich als Sachverständigen zuerst begrüßt.
Das Opfer, die Polin Ewa Barczak, sollte erst am Nachmittag aussagen. Ihr entstelltes Gesicht hatte mehrere umfangreiche operative Gesichtsrekonstruktionen notwendig gemacht, die allerdings für die junge Frau ästhetisch nicht unbedingt befriedigend verlaufen waren. Ihr rechter Arm, an dessen Hand seit dem Vorfall im Laufhaus drei Fingerendglieder fehlten, hatte aufgrund der Zertrümmerung ihres rechten Schultergelenks operativ versteift werden müssen, was zur Folge hatte, dass er jetzt wie ein widerspenstiger Ast von ihrem Körper abstand. Sie war physisch und psychisch kaum belastbar, und es war fraglich, inwieweit sie den Strapazen der Gerichtsverhandlung überhaupt würde standhalten können.
Schneiders Blick fiel fast beiläufig auf die Bank des Angeklagten, die sich nun links von ihm befand. Wittfeld trug Handschellen, die seine Handgelenke vor seinem Körper fixierten. Zwei Justizvollzugsbeamte flankierten den »Flügelmacher« und seinen Anwalt. Ein medienfreundlicher Pflichtverteidiger, der bekannt dafür war, mit schnellen Geständnissen und Reuebekundungen ein erträgliches Strafmaß für seine Mandanten auszuhandeln.
Die Zeit in der U-Haft hatte Wittfeld offenbar schwer zugesetzt. Der Drogenentzug hatte seine Spuren nicht nur in Form von tiefen Augenringen hinterlassen.
Der »Flügelmacher« schlief scheinbar nur wenig und wenn, dann nur mit medikamentöser Unterstützung. Aber nicht, weil ihn das schlechte Gewissen plagte. Es ist wohl eher eine Reaktion seines Körpers auf den fehlenden Stoff, stellte Schneider trocken für sich fest. Mit einem routinierten Blick bemerkte er, dass man Wittfeld die Haare abrasiert hatte, auf der Kopfhaut schimmerten wunde Stellen – vielleicht hatte er versucht, sie sich auszureißen. Schneider hatte sich über die Jahrzehnte hin angewöhnt, sich nicht mit menschlichen Gedanken und menschlicher Logik den Tätern und Opfern, die ihm begegneten, zu nähern. Nur so funktionierte der medizinische Hochleistungscomputer in seinem Gehirn fehlerfrei.
Er musste es auch nicht mit eigenen Augen gesehen haben, dass die Kameras der Pressevertreter heißgelaufen waren, als Wittfeld den Gerichtssaal betreten hatte. Die Blitzlichter hatten jeden Millimeter seiner fahlen Haut abgetastet, als sei es möglich, das Böse im Menschen durch besonders grelles Licht sichtbar zu machen.
Bereits im Vorfeld hatte Schneider erfahren, dass Wittfelds Anwalt ein umfassendes Geständnis angekündigt hatte. War ja auch nicht anders zu erwarten, war Schneiders Reaktion gewesen.
»Guten Morgen Hohes Gericht.« Schneider nickte in Richtung des Vorsitzenden Richters und blickte danach kurz nach links zum Strafverteidiger und nach rechts zum Staatsanwalt, dessen Hände siegessicher auf seiner Akte ruhten.
Der Staatsanwalt hatte eine simple, aber aussagekräftige Anklageschrift wegen versuchten Mordes verfasst. Die Tathandlung, so seine Argumentation, hatte sich nicht nur in einem Bordell abgespielt, was eine sexuelle Erregung des Angeklagten und die Tatausführung zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs vermuten ließ, sondern es war auch eine Zeichnung in Wittfelds Wohnung gefunden worden. Eine Kritzelei, die eine Frau ohne Arme zeigte, und der stattdessen Flügel aus dem Körper wuchsen.
Der Angeklagte schien die Tat folglich von langer Hand geplant zu haben und hatte dabei den Tod seines arglosen Opfers, das von dem Angriff völlig überrascht wurde, billigend in Kauf genommen. Neben einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren wollte der Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer beantragen, dass Wittfeld in eine Einrichtung des Maßregelvollzugs eingewiesen werden sollte, um dort zunächst therapiert zu werden, ehe er seine Freiheitsstrafe im regulären Vollzug antreten würde.
Durch das frühe Geständnis schien der gewiefte Strafverteidiger nun jedoch die Sache nicht nur abzukürzen, sondern ihm auch in die Parade fahren zu wollen.
Nachdem Schneider dem Gericht seine Personalien zu Protokoll gegeben hatte, leitete der Richter die Befragung des rechtsmedizinischen Sachverständigen ein, indem er kurz die wesentlichen Aspekte des bisherigen Prozessverlaufs an diesem Vormittag zusammenfasste: »Herr Professor, der Angeklagte hat durch seinen Verteidiger bereits umfänglich die Tat gestanden und bedauert diese sehr. Hier ist noch einmal hervorzuheben, dass er sich demnach von der Geschädigten bedroht fühlte und glaubte, Opfer eines Übergriffs zu werden. Die Wahrhaftigkeit dieser Aussage gilt es natürlich zu überprüfen. Fakt ist: Zum Tatzeitpunkt stand der Angeklagte unter dem Einfluss einer harten synthetischen Droge, das wissen wir aus dem toxikologischen Gutachten, das Bestandteil der Gerichtsakte ist. Aber nun sind wir auf Ihre Rekonstruktion der Ereignisse, die zu den schweren...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2019 |
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Reihe/Serie | Die Paul Herzfeld-Reihe | Die Paul Herzfeld-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Abgefackelt • Abgeschlagen • Abgeschnitten • als die Wirklichkeit • Bestseller • blutiger Krimi • blutige Thriller • deutsche Spannung • deutsche Thriller • echte Fälle • Echte Kriminalfälle • Fitzek Tsokos • Frauenleiche • Gerichtsmedizin • Gerichtsmediziner • Gerichtsmedizin Krimi • Gerichtsmedizin Thriller • harte thriller • Kiel • Kiel Krimi • Krimi-Bestseller • Kriminalfall • kriminalfälle deutschland • Leiche • Machete • Michael Tsokos • Michael Tsokos Bücher • nichts ist spannender • nichts ist spannender, als die Wirklichkeit • Obduktion • Pathologie • Paul Herzfeld • Professor Michael Tsokos • Psychothriller • Rechtsmediziner • sezieren • Seziertisch • spannende Bücher • Thriller • Thriller deutsche Autoren • Thriller Deutschland • Thriller Forensik • thriller reihe • Thriller-Reihe • Thriller-Serie • Toter • True Crime • True Crime Bücher • True Crime Bücher deutsch • True Crime deutsch • True-Crime-Podcast • True crime Thriller • True-Crime-Thriller • Tsokos • wahre Fälle • Wahre Verbrechen • zerstückelte Leiche |
ISBN-10 | 3-426-45541-2 / 3426455412 |
ISBN-13 | 978-3-426-45541-8 / 9783426455418 |
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