Briefe an Olga (eBook)

Betrachtungen aus dem Gefängnis
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2018 | 1. Auflage
330 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10988-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Briefe an Olga -  Václav Havel
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«Die besondere Bedeutung, die das Briefeschreiben für mich hat, hat mehrere Gründe: Vor allem vergegenwärtige ich mir dabei das Zuhause, Dich, meine Nächsten und überhaupt unsere Welt; es ist für mich hier die einzige Gelegenheit, etwas zu schreiben; es ist für mich die einzige Gelegenheit zu leidlicher intellektueller Selbstverwirklichung; manches wird mir erst beim Schreiben klar; es ist meine einzige Kommunikation mit Dir und unserer Welt.» Am 29. Mai 1979 wurde Václav Havel - zusammen mit weiteren Bürgerrechtlern - verhaftet und im Oktober desselben Jahres wegen «Gründung einer illegalen Vereinigung (Komitee für die Verteidigung zu Unrecht Verfolgter) und Aufrechterhaltung von Kontakten zu Emigrantenkreisen» zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Angebot, sein Land zu verlassen, lehnte Havel ab. Daraufhin wurden seine Haftbedingungen verschärft. In dieser Haftzeit entstanden die bewegenden «Briefe an Olga», seine Frau.

Geboren am 5. 10. 1936 in Prag. Wegen seiner Herkunft aus einer «bourgeoisen», nach dem kommunistischen Umsturz 1948 enteigneten Familie konnte Havel nur auf Umwegen Ober- und Hochschulbildung erlangen. 1951 Lehre als Chemielaborant. 1954 Abitur an einer Abendschule. 1955 debütierte er mit Kritiken in der Zeitschrift «Kveten» (Mai), später publizierte er in allen wichtigen tschechischen Literaturzeitschriften. 1959 schrieb er sein erstes Stück, den Einakter «Rodinný vecer» (Familienabend). Nach der sowjetischen Okkupation widersetzte er sich der neostalinistischen Gleichschaltung, bekam Publikationsverbot, wurde wegen der Beteiligung an zahlreichen Protestaktionen schikaniert, geheimpolizeilich observiert und schließlich 1977, als Mitbegründer und Sprecher der Charta 77, zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Danach Hausarrest aufgrund fortgesetzter Aktivitäten als Bürgerrechtler (Gründung des «Komitees für die Verteidigung zu Unrecht Verfolgter» und Veröffentlichungen im Ausland. 1979 Verurteilung zu viereinhalb Jahren Haft, von der ihm nur die letzten Monate wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung erlassen wurden. Weil er im Januar 1989 eine Gedenkveranstaltung für Jan Palach mitorganisierte, der sich 1969 aus Protest gegen die Okkupation des Landes selbst verbrannt hatte, wurde Havel erneut festgenommen und zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt; nach weltweiten Protesten Entlassung im Mai. Am 29. 12. 1989 Wahl zum Präsidenten der CSFR. Auszeichnungen: Österreichischer Staatspreis für europäische Literatur (1969); Ehrenpreis der Société des Auteurs, Frankreich (1981); Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1989); Simon-Bolivar-Preis, Venezuela (1990); Rotary-Preis, USA (1990); «Olof-Palme-Preis für öffentliche Verdienste», Schweden (1990); Internationaler Karlspreis der Stadt Aachen (1991). Verstorben 2011 in Hrádecek, Tschechien.

Geboren am 5. 10. 1936 in Prag. Wegen seiner Herkunft aus einer «bourgeoisen», nach dem kommunistischen Umsturz 1948 enteigneten Familie konnte Havel nur auf Umwegen Ober- und Hochschulbildung erlangen. 1951 Lehre als Chemielaborant. 1954 Abitur an einer Abendschule. 1955 debütierte er mit Kritiken in der Zeitschrift «Kveten» (Mai), später publizierte er in allen wichtigen tschechischen Literaturzeitschriften. 1959 schrieb er sein erstes Stück, den Einakter «Rodinný vecer» (Familienabend). Nach der sowjetischen Okkupation widersetzte er sich der neostalinistischen Gleichschaltung, bekam Publikationsverbot, wurde wegen der Beteiligung an zahlreichen Protestaktionen schikaniert, geheimpolizeilich observiert und schließlich 1977, als Mitbegründer und Sprecher der Charta 77, zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Danach Hausarrest aufgrund fortgesetzter Aktivitäten als Bürgerrechtler (Gründung des «Komitees für die Verteidigung zu Unrecht Verfolgter» und Veröffentlichungen im Ausland. 1979 Verurteilung zu viereinhalb Jahren Haft, von der ihm nur die letzten Monate wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung erlassen wurden. Weil er im Januar 1989 eine Gedenkveranstaltung für Jan Palach mitorganisierte, der sich 1969 aus Protest gegen die Okkupation des Landes selbst verbrannt hatte, wurde Havel erneut festgenommen und zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt; nach weltweiten Protesten Entlassung im Mai. Am 29. 12. 1989 Wahl zum Präsidenten der CSFR. Auszeichnungen: Österreichischer Staatspreis für europäische Literatur (1969); Ehrenpreis der Société des Auteurs, Frankreich (1981); Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1989); Simon-Bolivar-Preis, Venezuela (1990); Rotary-Preis, USA (1990); «Olof-Palme-Preis für öffentliche Verdienste», Schweden (1990); Internationaler Karlspreis der Stadt Aachen (1991). Verstorben 2011 in Hrádecek, Tschechien.

13. Brief


Liebe Olga,

Samstag, den 3. November 1979

 

ich lebe immer noch von Deinem gestrigen Besuch, der für mich – wie üblich – eine Art Doping war bzw. ein «Schuß», wie im Gefängnis gesagt wird. Ich habe das Gefühl, daß ich Dir diesmal ein wenig zerstreut vorgekommen sein muß, vielleicht sogar seltsam. Aber wenn die hier so aus heiterem Himmel in dieses Loch kommen und einen für eine halbe Stunde wieder in seine Welt hinausziehen, dann ist man davon notwendigerweise ein bißchen verschreckt und nicht ganz in seiner Haut. Allerdings nur äußerlich – vom Gesichtspunkt des wirklichen Zustands der Seele aus bedeutet das gar nichts. Alles, was Du gesagt hast, habe ich wohl gehört, alles hat mich interessiert, alles habe ich mir gemerkt und nachträglich im Geiste rekapituliert und analysiert. Und über alle guten Nachrichten habe ich mich, wie es sich gehört, gefreut. Sollte es Dir also vorgekommen sein, als sei mir alles mögliche gleichgültig, so war das eine nur scheinbare Gleichgültigkeit, die zum Teil von meiner äußeren Nervosität stammte, zum Teil aus dem Bemühen kam, nicht alles offen zu zeigen.

In Deinem Brief war eine kleinere Predigt, aus der hervorging, daß Du das Gefühl hattest, als ob ich meine Entscheidung bezüglich der USA bedaure und mich «wieder» in irgendwelche unpassenden Spekulationen verwickelt hätte. Das war ein Mißverständnis. Entstanden wohl, weil Du meine ein wenig verworrene Sprache, die von dem Bemühen um andeutungsweise Redeweise stammte, wohl nicht verstanden hast. Ich habe das in einer Situation geschrieben, in der ich mir einbilden konnte, die ganze Sache mit den USA falsch verstanden zu haben, und daß ich de facto nicht vor einer wirklichen Entscheidung stand, sondern daß es eher um so etwas wie ein «Spiel» ging und ich als ein Blödian dastand, dem das nicht aufging. Sehr bald nach diesem Brief jedoch erkannte ich, daß mein Eindruck von einem «Spiel» ein völliger Irrtum war und daß ich im Gegenteil die ganze Sache gleich von Anfang an genau richtig verstanden hatte. Alle weiteren Ereignisse haben mich darin nur bestätigt. Hätte ich gewußt, daß Du daraus so weitreichende Schlüsse ziehst, dann hätte ich Dir gar nicht davon geschrieben. So hast Du mich also wirklich unnötigerweise gerüffelt. Bei Deinem gestrigen Besuch hast Du die Frage gestellt, ob diese Möglichkeit – wenn sie sich erneut ergäbe – nicht doch erwägenswert wäre. Das hat mich ein wenig überrascht. Was hat sich gegenüber Anfang September verändert? Daß ich einige Jahre Gefängnis vor mir habe? Das wußten wir doch damals schon! Und wenn es keine ganz einfache Entscheidung war, dann ausschließlich deshalb. Trotzdem haben wir uns spontan entschlossen (unabhängig voneinander waren wir derselben Meinung!), und ich sehe keine Gründe, warum wir unsere Entscheidung auf einmal ändern sollten.

Und jetzt zu meiner Verurteilung: ich war innerlich darauf vorbereitet, so daß mich das in keiner Weise getroffen hat. Trotzdem hat sich meine Verfassung nach dem Prozeß ziemlich verändert: die letzten Reste der Nervosität sind verschwunden (was begreiflich ist, denn nervös ist der Mensch aus Ungewißheit, nicht aus Gewißheit); es bemächtigte sich meiner eine große Unlust, an unseren Fall zu denken und sich mit ihm zu beschäftigen, und im ganzen fiel ich in eine Art ziemlich tiefen Dämmerzustand; es machte mir keinen Spaß, Gymnastik zu treiben, abzunehmen, zu lernen, über das Stück nachzudenken – es schien mir auf einmal, daß all diese kleinen Bemühungen irgendwie ihren Sinn verloren hätten. Ich verfiel weder in Depressionen noch in Hoffnungslosigkeit, sondern bloß in Passivität und Apathie. Einen gewissen Bruch bedeutete die Verurteilung also doch, ich befand mich in einer radikal neuen existentiellen Situation, in der ich mich erst einrichten mußte. Das heißt, für sich selbst eine völlig neue Struktur der Werte zu finden und für alles eine neue Perspektive, andere Hoffnungen, andere Ziele, andere Interessen, andere Freuden; sich eine neue Auffassung der Zeit zu schaffen und überhaupt eine neue Konzeption des Lebens.

Ich bin zu viereinhalb Jahren verurteilt worden. Wenn mir meine Bewährung dazugerechnet wird, womit man rechnen muß, dann bedeutet das, daß ich bis auf eine Woche 64 Monate im Gefängnis sein soll, d.h. bis zum 22. September 1984. Es kann geschehen, daß man mich früher entläßt, aber damit dürfen wir nicht rechnen oder uns daran klammern. Anfang Dezember werde ich erst ein Zehntel der Strafe hinter mir haben.

Wenn ich über diese meine verhältnismäßig hohe Strafe nachdenke, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß es in Wirklichkeit eine Strafe für alles ist, was ich in den letzten Jahren getan habe (auch wenn das im Urteil nicht gesagt wird). Was mich zwingt, mir selbst die Frage zu stellen, ob ich irgendwelche Fehler begangen oder etwas schlecht gemacht habe. Grundsätzlich meine ich nicht. Einigen könnte es vielleicht vorkommen, daß ich in manches zu viel investiert habe, daß ich nicht genügend innere Reserven hatte und daß ich nicht vorsichtig genug war. Das ist möglich, und wäre das nicht so gewesen, wäre es mit mir vielleicht nicht so ausgegangen. Nur daß man seinen Charakter nicht ändert; ich bin eben so, wenn ich etwas anfange, dann muß ich das mit vollen Kräften tun, ohne Hintertürchen. Dazu kam jedoch in diesem Falle – in den letzten zwei Jahren – noch ein anderes Motiv: nach meiner Rückkehr aus dem Gefängnis im Jahre 1977 war ich durch die Art, wie damals alles zusammenkam, so unglücklich, ja sogar verzweifelt, daß mir alles gleichgültig war und es mir nur um eines ging: zu zeigen, daß ich nicht meiner Bequemlichkeit den Vorzug gegeben hatte. Vielleicht hat das dazu geführt, daß ich manchmal exaltiert und krampfhaft war, zu einigen Dingen die gesunde Distanz verlor und mich allzusehr in sie versenkte. (Du selbst hast mir das nicht nur einmal angedeutet.) Vielleicht habe ich mir wirklich ein wenig «das Leben genommen», wie jemand über mich geschrieben hat. Es war keine gute Situation und konnte so nicht weitergehen.

Ich schreibe darüber, weil ich mich – wie schon gesagt – in einer neuen Situation einrichte und eine der Aufgaben, die ich meinem langen Gefängnisaufenthalt geben will, eine Art «Selbstkonsolidierung» ist. Als ich begann, Schauspiele zu schreiben, war ich innerlich nicht so beschwert wie in den letzten Jahren, ich hatte viel mehr eine gewisse «jungenhafte» Phantasie, ich war innerlich weit ausgeglichener – und hatte dabei irgendwie mehr innere harmonische Gewißheit – die ständige Problematisierung seiner selbst ist die andere Seite der Münze «Verbissenheit». Nun ja, das alles möchte ich gern wieder in mir erneuern. Wahrscheinlich kommt es Dir seltsam vor, daß mir zu dieser Selbstrekonstruktion gerade der Kerker dienen soll, aber ich habe tatsächlich so ein Gefühl, daß ich mich – für längere Zeit aus allen Bindungen herausgerissen, mit denen ich mich selbst gefesselt habe – innerlich befreien und neue Souveränität gewinnen könnte. Es geht hier nicht um eine Revision dessen, was ich über die Welt denke, sondern im Gegenteil um eine bessere Erfüllung der Ansprüche, die die Welt – so, wie ich sie sehe – an mich stellt. Ich will mich nicht ändern, sondern besser ich selbst sein. (Ein wenig erinnert das an die Hoffnungen, mit denen die Helden Dostojewskis in das Gefängnis gehen – bei mir ist das aber weder so pathetisch noch so absurd, noch so religiös). Ich möchte mit achtundvierzig Jahren nicht als ein galliger Alter zurückkommen, zu dem ich in der letzten Zeit ein wenig geworden bin, sondern eher als der fröhliche Junge, der ich einst war. Vielleicht sind das Illusionen, aber über welche meiner Pläne für die nächsten fünf Jahre ich auch nachdenke, immer komme ich schließlich auf diese Angelegenheit zurück als auf die Hauptaufgabe, die alles andere vorbestimmt. Und es scheint mir auch, soll ein Mensch meines Typs aushalten, dann geht das nicht anders, als daß er dem einen eigenen Sinn gibt.

Solltest Du mir in diesem Augenblick vorwerfen, daß ich in diesem Brief wieder «zu aufrichtig» bin, dann muß ich Dir sagen, daß es mir völlig gleichgültig ist, daß das jemand liest. Ich halte es für wichtig, daß Du meine Denkweise siehst – ich brauche Kommunikation – und möchte nicht, daß wir bloß aus Stolz auf unsere Privatsphäre aufhören, uns zu verstehen. Du bist in diesen Dingen grundsätzlicher als ich, das ist wahr, aber in diesem Fall scheint mir Offenheit lebenswichtig zu sein.

Nun ja, ich höre schon auf, mich mit mir selbst zu beschäftigen, und werde versuchen, ein wenig darüber nachzudenken, was auf Dich zukommt …

Wir haben schon einiges überlebt, wir werden auch das überleben! Wir werden jeder sein eigenes Bündel Sorgen haben, und jeder wird mit ihnen auf seine Weise fertig werden müssen. Und gegenseitig müssen wir uns hauptsächlich aufmuntern, nicht deprimieren. Ich unterschätze Deine Sorgen überhaupt nicht, in mancherlei Hinsicht wirst im Gegenteil Du es schwerer haben als ich. Ich habe mir überlegt, wie Du dem – nach meiner Vorstellung – entgegentreten solltest.

***

Montag, den 5. November 1979

 

Heute hatte ich einen guten Tag: ich habe gebadet, wunderbar Yoga gemacht, gesunde Sachen gegessen (Dein Verdienst), hatte gute Laune (der Ansturm der Vitamine hatte darauf sicherlich Einfluß). Die Zeit des Dämmerzustands scheine ich definitiv hinter mir zu haben. Grüße alle...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2018
Mitarbeit Anpassung von: Jirí Gruša
Übersetzer Joachim Bruss
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Freiheitsentzug • Gerichtsverhandlung • Ostblock • Strafverfolgung
ISBN-10 3-688-10988-0 / 3688109880
ISBN-13 978-3-688-10988-3 / 9783688109883
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