Neue Schweizer Standpunkte -

Neue Schweizer Standpunkte (eBook)

Im Dialog mit Carl Spitteler

Camille Luscher (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
140 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-85869-833-9 (ISBN)
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'Ohne Zweifel wäre es nun für uns Neutrale das einzig Richtige, nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten', schreibt Carl Spitteler 1914 in seiner Rede 'Unser Schweizer Standpunkt'. Doch was heißt das schon: die nämliche Distanz. Soll man sich also nicht einmischen? Oder bietet gerade die Neutralität eine Chance, sich zu engagieren? Aktiv zu werden? Spitteler verfasste seine Rede kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, inmitten des 'Klangs der Kriegstrompete' und 'militärischer Kommando­rufe'. Solche Klänge sind auch heute noch zu vernehmen, hundert Jahre nachdem der Dichter mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist; wenn auch ungleich diffuser und komplexer. Acht bekannte Schweizer Autorinnen und Autoren reflektieren hier Spittelers Rede aus heutiger Per­spektive und entwickeln dabei ihre jeweils eigenen, neuen Standpunkte: Wie steht es heute um den Wert der Neutralität, um das Verhältnis der Schweiz zu ihren europäischen Nachbarn? Was bedeuten Engagement und Enthaltung in Zeiten humanitärer Kata­strophen und weltweiter Migration? Haben Nationen noch Sinn? Grenzen? Und wie steht es derweil um den Zusammenhalt im eigenen Land, um die Überwindung der Sprachgrenzen, die Spitteler doch so sehr am Herzen lag?

Herausgegeben von Camille Luscher Beiträge von Dorothee Elmiger, Pascale Kramer, Catherine Lovey, Adolf Muschg, Fabio Pusterla, Daniel de Roulet, Monique Schwitter, Tommaso Soldini

Herausgegeben von Camille Luscher Beiträge von Dorothee Elmiger, Pascale Kramer, Catherine Lovey, Adolf Muschg, Fabio Pusterla, Daniel de Roulet, Monique Schwitter, Tommaso Soldini

Vorwort


Schweizerisches Gleichgewicht


O tempora, o mores! Was für Zeiten (erleben wir)! Was für Sitten!, soll Cicero im Jahr 63 v. u. Z. ausgerufen haben.1 Was für Zeiten, ja, was für Zeiten (erleben wir), hört man sich auch heute ausrufen. Alles geht schnell, eine Flut von Informationen bricht über uns herein, über Kanäle, die uns nicht selten überschwemmen. Unterdessen sterben Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, sterben durch Waffen, die von Drittländern verkauft wurden; die Gräben vertiefen sich, die Wirtschaft verliert den Kopf in den höheren Sphären.

Angesichts der Geschwindigkeit und des Übermaßes empfindet man vielleicht das Bedürfnis, auf die Pausentaste zu drücken. Anhalten, Distanz gewinnen, Atem schöpfen. Die Grundlagen der Kräfteverhältnisse überdenken, der Frage nachgehen, welchen Platz jeder Mensch auf der Welt, auf der Erde einnimmt. Die Literatur ermöglicht dies. Denn sie gibt uns Gelegenheit, dem anderen zuzuhören. Dem alter, dem Mitmenschen, der anders ist.

Und da man nun einmal von irgendwo ausgehen muss, warum sich nicht die Mühe nehmen, in unserem Maßstab zu denken. Den Maßstab eines Landes, der Schweiz, als Ausgangspunkt zu nehmen, um über seinen Platz in der Welt und in Europa nachzudenken. Auf dieser politischen Bühne.

Unter anderen, sehr verschiedenen Umständen, aber im selben Himmelsstrich, hat ein Schriftsteller dies getan. Er heisst Carl Spitteler, ist Mitte des 19. Jahrhunderts in der Gegend von Basel zur Welt gekommen und hat seit einigen Jahren anspruchsvolle Bücher geschrieben in einem Stil, den er selbst als »epische Poesie« bezeichnet und der bei Nietzsche Beachtung und Unterstützung fand. Ab und zu hat er sich öffentlich zu diesem oder jenem Thema geäußert, das ihm bedeutsam schien, obwohl er das Image eines kratzbürstigen aristokratischen Menschenfeindes kultivierte. Nun brach aber der Erste Weltkrieg aus, und die Schweiz, deren Föderalismus schon seit einiger Zeit wankte, geriet zwischen zwei gegnerische Feuer, ins Sturmtief von Winden, die in entgegengesetzter Richtung bliesen und sie, so fürchtete man, einer allmählichen Aufspaltung entgegentrieben. Von Sorge erfüllte Männer (keine Frauen, wohlgemerkt) gründeten die Neue Helvetische Gesellschaft2 mit dem Ziel, sich für Mehrsprachigkeit, nationalen Zusammenhalt und regionale Eigenarten einzusetzen. Werte, die man teilen kann, wobei man sehr wohl spürt, dass man sich vor ihnen auch hüten muss. Es wurde also beschlossen, jemanden zu finden, der imstande war, eine versöhnliche Rede zu halten. Einen Schriftsteller. Denn wer wäre besser geeignet als ein Schriftsteller, um in unruhigen Zeiten das Wort zu ergreifen. Im Gegensatz zu einem Politiker zum Beispiel hat er die Möglichkeit, Fragen zu stellen, ohne Antworten liefern zu müssen, er spricht nicht in Phrasen, sondern in Bildern, die das Denken in Bewegung setzen.

Carl Spitteler nimmt den Auftrag an und positioniert sich als einer, »der seine Bürgerpflicht erfüllt«, als «bescheidener Privatmann«, der angesichts der Dringlichkeit der Situation das Wort ergreift, »um einem unerquicklichen und nicht unbedenklichen Zustand entgegenzuwirken«. Doch er geht seine Rede in erster Linie als Schriftsteller an und behandelt die Frage des nationalen Zusammenhalts mit literarischen Mitteln, benützt starke Symbole, Metaphern, Elemente der Mythologie. Dieser literarische Aspekt ist es sicher, der seinen Worten eine universelle Dimension verleiht, von der wir uns noch heute angesprochen fühlen. Die Werte, auf die er sich beruft, befremden uns nicht, sie erscheinen uns noch immer wesentlich, selbstverständlich zur Schweiz gehörend, und die Formulierungen sind offen genug, damit alle auf ihre Rechnung kommen. Ein effizienter Konsens, alles in allem, durch und durch schweizerisch. So sehr, dass man sich wundert, welch heftige Reaktionen er hervorgerufen hat.

Es gab in der Tat Wirbel, im besten wie im schlechtesten Sinn. Manche schreiben dieser Rede eine entscheidende Bedeutung für die Rezeption des Dichters Carl Spitteler zu. Sie soll ihm, mehr als die offiziell gerühmten Epen, den Nobelpreis für Literatur eingetragen haben (nichts Geringeres als das!), den Spitteler für das Jahr 1919 erhielt. Der Anekdote zufolge soll Romain Rolland, Literaturnobelpreisträger von 1915, sich für die Anerkennung Spittelers eingesetzt haben, mit dem er den Willen teilte, sich aus dem Kampfgetümmel herauszuhalten.3

Tatsächlich hat »Unser Schweizer Standpunkt« das Jahrhundert unbeschadet überstanden, während Spittelers Werk – für den Geschmack unserer Zeit wohl zu sehr mit Symbolismus und Allegorien beladen – heute zu einem großen Teil vergessen ist. Zum Symbol erhoben, wurde die Rede in verschiedenen Phasen der Geschichte des Landes wiederaufgenommen (zuweilen vereinnahmt), jedes Mal, wenn die Schweizer »das Bedürfnis hatten, über sich nachzudenken«4. Man hat sich davon zu Betrachtungen über die Vielsprachigkeit, den Föderalismus, die Neutralität anregen lassen, als es darum ging, sich auf die gemeinsamen Werte zu besinnen, den nationalen Zusammenhalt wachzurufen. Mitten in abstrakten Bildern und eher allgemeinen Betrachtungen macht Spitteler einen sehr konkreten Vorschlag, um das Verständnis zwischen den verschiedenen Sprachgebieten zu stärken: Man sollte sich gegenseitig zuhören, namentlich, indem man die Leitartikel der Tageszeitungen in Übersetzung zugänglich machte.

Drei Verlage, die Editions Zoé in Genf, der Rotpunktverlag in Zürich und die Edizioni Casagrande in Bellinzona, haben Spitteler heute beim Wort genommen. Gemeinsam haben sie acht Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den drei Sprachregionen eingeladen, auf diese Rede zu reagieren. Sie waren frei, den einen oder den anderen Aspekt davon aufzugreifen. Darauf zu antworten, ihn weiterzuentwickeln. Ihn in seinem Kontext zu behandeln oder in den unseren herüberzuholen.

Was bleibt, hundert Jahre danach, von diesem »Besten in idealistischer Richtung«, das Alfred Nobel mit seinem Preis belohnte? Kann Spittelers Rede, die im ganz speziellen Kontext des Ersten Weltkriegs gehalten wurde, in der Perspektive der Gegenwart noch aussagekräftig sein?

Als Einstieg in die Textsammlung, gleich nach der Rede von Carl Spitteler, geht Adolf Muschg für uns den Bedingungen der Niederschrift und der Rezeption dieser Rede im Laufe des 20. Jahrhunderts nach. Er greift die Begriffe »eidgenössischer Zusammenhalt« sowie »Bescheidenheit und Anstand« heraus, die Spitteler teuer waren, und sieht in der Rede von 1914 nicht weniger als ein Friedensprojekt. Ihm folgend, richtet Dorothee Elmiger ihr Augenmerk auf die verwendeten Metaphern, insbesondere auf die von Spitteler gemachte Unterscheidung zwischen Nachbarländern einerseits und Brüdern andererseits. Dank einer subtilen mehrstimmigen Komposition wirft die Autorin auf die von Spitteler angeschnittenen Fragen ein Echo aus der Gegenwart zurück, bei dem sie alle vorgefertigten Antworten vermeidet. Wovor hat man Angst, lautet die unterschwellige Frage, welcher Art ist die Bedrohung?

Als Symbol der schweizerischen Identität steht die Neutralität im Zentrum verschiedener Texte, die ihre Dimensionen, aber auch ihre Widersprüche ausloten. Vom Gestus des mitfühlenden Zuschauers, den Spitteler in ihr sah, bewegt sie sich in Richtung mehr Engagement. Wenn es heute noch darum geht, »den Hut abzunehmen«, dann um besser einen kühlen Kopf zu bewahren angesichts der nationalistischen, chauvinistischen oder islamophoben Leidenschaften, die Pascale Kramer nach dem Attentat auf Charlie Hebdo in Frankreich beobachtet, wo sie seit mehr als dreißig Jahren lebt. Das ist die große Lehre, die sie aus dem berühmten »Schweizer Standpunkt« zieht: eine gewisse Distanz, durch die man die nötige Ruhe gewinnt, um dem anderen richtig Gehör zu schenken. Und genau weil die Schweiz seit über einem Jahrhundert diese Anstrengung auf sich nimmt, weil ihre Identität komplex und unmöglich auf einen primären Nationalismus reduzierbar ist, könnte sie, wenn man Monique Schwitters Sichtweise folgen will, nicht als Beispiel, aber vielleicht als Vorläuferin für das aktuelle Europa dienen, dem es an gemeinsamen Werten und kulturellen Ambitionen fehlt. Das war bereits in den Fünfzigerjahren die These eines Denis de Rougemont, dessen Vorbild Daniel de Roulet erwähnt, neben anderen Schweizern mit emblematischem Werdegang – Hodler, Cendrars, Le Corbusier, Louis Chevrolet. Indem er seine Familiengeschichte mit der großen Geschichte des 20. Jahrhunderts verflicht, gelingt es de Roulet, eine ganz persönliche Sicht des Widerstands durch Nichtparteinahme zum Ausdruck zu bringen, in der etwas von dem anklingt, was Pascale Kramer mit »richtig Gehör schenken« meint. Daniel de Roulet erkennt darin die Haltung des Schriftstellers selbst, der an und mit der Sprache, mit dem Gewicht und dem Wert der Worte arbeitet und so einen klaren Blick bewahrt.

Als Dichter...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2019
Co-Autor Dorothee Elmiger, Pascale Kramer, Catherine Lovey, Adolf Muschg, Fabio Pusterla, Daniel Roulet de, Monique Schwitter, Tommaso Soldini
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Adolf Muschg • Büzlis • Carl Spitteler • Catherine Lovey • Daniel de Roulet • Dorothee Elmiger • Fabio Pusterla • Monique Schwitter • Pascale Kramer • Schweiz • Schweizer Neutralität • Tommaso Soldini
ISBN-10 3-85869-833-4 / 3858698334
ISBN-13 978-3-85869-833-9 / 9783858698339
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