Großer Wind - Kleiner Wind (eBook)

Zwei karibische Geschichten
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
92 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11599-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Großer Wind - Kleiner Wind -  Alice Ekert-Rotholz
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Die welterfahrene und weltberühmte Alice Ekert-Rotholz erzählt in diesen zwei Kabinettstücken vom Zauber der Karibik und den Konflikten einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft. Eine englische Lady wird durch die Beharrlichkeit ihrer kreolischen Schwiegertochter von den aus Europa mitgebrachten Vorurteilen befreit. Eine Marktfrau erfährt, daß ihr heißgeliebter und in London studierender Sohn auf die schiefe Bahn geraten ist.

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

Alice Ekert-Rotholz, am 5. September 1900 in Hamburg als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, lebte von 1939 bis 1952 in Bangkok. Nach Hamburg zurückgekehrt, war sie journalistisch für Funk und Presse tätig. 1954 erschien ihr erster Roman «Reis aus Silberschalen», der sie schnell bekannt machte. Zahlreiche weitere folgten. 1959 siedelte Alice Ekert-Rotholz zu ihrem ersten Sohn nach London über. Dort starb sie am 17. Juni 1995.

I


Muriel Watford war immer eine Geheimniskrämerin gewesen. Sie wollte nichts gefragt werden und stellte keine Fragen. Ihre Freunde behaupteten, sie stamme aus der schweigsamsten Familie im ländlichen Suffolk, wo es viele große Schweiger gibt. Die Crowleys lebten zufrieden und schweigsam auf ihrem Bauernhof und betrachteten wohlgefällig die hohen Hecken, die ihren Besitz vom Rest der Bevölkerung abtrennten. Muriels Reisen hatten sich auf Fahrten ins Marktstädtchen beschränkt. Ein gelegentlicher Besuch in Ipswich war ein Ereignis. Da war das Hotel The Great White Horse, das Dickens beschrieben hat. Die Crowleys waren keine eifrigen Leser, und auch Muriel ritt lieber herum, als über den Büchern zu hocken. Aber natürlich las sie Dickens wegen Ipswich und war stolz darauf, daß East Anglia «das Land Constables» genannt wurde. Der große Landschaftsmaler hatte dieselben Wiesen, Felder, Mühlen und Häuschen wie die Crowleys betrachtet, und das erfüllte sie alle mit stummem Stolz.

London lag auf einem anderen Stern. Und daß Muriel in London leben würde oder mußte, wurde in ihrer Familie als Unglücksfall betrachtet. Was sie selbst darüber dachte, erfuhr niemand. Es war und blieb ein Geheimnis. Wenn man einen Londoner Arzt heiratet, kann man nicht länger auf dem Hof leben. Wozu darüber reden? Muriels Eltern hatten nichts an diesem Mann auszusetzen – außer seiner Praxis in London. Übrigens hatte Dr. Watford Muriel geheiratet, weil sie schön den Mund hielt. Er war gesprächig und brauchte eine Zuhörerin. Da Muriel niemals Fragen stellte, fragte sie nicht, ob er sie liebe. Wirklich liebe. Nahm sie es an, oder erwartete sie anderes von der Ehe? Wer kannte sich in Miss Crowley aus? Daß sie sich Kinder wünschte, war so selbstverständlich, daß es keiner Erwähnung bedurfte.

Muriel war keine Schönheit – das hätte ihr selbst nicht zugesagt. Schönheit gehörte zu den «Übertreibungen», die sie ablehnte. Außerdem verging die Schönheit. Was hatte man davon? Aber Muriel war kraftvoll und solide, eine gute Reiterin und intelligent dazu. Wann immer sie den Mund öffnete, kam etwas Vernünftiges heraus. Nichts Originelles, um Himmels willen; aber ihre Äußerungen hatten eben Hand und Fuß. Und wem sie nicht gefielen, der brauchte Muriel Watford née Crowley nicht zuzuhören. Die Freunde ihres Mannes zum Beispiel hörten nicht zu. Never mind! Muriel hatte nicht die Absicht, diesen neunmalklugen Londonern etwas anzuvertrauen. Daheim hatte sie sich, wie Eltern und Geschwister, hauptsächlich mit ihrem Gaul, den Hühnern, den Obstgärten und Constables Wolken unterhalten. Hatte sie Heimweh? Wahrscheinlich. Auch darüber sprach sie nicht, denn sie ahnte, daß Gefühle endgültigen Charakter annehmen, wenn man sie beim Namen nennt. Sie sind dann nie mehr das vage Unbehagen unter der Bewußtseinsschwelle. So schwieg Muriel auch über ihre wachsende Abneigung gegen ihren Ehemann. Na ja, alle Leute lachten oder weinten über dieselben Dinge – das erforderte keine Erläuterung. Dr. Watford hatte wie alle anderen seine Gewohnheiten und Eigenarten; es war nicht seine Schuld, daß Muriel sie nicht kannte. Abgesehen davon, daß er bei Tisch zerstreut das Brot zerkrümelte, was sie empörte, und daß er nicht richtig zuhörte, wenn sie ihm von den glücklichen Tagen in Suffolk erzählte, hatte er einen Durst nach Abwechslung. Und vielleicht eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die einfachen Tugenden, die die Familie Crowley auszeichneten. Die Verschiedenheit der Neigungen und Ansichten war erheblich und wurde nicht durch eine fröhliche Kinderschar gemildert oder ausgeglichen. Nach einigen Jahren erschien zwar der einzige Sohn, Reginald; aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Muriel liebte diesen Sohn mit zurückhaltender Leidenschaft. Das wäre ja noch schöner gewesen, wenn Reggie etwas davon gemerkt hätte! Sie war so streng mit dem Kind, wie sie es mit ihrem Mann war. Aber dem Kind schien das zu gefallen. Reggie hatte wenig Zuneigung zu seinem allgemein beliebten Vater, der übrigens ein großartiger Arzt war. Aber die Patienten kamen zunächst wegen seiner strahlenden Liebenswürdigkeit zu ihm. Mit den Jahren wuchs Muriels Abneigung gegen strahlende Liebenswürdigkeit. Sie war wie Schaum auf dem heimatlichen Fluß. Die Schätze lagen eben in der Tiefe.

Richmond Park im Sommer und später Hampstead Heath, als Reggie schon neben ihr trippeln konnte, waren grün und still und tröstlich. Muriel hatte nicht geahnt, daß London und das benachbarte Surrey solche Idyllen besäßen. Sie kosteten nicht einmal Eintritt, und von dem Wild in Richmond Park war sie so entzückt wie ihr kleiner Sohn. Denn ihre tiefe stumme Liebe zu Bäumen und Tieren hatte sie ihrem Sohn vererbt. Der junge Reginald Watford haßte Betrieb, Nachtlokale und Steinwüsten. Vielleicht waren es die Kindheitseindrücke in Richmond Park und auf der Heide von Hampstead, die ihn als erwachsenen Mann von London wegtrieben. Seine glücklichsten Zeiten verbrachte er bei den Großeltern auf dem Gut in Suffolk. Muriel brachte das Kind dorthin und holte es wieder ab. Wenn sie auch nur eine Woche daheim verbracht hätte, wäre sie nicht nach London zurückgekehrt.

Ihre Mutter fragte sie einmal, ob sie glücklich sei. Mrs. Crowley sah ihre Tochter scharf an. Muriel nickte. Was war da zu sagen?

 

Nach dem frühzeitigen Tod ihres Mannes widmete Muriel Watford sich ihrem Sohn. Fühlte sie Erleichterung darüber, daß dieser unverständliche Mann ihre Welt nicht mehr mit seinen Reden und seinem ironischen Lächeln belastete? In den letzten Jahren war John Watford ein Logiergast in seinem eigenen Haus geworden. Er verbrachte die Abende woanders. Übrigens hatte er eine beträchtliche Phantasie besessen, die leider auf seinen Sohn übergesprungen war. Muriel hätte diese Schwäche gern ausgeräuchert wie Motten aus einem soliden Mantel, denn sie ahnte dunkel das Überraschungsmoment der Phantasie. Je älter sie wurde, desto weniger hatte sie für Überraschungen übrig. Ihr Mann hatte ihr zu viele bereitet.

Trotzdem war seine Abwesenheit schwierig zu ertragen, denn die Gewohnheit hatte das Paar aneinandergekettet. Muriel wäre nach dem Tod ihres Mannes sehr einsam gewesen, wenn sie nicht ihre Jugendfreundinnen gehabt hätte, die ebenfalls aus Suffolk nach London verschlagen worden waren: die dicke, behagliche Nancy, die das Fragen nicht lassen konnte; die dürre Maud, die in ihrer Jugend Ehemänner, unter ihnen Dr. Watford, annektiert hatte und nun, in ihren mittleren Jahren, scharfe Bemerkungen machte; und schließlich die zanksüchtige Emily Sanderson, deren Tochter aus unbekannten Gründen «arme Lucy» genannt wurde. Die Macht der Gewohnheit und die gemeinsam verbrachte Jugend hielten diese vier Witwen zusammen. Es war eine abgemachte Sache zwischen Emily Sanderson und Muriel, daß Reggie eines Tages die arme Lucy heiraten würde. Natürlich war Emily lebhafter an diesem Plan interessiert als die Mutter des nichtsahnenden Bräutigams. Nach Muriels Ansicht konnte Reggie jedes Mädchen haben. Nur wußte man bei Lucy, wo sie herstammte. Solide. Schweigsam. Wollte Krankenschwester werden und konnte ihre Schwiegermutter im Alter pflegen. Was Reggie über diese Pläne wußte oder ahnte, war ein Geheimnis. Auch konnte niemand behaupten, daß die arme Lucy sich eifrig um den glänzenden jungen Mann bemühte. Sie war in Ordnung. Erst einmal würde Reggie Medizin studieren. Muriel war der Meinung, daß es reichlich Zeit wäre, wenn er die arme Lucy mit fünfzig heiraten würde. Daß Lucy mager, scheu und sommersprossig war, betrachtete Mrs. Watford als einen Vorteil. Auf diese Weise würden ihrem Sohn die Qualen der Eifersucht erspart bleiben. Aber, wie gesagt, es eilte nicht.

Sie waren nun zufriedene Witwen in den Fünfzigern geworden und erwarteten keine Überraschungen mehr vom Leben. Wie viele Eigenschaften sich mit zunehmenden Jahren verstärken und vertiefen, war Muriel Watford die Sphinx aus Suffolk geworden. Jetzt überhörte sie indiskrete Fragen, und alle Fragen waren indiskret. Sie duldete keinen Widerspruch mehr, nicht einmal von ihrem erwachsenen Sohn, der mit ihr in der geräumigen schönen Villa in Hampstead lebte. Reggie machte keine Anstalten zu heiraten und hatte bereits eine feine Praxis in Harley Street. Alles war in bester Ordnung. Und es wäre so geblieben, wenn das Leben ohne Überraschungen fortlaufen könnte. Natürlich tat es das nicht, denn das Leben tut nie, was man wünscht.

Die arme Lucy, die vermeintlich geduldig auf die Ehe mit Dr. Reginald Watford wartete, verließ London und die mütterliche Wohnung in Kensington Knall und Fall und nahm Kurs auf die Karibischen Inseln, die in sicherer Entfernung von London aus tropischen Wassern auftauchen. Muriel wunderte sich, warum Lucy sich nicht, wie immer, mit ihrer Mutter in Brighton erholte. Aber natürlich sagte sie nichts. Zu jener Zeit vermuteten sie alle eine überflüssige Erholungsreise. Nur Lucys Mutter wußte es besser. Nach einem besonders ausführlichen Wortgefecht hatte Schwester Lucy Sanderson ihre Koffer gepackt. Endgültig. Weg war sie. Mrs. Sanderson starb ein halbes Jahr nach Lucys Verschwinden, und ihre Freundinnen schrieben ihren Tod der Sorge und Aufregung um die Tochter zu. Allerdings hatte Reggie der Jugendfreundin seiner Mutter mit einem Schlaganfall gedroht für den Fall, daß sie weiter sechs Rosinenbrötchen hintereinander zum Tee verzehren würde. Bei der Todesnachricht hatte Muriel Watford ausnahmsweise den Mund geöffnet und Nancy und Maud mitgeteilt, daß sie jetzt nur noch drei seien. Nancy hatte sofort wissen wollen, wer nun an die Reihe käme. Aber sie konnte eben das Fragen nicht lassen. Man sollte von den Toten nur Gutes reden, aber Mrs. Watford redete...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erfahrungen • Erlebnisse • Karibik • London • Reisen • schiefe Bahn • Student • Vorurteile • Zauber
ISBN-10 3-688-11599-6 / 3688115996
ISBN-13 978-3-688-11599-0 / 9783688115990
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