Alte Sorten (eBook)
256 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8448-3 (ISBN)
EWALD ARENZ, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit >Alte Sorten< (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und >Der große Sommer< (DuMont 2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien >Die Liebe an miesen Tagen< (DuMont 2023).
- Spiegel Jahres-Bestseller: Belletristik / Taschenbuch 2022 — Platz 7
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1. September
Auf der Kuppe der schmalen Straße durch die Felder und Weinberge flimmerte die Luft über dem Asphalt. Als Liss mit dem alten offenen Traktor langsam hügelan fuhr, sah sie aus wie Wasser, das flüssiger war als normales Wasser; leichter und beweglicher. Sommerwasser. Man konnte es nur mit den Augen trinken.
Auf den abgeernteten, von Stoppeln glänzenden Feldern stand der Weizen noch als überwältigender Geruch nach Stroh; staubig, gelb, satt. Der Mais begann, trocken zu werden, und sein Rascheln im leichten Sommerwind klang nicht mehr grün, sondern wurde an den Rändern heiser und wisperig.
Der Nachmittag war heiß und der Himmel hoch, aber wenn man den Traktor abstellte, dann hörte man plötzlich, dass die Vogelstimmen schon weniger geworden waren und das Zirpen der Grillen schon lauter. Liss sah und roch und hörte, dass der Sommer zu Ende ging.
Es war ein gutes Gefühl.
Niemand lief ihr hinterher. Niemand verfolgte sie. Niemand war in ein Auto gestiegen, um langsam die Feldwege abzufahren, auf denen sie seit zwei Stunden unterwegs war; seit einer Dreiviertelstunde stetig bergauf. Ehrlich gesagt – warum auch? War ja nicht so, als müsse sie sich jede Stunde irgendwo melden. Obwohl – das hatte sie auch schon gehabt.
Sally blieb stehen und drehte sich um. Unter ihr lag die Scheißlandschaft in der Sonne. Zehntausend Felder mit irgendwas drauf und ganz weit am Horizont, nur noch in einem diesigen Sommerdunst, die Stadt, an deren Rand die Klinik lag. Schön im Grünen. Mit einer Allee. Mit so einer richtigen Allee bis zum Tor. Die Allee war für Mama irgendwie wichtig gewesen. Als ob die Bäume so was wie eine Garantie für eine besonders gute Behandlung wären.
Sie setzte sich ins Gras am Rand des Wirtschaftswegs. Keine richtige Straße, sondern Betonplatten, die immer genau achteinhalb Schritte lang waren. Sie hatte die Schritte gezählt, weil es wichtig war, nicht auf die Fugen zu treten. Und jetzt saß sie am Wegrand, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen. Es war heiß. Ein paar Kilometer hatte sie gestoppt, aber der Typ, der sie mitgenommen hatte, war ein blödes Arschloch gewesen. Er hatte sie die ganze Zeit zugetextet. Eine Frage nach der anderen, und die, die er nicht gestellt hatte, konnte man dazwischen raushören. Wo kommst du her? Wie heißt du? Was machst du so? Fährst du nach Hause? Habt ihr schon Ferien? Bin ich ein bescheuertes, blödes Arschloch? Nehme ich Mädchen mit, weil ich mich für supersozial halte, aber in Wirklichkeit will ich doch bloß irgendwo ranfahren, um sie zu vögeln? Wie heißt du denn? Sag doch.
Irgendwann hatte sie einfach nach der Handbremse gegriffen und sie hochgerissen. Und war ausgestiegen. So was brauchte sie gar nicht. Nicht heute. Eigentlich nie. Und außerdem war es sowieso besser zu laufen. Den Berg hochzusteigen, obwohl es so scheißheiß war.
Scheißheiß. Scheißheiß. Sally wiederholte das Wort für sich, nur, um ihre eigene Stimme zu hören, die von der heißen Luft trocken geworden war. Sie holte die Wasserflasche aus dem Rucksack. Sie war fast leer. Auf dem Abhang neben ihr standen verstreut ein paar Apfelbäume mit Massen an Äpfeln, die vielleicht auch den Durst gestillt hätten, aber darauf fiel sie nicht rein. Essen war heute nicht. Heute mal gar nicht. Sie hasste es, dass man essen musste, wenn die anderen das sagten oder weil man es immer so tat. Essen, weil es Morgen war. Oder Mittag. Oder Abend. Oder, weil man Hunger hatte. Sie wollte dann essen, wenn sie essen wollte. Sie wollte dann trinken, wenn sie trinken wollte. Das verstand niemand.
Sie nahm die letzten zwei Schlucke des lauwarmen Wassers und schraubte die leere Flasche wieder zu. Auf der Hügelkuppe war ein Dorf. Da konnte man sie sicher irgendwo auffüllen. Und wenn nicht, dann eben nicht.
Sie stand auf, um weiter den Hang hinaufzusteigen. Es war noch nicht spät. Sobald das Dorf hinter ihr liegen würde, könnte sie sich ja nach einem Schlafplatz umsehen. Es war noch warm, und sie hatte … Sally fiel jetzt erst auf, dass sie noch nie richtig draußen geschlafen hatte. In einem Zelt, klar, damals, Jahr für Jahr auf demselben Campingplatz in Italien. Mit zehntausend anderen Familien, die auch alle an Pfingsten nach Italien fuhren. Was für großartige Eltern sie doch hatte! Und wie einfallsreich. Andererseits … draußen schlafen war wahrscheinlich bloß so eine romantische Idee. Wahrscheinlich krochen einem Ameisen ins Ohr und in die Nase. Und Zecken gab es auch. Aber vielleicht würde sie ja eine Scheune oder so was finden.
Der Feldweg mündete auf die Dorfstraße ein, die viel steiler als erwartet anstieg und an ein paar Bauernhäusern vorbei nach etwa hundert, zweihundert Metern auf die Hauptstraße stieß. Nach zehn Minuten war sie endlich oben und blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Das Dorf war nicht sehr groß; von dort, wo sie stand, waren es nur ein paar Schritte bis zum Ortsausgang. Sie konnte weit über das Land sehen. Windräder standen in lockerer Reihe in den Feldern; ihre Flügel drehten sich gemächlich in einem Spätsommerwind, den sie hier unten kaum spürte. Zum Glück gab es die Windräder. Es war alles so verfickt idyllisch, dass sie es kaum aushielt, nicht zu schreien. Am liebsten hätte sie sich mitten auf die Straße hingehockt und gepisst. Bloß, um irgendwas dreckig zu machen.
Sie hätte in die Stadt zurückfahren sollen. Nur dass da immer und überall Polizei war. Außerdem hatte sie keine Lust auf irgendwen, den sie kannte. Sie hatte schon lange keine Lust mehr auf Leute, die sie kannte.
Kurz vor dem Ortsschild kam sie an einem Vorgarten vorbei, in dem ein Rasensprenger müde Wasserstrahlen auf die Beete warf. Sally stieg über den Zaun, ohne sich umzusehen, trennte den Schlauch vom Sprenger und füllte ihre Flasche. Als sie voll war, trank sie noch ein paar Schlucke direkt aus dem Schlauch, warf ihn auf den Rasen und sprang über den Zaun zurück auf die Straße.
Liss hatte den Wagen abgehängt, weil man auf dem schmalen Weg zwischen den Reben nicht mit Traktor und Hänger wenden konnte. Es war praktischer, ihn abzukuppeln und von Hand zu rangieren. Beim Drehen war ein Vorderrad in die Abzugsrinne zwischen Weg und Acker geraten, und nun stand die Deichsel so ungünstig zwischen den Weinstöcken, dass sie mit dem Traktor nicht nahe genug rankam, um anzukuppeln und den Hänger freizuziehen. Das Rad saß in der Rinne wie in einem Schlitz, und dadurch ließ sich auch die Deichsel nicht mehr drehen. Der Wagen war zwar nicht zu groß, um ihn auf einer ebenen Straße bewegen zu können, aber aus der Rinne bekam sie ihn mit Körperkraft alleine nicht heraus. Plötzlich, sie wusste nicht, wieso, musste sie an Sonny denken. An den jungen Sonny von damals, nicht den anderen. Solche Dinge hatten ihm gefallen, weil er so eine Freude an seiner eigenen Kraft hatte. Wenn so etwas passiert war, mit dem Bus vielleicht, dann war er in den Graben gesprungen, hatte sich gegen den Wagen gestemmt, und sie hatte sanft Gas gegeben, bis er, von Sonny mit aller Kraft angeschoben, wieder freigekommen war.
Frei.
Liss hörte das Wort in ihrem Kopf nachklingen und richtete sich auf, musste blinzeln und sah nach unten. Die scharf und klar umrissenen Schatten der Weinblätter auf dem hellen Beton des Weges waren an den Rändern blau. Als sie wieder aufblickte, musste sie die Augen gegen die schon schräg stehende Sonne beschatten. Das Land war weit. Der Fluss lag wie ein glitzernder Gürtel, so weit man sehen konnte. Sie war frei, sagte sie sich. Sie konnte hingehen, wohin sie wollte. Noch einmal ruckte sie mit aller Kraft an dem feststeckenden Hänger. Dann sah sie das Mädchen, das den Wirtschaftsweg entlangkam.
Sally bemerkte die Frau erst, als sie sich aufrichtete. Groß. Schlank. In einem blauen … was war das? Ein Arbeitskleid? Es sah ein bisschen aus wie so ein Overall … wie hießen die? Wie ein Blaumann. Ein Blaukleid. Und ein Kopftuch trug sie außerdem. Sie war auf dem Land. Super fashionable.
Eigentlich wäre sie lieber quer durch die Weinstöcke ausgewichen, aber die Frau hatte sie schon gesehen, und das wäre irgendwie komisch gekommen. Sally ging ein bisschen schneller, als sie registrierte, dass die Frau sie ansah. Auf so eine seltsame Art. Nicht neugierig. Einfach … wie man vielleicht ein Tier betrachtete? Wie einen Käfer, der über die Straße lief. Einer von denen, die so wunderschön grüngold schillerten und in Wirklichkeit Mistkäfer waren. Weil alles so war. Was nach Gold aussah, lebte von Scheiße. Sie drückte sich an dem Wagen vorbei, der schräg auf dem Weg stand, und senkte dann, obwohl sie es eigentlich nicht wollte, den Kopf ein wenig, als sie an der Frau vorbeiging.
»Kannst du eben mit anfassen?«
Die Frage war so unvermittelt gekommen, dass Sally zusammenschrak. Dabei war sie völlig ruhig gestellt worden, wie eine echte Frage, ohne eine Aufforderung. Keine Frage, in der – so wie eigentlich immer – schon ein Befehl steckte. »Magst du mir nicht ein bisschen helfen?« »Magst du nicht ein bisschen essen?« »Magst du mir mal das Wasser reichen?« Das waren die Scheißfragen, auf die man jedes Mal antworten musste: Nein. Mag ich nicht. Ich tu es, weil ihr stärker seid als ich. Weil ihr bestimmen könnt. Weil ihr aus irgendeinem Grund machen könnt, dass ich für euch irgendwas tun muss. Aber: Nein! Ich mag nicht! Fragt mich doch gar nicht erst! Tut doch nicht so, als könnte ich entscheiden! Befehlt mir einfach. Sagt: Sally, du Scheißmädchen, hilf mir. Sally, ich kann dich nicht leiden, ich hasse dich und deine Eltern, weil ich in dieser Drecksklinik nur die Hälfte von dem kriege, was dein Vater verdient, aber ich kann bestimmen, dass du isst. Sally, Sally, Sally,...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-8321-8448-1 / 3832184481 |
ISBN-13 | 978-3-8321-8448-3 / 9783832184483 |
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