Ein halbes Herz (eBook)
416 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-22564-3 (ISBN)
Ihre Kamera ist ihr Schutzwall gegen die Welt - denn obwohl die schwedische Fotografin Elin Boals eine glänzende Karriere in New York absolviert, hat sie sich zurückgezogen in ihren ganz eigenen Kosmos. Niemandem gewährt sie Zugang zu ihrem Inneren, nicht einmal ihrer Familie. Als sie völlig unerwartet einen Brief aus ihrer Heimat Gotland erhält, brechen die Erinnerungen mit Macht über sie herein. Denn Elin hütet ein tragisches Geheimnis - eine tiefe Schuld, die sie damals dazu trieb, die Insel für immer zu verlassen. Und nun spürt sie, dass sie an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren muss, wenn sie jemals wirklich glücklich werden will ...
Sofia Lundberg wurde 1974 geboren und arbeitete als Journalistin in Stockholm, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Büchern widmete. Mit ihrem Debütroman »Das rote Adressbuch« eroberte sie die schwedische Literatur- und Bloggerszene im Sturm, woraufhin die Rechte in über 30 Länder verkauft wurden.
DAMALS
HEIVIDE, GOTLAND, 1979
»Für jeden zweihundert Milliliter. Und hört jetzt auf zu streiten.«
Kleine Hände griffen nach dem rotweißen Tetra Pak, den Elin auf den Tisch gestellt hatte. Zwei Paar Kinderhände mit schwarzen Fingernägeln. Elin versuchte, ihnen die Packung wieder zu entreißen, aber ihre Brüder stießen sie mit spitzen Ellenbogen in die Seite. Und redeten beide gleichzeitig aufeinander ein.
»Ich will mir zuerst nehmen.«
»Du nimmst dir immer zu viel.«
»Gib das her!«
Eine strenge Stimme übertönte das Geschrei. »Hört auf zu streiten, ich halte das nicht mehr aus. Der Älteste darf immer zuerst. Ihr kennt die Regeln. Für jeden zweihundert Milliliter. Und ihr gehorcht Elin!« Marianne stand mit dem Rücken zu ihnen an der Spüle.
»Ihr habt gehört, was Mama gesagt hat!« Elin schubste Erik und Edvin weg. Die beiden fielen von der Küchenbank, ohne aber die Milchpackung loszulassen, an der sie sich festgeklammert hatten. Es wurde mucksmäuschenstill, als sie in ihrem Fall noch einen braunen Teller aus Porzellan mit sich rissen. Als würde die Luft plötzlich ganz zäh und sämig werden und die Zeit stillstehen. Das Klirren und Platschen, das folgte, als alles auf dem Boden landete, wurde von lautem Gebrüll begleitet.
Dann plötzlich wieder Stille. Und weit aufgerissene Augen.
Auf der Plastiktischdecke breitete sich eine weiße Milchpfütze aus, es tropfte vom Tisch auf den Boden, und weiße Rinnsale liefen an den kräftigen Tischbeinen hinunter. Dann wieder Gebrüll. Die Wut zerschnitt die Luft.
»Ihr verdammten Gören. Zu nichts seid ihr nutze. Raus! Raus aus meiner Küche!«
Elin und ihre Brüder gehorchten ohne Widerworte, sie stürmten aus dem Haus und rannten über den Hof, verfolgt von den Flüchen, die jede Ecke der Küche erfüllten. Sie kauerten sich hinter einem Haufen Gerümpel an die Wand des Kuhstalls, dicht aneinandergedrängt.
»Elin, bekommen wir jetzt kein Essen mehr?« Der jüngere der Brüder flüsterte mit kaum hörbarer Stimme.
»Sie beruhigt sich schon wieder, Edvin, das weißt du doch. Mach dir keine Sorgen. Es war meine Schuld, dass der Teller kaputtgegangen ist.«
Sie strich ihm zärtlich über den Kopf, nahm ihn in den Arm und wiegte ihn hin und her.
Nach einer Weile stand sie auf und ging mit zögernden Schritten zurück zum Haus. Sie sah die gebückte Gestalt ihrer Mutter, sah, wie sie die klebrigen Scherben vom Boden sammelte, zwischen Zeigefinger und Daumen. In ihrer Hand wuchs ein kleiner Turm aus Scherben.
Die Tür zur Küche war angelehnt, die Scharniere quietschten im Wind. Von der Dachrinne tropfte der Regen. Plopp, plopp. Elin lauschte dem Geräusch. Im Haus war es ganz still. Marianne blieb mit hängendem Kopf in der Hocke sitzen, auch nachdem alle Scherben aufgesammelt waren. Blanka kam angerannt und schnüffelte auf dem Boden, leckte die verschüttete Milch auf. Marianne kümmerte das nicht.
Elin wollte gerade zu ihrer Mutter in die Küche gehen, als sich die krumme Gestalt aufrichtete. Die Bewegung ließ Elin zusammenzucken. Sie drehte sich um und stürmte über den Hof zu ihren Brüdern in den Stall. Kauerte sich hinter den Stapel aus Gerümpel. Marianne stand in der Küchentür und warf die Scherben wie Projektile über den Hof.
»Bleibt, wo ihr seid, ich will euch nicht mehr sehen! Habt ihr gehört? Ich will euch nicht mehr sehen!«
Dann hatte sie keine Geschosse mehr. Marianne sah sich suchend nach den Kindern um. Elin machte sich so klein wie möglich, legte ihre Arme um die beiden Jungen, die ihre Köpfe in ihrem Schoß verbargen. Keiner von ihnen wagte es zu atmen, sie lauschten angestrengt nach dem geringsten Geräusch.
»Kein Essen mehr für euch, bis Ende des Monats. Habt ihr gehört? Kein Essen mehr! Verdammte Gören! Verdammte Rotzgören!«
Ihre Arme fuhren durch die Luft, obwohl sie keine Scherben mehr hatte. Niedergeschlagen beobachtete Elin sie durch die Spalte im Gerümpel. Alte Möbel, Holzbretter, Blumenkästen und Zeug, das schon längst hätte entsorgt werden müssen. Marianne griff sich an die Brust, als hätte sie Schmerzen, drehte sich um und ging zurück in die Küche. Durch das Fenster sah Elin, wie sie in ihrer Handtasche wühlte und Schubladen aufriss, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Eine Zigarette. Sie zündete sie an, nahm ein paar tiefe Züge und blies Ringe in die Luft. Runde, perfekte Ringe, die sich verformten, oval wurden und sich schließlich auflösten. Die Ringe beruhigten sie, das wusste Elin. Wenn sie die Zigarette bis auf den Filter heruntergeraucht hatte, würde er in der Spüle landen, und dann war alles überstanden.
Die Geschwister blieben in ihrem Versteck sitzen. Dicht aneinandergedrängt. Edvin mit gesenktem Kopf. Er zeichnete mit einem Stock Striche und Ringe in den Boden. Elin ließ das Haus nicht aus den Augen. Als Marianne endlich, nach langem, schweigendem Warten, das ungeputzte Küchenfenster weit öffnete, kletterte Elin aus dem Versteck und sah zu ihr hinüber. Sie lächelte verlegen und hob die Hand zum Gruß. Marianne erwiderte das Lächeln verhalten, die Lippen fest aufeinandergepresst.
Alles war wieder wie vorher. Es war überstanden und vorbei.
Auf dem Fensterbrett standen zwei Primeln im Topf mit kleinen, verschrumpelten Blüten. Marianne knipste die trockensten ab und warf sie hinaus ins Beet.
»Ihr könnt wieder reinkommen. Tut mir leid. Ich bin einfach so wütend geworden«, rief sie. Dann drehte sie ihnen wieder den Rücken zu und setzte sich an den Küchentisch.
Elin ging in die Hocke, nahm eine Handvoll Steine in die Hand, warf sie in die Luft und drehte die Handfläche nach oben. Ein Stein blieb zunächst darauf liegen, rutschte dann aber auch hinunter und fiel wie die anderen zu Boden.
»Du bekommst keine Kinder«, rief Edvin übermütig.
Elin sah ihn wütend an. »Halt den Mund.«
»Doch, eins bekommt sie, ein Stein ist doch liegen geblieben, ganz kurz«, versuchte Erik sie zu trösten.
»Also bitte, glaubt ihr wirklich, dass ein Haufen Kieselsteine die Zukunft vorhersagen kann?« Elin seufzte und ging zurück zum Haus. Auf halber Strecke blieb sie stehen und winkte ihre Brüder zu sich. »Kommt mit, wir essen jetzt, ich bin hungrig.«
Marianne saß am Küchenfenster, tief in Gedanken versunken. In der Hand hielt sie eine weitere Zigarette, deren Asche darauf wartete, abgeklopft zu werden. Der Aschenbecher auf dem Tisch war voll. Stummel um Stummel war im Sand an seinem Boden ausgedrückt worden. Marianne war blass, ihre Augen starrten ins Leere. Sie reagierte nicht einmal, als ihre Kinder sich auf die Bank setzten.
Elin, Erik und Edvin aßen schweigend. Es gab Fleischwurst, für jeden zwei Scheiben, und dazu kalte Makkaroni, die mittlerweile zu großen Klumpen verklebt waren. Ein kräftiger Klacks Ketchup half, die Masse zu trennen. Die Gläser waren leer, Elin stand auf, um Wasser zu holen. Marianne sah ihr zu, wie sie drei Gläser mit Wasser füllte und auf den Tisch stellte.
»Seid ihr jetzt wieder lieb?« Ihre Stimme klang schleppend, als wäre sie gerade erst aufgewacht.
Elin atmete tief aus, ihre Brüder versteckten sich hinter ihrem Rücken.
»Es war ein Versehen, Mama, wir wollten das nicht.«
»Willst du jetzt auch noch frech werden?«
Elin schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht, aber …«
»Sei still. Einfach nur still. Ich will kein Wort mehr darüber hören. Iss auf.«
»Tut mir leid, Mama, es war keine Absicht. Wir haben nur ein bisschen verschüttet, und es war meine Schuld, dass der Teller kaputtgegangen ist. Sei auf Erik und Edvin nicht böse.«
»Ständig streitet ihr, muss das denn sein? Die ganze Zeit. Ich halte das nicht mehr aus.« Marianne stöhnte laut auf.
»Wir brauchen heute keine Milch. Wasser geht auch.«
»Ich bin so furchtbar müde.«
»Entschuldige, Mama. Es tut uns leid. Oder? Erik? Edvin?«
Die Brüder nickten stumm. Marianne beugte sich über den Topf mit den Makkaroni, kratzte darin herum und schob sich einen Löffel Nudeln in den Mund.
»Willst du auch einen Teller haben, Mama?« Elin stand auf und ging zum Küchenschrank, aber Marianne hielt sie zurück.
»Nein, esst ihr fertig. Ihr müsst mir nur versprechen, mit dem Streiten aufzuhören. Außerdem müsst ihr bis zum Monatsende Wasser trinken. Wir haben kein Geld mehr.«
Erik und Edvin stocherten auf ihren Tellern herum, und kratzten mit den Gabeln über das braune Porzellan.
»Esst ordentlich.«
»Aber Mama, wir müssen das doch vermischen, die Nudeln sind kalt und kleben zusammen.«
»Das würden sie nicht, wenn ihr nicht gestritten hättet. Ihr sollt ordentlich essen, habe ich gesagt.«
Edvin hörte auf zu essen, Erik hatte seinen Kopf gesenkt und pikste ganz vorsichtig die Nudeln einzeln auf. Eine auf jeden Zinken.
»Warum bist du immer so wütend?«, flüsterte Erik und schielte ängstlich zu Marianne.
»Ihr sollt am Tisch des Königs essen können. Habt ihr das verstanden? Meine Kinder sollen so gute Tischmanieren haben, dass sie jederzeit mit dem König am Tisch sitzen können.«
»Hör bitte auf damit. Das hat Papa immer gesagt, wenn er betrunken war. Wir werden niemals mit dem König an einem Tisch sitzen. Wie soll das gehen?« Elin seufzte und wandte den Blick ab.
Marianne riss ihr das Besteck aus den Händen und schleuderte es auf den Tisch, wo es abprallte und auf den Boden fiel. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich halte es...
Erscheint lt. Verlag | 2.3.2020 |
---|---|
Übersetzer | Kerstin Schöps |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Ett frågetecken är ett halvt hjärta |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Brief • Das rote Adressbuch • eBooks • Erinnerungen • Fotografin • Frauenroman • Gotland • Neuerscheinungen Bücher 2020 • New York • Nina George • Roman • Romane • Schweden • Vergangenheit |
ISBN-10 | 3-641-22564-7 / 3641225647 |
ISBN-13 | 978-3-641-22564-3 / 9783641225643 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich