Schatten der Toten (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2019
704 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-23760-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schatten der Toten - Elisabeth Herrmann
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Judith Kepler kennt den Tod wie wenige andere - denn sie ist Tatortreinigerin. Gerade beginnt sie, über ihr weiteres Leben nachzudenken: Ihr Chef will, dass sie die Firma übernimmt, und ihre Beziehung zu einem Waisenmädchen entwickelt sich auf unerwartete Weise. Doch dann stirbt Eva Kellermann, eine frühere Stasi-Spionin. Ihr letztes Geheimnis setzt eine tödliche Jagd in Gang, auf einen der größten Verbrecher dieser Zeit: Bastide Larcan. Er ist Judiths Vater - der so viel Leid verursachte und sich nie dafür verantworten musste. Seine Spur führt nach Odessa, und Judith muss sich entscheiden: für ihr Leben oder für eine Reise in die Vergangenheit, in der die Schatten der Toten sie erwarten ...

Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.

1


Odessa, Seamen’s Club – Club der Seemänner

Der Anruf kam spät. So spät, dass Bastide Larcan zusammenzuckte, als dass Handy vibrierte. Die Schüssel mit den Flusskrebsen war fast leer. Er wischte sich hastig die Finger an der Papierserviette ab und sah sich unauffällig um. Der schmucklose, gekachelte Raum war gut besetzt an diesem Abend, sogar die Telefonzelle wurde benutzt. Nebenan spielten angetrunkene Seeleute Tischfußball, die Luft war geschwängert von Rauch und Sehnsucht. Der Seamen’s Club im Herzen des Handelshafens war das Wohnzimmer der Matrosen, die Insel der Schiffbrüchigen, der Ankerplatz der Heimatlosen. Die frontsy, die hier strandeten, fremde Segler, sie hatten nicht genug Zeit, um über die Potemkinsche Treppe hinauf in die Stadt zu steigen oder gleich hinter dem Tor zu den lockenden Lichtern und den Kellerbars mit den mehr oder weniger schönen Frauen. Oder nicht genug Geld. Oder keine Papiere. Oder es fehlte einfach an allem zusammen. Die meisten saßen über ihre Smartphones gebeugt, das Wodkaglas in der einen und die elf Zoll Familie in der anderen Hand.

»Ja?«

Brüllende Dieselmotoren. Knatternder Wind. Heisere Rufe. Todesangst.

»Scheiße! Scheiße!«

Poltern. Knarren. Ein Brecher musste das Schiff erwischt haben. Einige Sekunden lang hörte Larcan nichts anderes als die beängstigenden Geräusche von Gefahr. Lebensgefahr.

»Was ist los?«, fragte er leise. Im Aufstehen warf er ein paar Gryfni-Scheine auf den Tisch und griff zu seinem Glas. Der junge Mann hinter dem Tresen nickte ihm zu. Sie kannten sich. Obwohl sie bisher keine drei Worte miteinander gewechselt hatten. Worte galten hier nichts.

»Habt ihr sie?«

»Ja! Ja! Aber sie sind hinter uns her! Scheiße! Verhurte Jungfrau Maria! Ich bring dich um!«

»Moment.«

Larcan verließ den Club. Niemand achtete auf ihn. Nur der Luftzug beim Öffnen der Tür ließ einige Köpfe nach oben rucken. Er war anders. Keiner von ihnen. Vielleicht dachten sie an einen Captain oder Owner oder, was am nächsten lag, einen bisinesmen. Keiner von ihnen und trotzdem Teil dieser Zufallsgemeinschaft, die sich jeden Abend neu zusammenfand. Ihr Interesse verschwand zeitgleich mit dem Schließen der Tür.

Der Sturm hatte vor einer guten halben Stunde das Festland erreicht. Er pfiff über die Container und jaulte um die hohläugigen Fassaden der alten Speicher und trieb diesen Schneeregen vor sich her, der sofort wie mit tausend Nadeln durch jeden noch so schmalen Spalt der Kleidung stach. Die Lampen schaukelten an ihren hohen Masten und ließen Larcans Schatten wie betrunken schwanken.

»Ganz ruhig. Es läuft wie geplant.«

»Du verfickter Hurensohn! Nichts läuft! Die haben die Security erhöht! Vlad hat’s erwischt. Das hast du gewusst, du …«

Es folgte eine Kanonade von Schimpfwörtern und Flüchen, die selbst Larcan nicht geläufig waren. Russisch und Ukrainisch unterschieden sich eben doch. Er suchte Schutz vor den peitschenden Regenschauern um die Ecke im alten Haupteingang des Clubs, der schon lange nicht mehr genutzt wurde.

»Es bleibt wie geplant. Wir treffen uns um Mitternacht in Fontanka.«

Fontanka war ein kleiner Ort an der Schwarzmeerküste, keine dreißig Kilometer nordöstlich die Küstenstraße entlang. Dort hatte Larcan von Ljubko, einem mürrischen Kleinbauern, eine Wellblechhütte gemietet, zum Fischen, wie er behauptet hatte, und noch etwas draufgelegt, als der Mann die elegante Kleidung seines seltsamen Mieters beäugt und schließlich begehrlich auf dessen Armbanduhr geschielt hatte. Seitdem schaute Larcan mindestens zwei Dutzend Mal am Tag instinktiv auf den hellen Streifen an seinem Handgelenk. Aber er brauchte keine Uhr, er brauchte ein Versteck. Letzte Woche hatte er noch eine beachtliche Auswahl an Angelzubehör dort deponiert, das er billig auf dem Markt der tausend Wunder erstanden hatte. Das Interessante an der Hütte war nicht nur die Lage – weit genug von der Küste entfernt, um nicht in den Verdacht einer Urlaubsdatsche zu geraten (dies hätte wiederum Einbrecher neugierig gemacht) –, es war der Keller. Larcan vermutete, dass er weniger zur Vorratshaltung denn zur Unterbringung von Partisanen gedacht gewesen war. Es gab sogar einen Wasseranschluss. Die Matratze und das Bett hatte er bei Nacht angekarrt. Davon musste niemand etwas mitbekommen. Alles war bereit. Tag und Stunde waren gekommen. Der Anruf hätte das Startsignal zu Larcans Aufbruch in eine bessere Zukunft sein sollen. Doch der Mann am anderen Ende der Verbindung schien nicht mehr viel von diesem Plan zu halten.

»Hörst du mir nicht zu, du Vollidiot?« Das Knattern des Windes und sein Atem klangen wie Maschinengewehrfeuer. »Die haben uns auf dem Radar! Vlad blutet wie ein Schwein. Wir müssen an Land! Sofort!«

»Was ist mit …?«

»Arschloch! Nichts ist, kapiert? Du kriegst sie nicht, wenn du mir nicht sofort sagst, wo wir anlegen können. Ich werf sie ins Meer, kapiert? Und dich dazu, wenn ich dich erwische, du Hurensohn! In Einzelteilen! Das hast du gewusst!«

»Maksym, bleib ruhig. Wo genau bist du?«

»Auf dem Wasser, du Arsch! Auf diesem gottverdammten Kahn! Und die haben Zodiacs! Ich piss auf deine Mutter, wenn du mir nicht sofort sagst, wo wir an Land gehen! Ich kill sie! Ich kill euch alle!«

Sie mussten den Plan ändern, aber im Gegensatz zu Maksym hatte Larcan vierzig Jahre Improvisation hinter sich. In Bruchteilen von Sekunden kombinierten seine Synapsen jede verbliebene Möglichkeit und rasteten bei der naheliegendsten ein. »Der Leuchtturm. In zehn Minuten. Macht die Lichter aus.«

»Und was sag ich der Kontrolle?«

»Du hast ein Fischerboot. Da draußen ist Sturm. Das reicht.«

»Wenn du uns nicht reinholst, ich fick dich und deine …«

Larcan versuchte, durch die Regenschleier den Weg hinunter zum alten Hafen zu erkennen, doch die Sicht war miserabel. Er beendete die Verbindung, schlug den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg.

Zu seiner Rechten erhob sich hinter Kränen, Containern und Verwaltungsgebäuden die natürliche Zollmauer: eine Steilwand, unterbrochen nur von der Zufahrtsstraße und der Potemkinschen Treppe, die durch Eisensteins Film in die Geschichte eingegangen war. Darunter, tief in der Erde, die Katakomben. Ein unterirdisches Netz von Schmugglerwegen und Partisanenverstecken, über zweitausend Kilometer lang und Schauplatz verstörender Legenden. Jede Generation erfand sie neu, gemeinsam hatten sie alle die Schreckensvision eines Labyrinths ohne Ausgang, in dem man als Ortsfremder verloren war. Und dass es Wege vom Hafen in die Stadt gab, von denen nur noch wenige wussten …

Zu seiner Linken lag das Passagierterminal mit dem Odessa Hotel, das niemals eingeweiht worden war – eine noble Bauruine mit ungewisser Zukunft, wie so vieles hier. Er dachte an die kleine Kirche am Ende des Terminals, in die er noch bei Tageslicht für ein kurzes Gebet eingekehrt war. An den Weg zurück über schmelzenden Schnee und den kurzen Halt am Bronzedenkmal der Matrosenfrau, an ihren leeren Blick hinaus aufs Meer, dazu verdammt, der ewigen Rivalin zu unterliegen: der See.

Während eisiger Regen seine Wangen ertauben ließ, lief er die Eisenbahntrasse entlang und hob die Hand zum Gruß, als ein Zollfahrzeug seinen Weg kreuzte, kurz verlangsamte und dann weiterfuhr. Er kam an niedrigen Lagerhäusern vorbei, erbaut aus rostrotem Ziegelstein, verziert mit Giebeln und Vorsprüngen, marode und vernachlässigt, aber Zeugen einer Zeit, in der ein Haus nicht nur dem Zweck, sondern auch der Repräsentation der Erbauer diente. Was das über die heutige Architektur aussagte? Er beließ es bei dem Gedanken, wollte ihn aber zu einer späteren Zeit vertiefen.

Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen und in denen er den Mantel und die dünnen Lederschuhe verfluchte, bog er endlich in die schmale Gasse zur Wetterstation ein. Rohre, meterdick und verrostet, führten über seinem Kopf quer über die Straße. Hier und da verdeckte Wellblech die schlimmsten Zeichen des Verfalls. Satellitenschüsseln krönten das Dach, zwei Wagen parkten vor der Station auf zersprungenem Beton, in dem das Schmelzwasser schon wieder zu spiegelglatten Pfützen gefror. Dahinter lag das älteste Haus des Hafens: eine zerfallende Ruine, von der sich der Putz löste und durch deren Ritzen der Wind pfiff. Hier wohnte Djeduschka Mayak mit Großväterchen Leuchtturm nur unzulänglich übersetzt. Ein hochbetagter Mann, weit über achtzig, der sich zusammen mit seiner Frau um das Seefeuer kümmerte, das von Land nur über eine sechshundert Meter lange, kaum zehn Meter breite Mole zu erreichen war. Maria, sein treues Weib, war stocktaub. Djeduschka Mayak – niemand konnte sich mehr an seinen richtigen Namen erinnern – war am Mittag hinaus zum Leuchtturm aufgebrochen und würde dort bis zum Ende des Sturms bleiben. Maria schlief. Oder sparte Strom. Das Haus lag im Dunkeln, wie Larcan erleichtert bemerkte.

Dieses Gebäude auf halbem Weg zur Ruine, das man wirklich nur noch bewohnen konnte, wenn man sein Leben darin verbracht hatte, lag an der alten Kaimauer am westlichen Ende des Hafenbeckens. In früheren Zeiten hatte sich auf dem kleinen Platz davor der Fischmarkt befunden. Wie die Spitze eines Bugs ragte der Flecken hinein in die Bucht, und der Wind erreichte fast Orkanstärke, als Larcan ein paar Meter hinaustrat und in Richtung Leuchtturm spähte. Die Lichter der Stadt umsäumten das weite Ufer zu seiner Linken. Das Passagierterminal und die Hotelruine waren, obwohl kaum ein paar Hundert Meter entfernt, nur noch schemenhaft zu erkennen. Alle Arbeit ruhte. Das Haus hinter ihm blieb dunkel. Für die Leute in der Wetterstation lag diese Ecke im...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2019
Reihe/Serie Judith-Kepler-Roman
Judith-Kepler-Roman
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Berlin • Cleanerin • Deutscher Krimipreis • eBooks • Judith Kepler • Odessa • Sassnitz • Tatortreinigerin • Thriller • Ukraine
ISBN-10 3-641-23760-2 / 3641237602
ISBN-13 978-3-641-23760-8 / 9783641237608
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