Der Glaspavillon (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
400 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-24598-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Glaspavillon - Nicci French
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Die gefährlichen Schatten der Vergangenheit
Es soll ihr Abschiedsgeschenk sein: Jane - Exfrau des ältesten Sohnes der Familie Martello - plant den Bau eines Glaspavillons im Park des Landsitzes. Doch dann wird genau an der Stelle ein Skelett gefunden. Für Jane bricht eine Welt zusammen: Bei der Toten handelt es sich um Natalie, die seit 25 Jahren spurlos verschwundene Tochter des Hauses und Janes beste Freundin. Als sich herausstellt, dass die damals 16-Jährige schwanger war, hüllt sich die Familie in Schweigen. Nur Jane macht sich auf die Suche nach der Lösung des dunklen Geheimnisses - die für sie zu einer beängstigenden Begegnung mit der eigenen Vergangenheit wird ...

Nicci French - hinter diesem Namen verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit über 20 Jahren sorgen sie mit ihren außergewöhnlichen Psychothrillern international für Furore und verkauften weltweit über 8 Mio. Exemplare. Besonders beliebt sind die Bände der Frieda-Klein-Serie. Die beiden leben in Südengland.

1. KAPITEL


Ich schließe die Augen. In meinem Kopf ist alles noch da. Der morgendliche Dunst, der sich den Konturen des Bodens anschmiegt. Die beißende Kälte, die mir in der Nase schmerzt. Ich muss alle Kraft aufbieten, wenn ich mir ins Gedächtnis zurückrufen will, was sich an jenem Tag, an dem wir die Knochen – ihre Knochen – entdeckten, sonst noch zugetragen hatte.

Als ich den rutschigen, grasbewachsenen Abhang vor dem Haus hinabging, sah ich, dass die Arbeiter bereits warteten. Sie hielten Becher mit Tee in den Händen und rauchten. Ihr warmer, feuchter Atem stieg in Dampfwolken vor ihren Gesichtern auf. Zwar war erst Oktober, doch so früh am Morgen konnte man die Sonne hinter den Nebelschwaden nur erahnen. Ich hatte meinen Overall eine Spur zu ordentlich in die Gummistiefel gesteckt, während die Männer natürlich die übliche Kluft der Landbewohner trugen: Jeans, Acrylpullover und schmutzige Lederstiefel. Um sich warm zu halten, traten sie von einem Bein aufs andere, und sie lachten über etwas, das ich nicht hören konnte.

Als sie mich erblickten, verstummten sie sofort. Da wir uns alle seit Jahren kannten, wussten sie nicht so recht, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollten – jetzt, da ich ihr Boss war. Mir hingegen bereitete das keine Schwierigkeiten, weil ich auf Baustellen stets von Männern umgeben war, selbst auf ganz kleinen wie dem sumpfigen Fleckchen Land meines Schwiegervaters in Shropshire. Absurderweise wurde das Anwesen »Stead – Stammsitz« genannt, eine Bezeichnung, die zunächst die ironische Distanz der Familie zu ihrem Gutsherrentum verriet, die aber mit der Zeit immer ernster gemeint wurde.

»Hallo, Jim«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Sie konnten also der Versuchung nicht widerstehen, selbst herzukommen. Freut mich.«

Jim Weston gehörte zu Stead wie das Gewächshaus oder der Keller, in dem selbst an Ostern noch der süße Duft der Äpfel hing. Es gab keinen Gegenstand auf dem Anwesen, mit dem er nicht auf irgendeine Weise verbunden war. Er hatte die Fensterrahmen ausgewechselt und gestrichen und an glühendheißen Augusttagen mit nacktem Oberkörper das Dach gedeckt. Bei jedem Malheur – egal, ob es sich um den Schimmelbefall der Mauer, einen Stromausfall oder eine Überschwemmung handelte – rief Alan Jim aus Westbury zu Hilfe. Und stets weigerte sich Jim zu kommen. Zuviel zu tun, war die übliche Antwort. Doch eine Stunde später rumpelte sein klappriger Lieferwagen die Einfahrt hinauf. Dann besah Jim sich nachdenklich den Schaden, klopfte mit traurigem Kopfschütteln seine Pfeife aus und murmelte etwas von modernem unbrauchbaren Zeug. »Mal seh’n, was ich da tun kann«, sagte er schließlich. »Irgendwie werde ich es schon zusammenflicken.«

Es gehörte zu Jim Westons Eigenart, dass er nie etwas zum Listenpreis oder überhaupt für Geld kaufte, wenn es sich durch Gefälligkeit, im Tausch oder sogar über die verschlungeneren Pfade des Schwarzmarktes von Shropshire besorgen ließ. Als er meinen Plan für den Pavillon sah, wurde sein Gesicht lang und länger. Das Gästehaus – gedacht für Kinder, Kindeskinder, Ex-Frauen und sonstige Verwandte, die sich zu den Familienfeiern der Martellos zusammenfanden – war mein Abschiedsgeschenk an die Familie; ein Traumhaus, wie ich es für mich selbst bauen würde. Ich hatte mir die relativ geschützte Lage des Grundstücks zunutze gemacht und einen Pavillon von absoluter Transparenz entworfen. Nur Streben, Deckenträger und Glas. Es war ein Wunder an Funktionalität. Als ich Claud, meinem zukünftigen Ex-Ehemann, die Pläne zeigte, fuhr er sich zerstreut mit den Fingern durch sein schütteres braunes Haar und murmelte etwas von wirklich interessant und gut gelöst, was seine übliche Reaktion auf alles und jedes war; selbst meine Ankündigung, ich hätte mich zur Scheidung entschlossen, hatte er in diesem Stil aufgenommen. Ich hoffte, dass wenigstens sein Bruder Theo meine Absicht erkannte. Ihn erinnerte der Entwurf an seine alten Metallbaukästen, woraufhin ich erwiderte: »Ja, genau. Hübsch, nicht wahr?« Dabei war seine Bemerkung als Beleidigung gemeint. Schließlich unterbreitete ich den Plan dem Patriarchen selbst, Alan Martello, meinem Schwiegervater.

»Was ist das?« fragte er. »Ein Metallrahmen? Und wo ist das, was drum herum gebaut wird? Kannst du davon nicht auch eine Zeichnung anfertigen?«

»Das ist das Haus, Alan.«

Er schnaubte verächtlich in seinen grauen Bart. »Ich will nichts, was uns schwedische Architekturkritiker auf den Hals hetzt. Ich möchte etwas, in dem es sich wohnen lässt. Nimm das Stück Papier wieder mit und bau das Haus in Helsinki oder sonst wo weit weg von hier. Sicher wird dir irgendein durch Steuergelder finanziertes Komitee dafür einen Preis verleihen. Wenn wir schon so ein verdammtes Haus in unseren Garten stellen müssen – weshalb, will mir sowieso nicht ganz in den Kopf –, dann eins im englischen Landhausstil, aus Ziegeln und Sandstein oder einem anderen anständigen Material aus der Gegend.«

»Das klingt aber nicht nach dem zornigen jungen Alan Martello«, flötete ich. »Neue Wege in der Architektur, Innovation – hattest du dich nicht immer für so was begeistert?«

»Ich bin nicht mehr jung und auch nicht mehr zornig, außer über dich. Mach aus dieser strukturalistischen Scheußlichkeit etwas, das ich als Haus erkennen kann.«

So war Alan: umwerfend barsch und charmant. Ich war dankbar, dass er mich immer noch so liebevoll ausschelten konnte, obwohl ich im Begriff war, mich von seinem Sohn scheiden zu lassen. Trotzdem hielt ich hartnäckig an meinem Entwurf fest. Schließlich gab Alan nach, wohl auch vom Rest der Familie sanft dazu gedrängt.

»Was ist das hier, Mrs. Martello?« hatte Jim Weston beim Anblick des Bauplans gefragt und mit seiner Pfeife auf die Metallkonstruktion gedeutet.

»Jim, bitte nennen Sie mich Jane. Das sind Metallträger.«

»Hmm.« Er schob die Pfeife wieder zwischen die Lippen. »Geht das nicht auch mit Stein?«

»Jim, darüber können wir jetzt nicht diskutieren. Es gibt kein Zurück mehr. Alles ist bereits in Auftrag gegeben und bezahlt.«

»Hmm«, brummte er.

»Hier heben wir aus, nur einige Meter tief …«

»Nur«, murmelte Jim.

»Dann die Betonsockel, hier und hier; der Unterbau, die Isolierschicht und die Membrane, darüber der Estrich, anschließend das geflieste Erdgeschoß. Die Metallträger verankern, der Rest ist ein Kinderspiel.«

»Isolierschicht?« wiederholte Jim misstrauisch.

»Ja. Unglücklicherweise gibt es seit 1875 ein Gesundheitsgesetz, an das wir uns bis heute zu halten haben.«

Jetzt, zu Beginn des ersten Arbeitstages, ähnelte Jim mehr einem knorrigen Baum als einem Mann, der hergekommen war, um die Arbeiten zu überwachen. Sein Gesicht, das zeitlebens jedem Wetter ausgesetzt gewesen war, erinnerte an die Haut einer Kröte. Haarbüschel sprossen ihm aus Nase und Ohren. Weil er so alt war, bestand seine Rolle darin, seinen Sohn und seinen Neffen herumzukommandieren; ihre Rolle wiederum schrieb ihnen vor, seine Anweisungen nicht zu befolgen. Ich begrüßte die beiden jüngeren Männer ebenfalls.

»Was habe ich da gehört? Sie wollen auch graben?« fragte Jim misstrauisch.

»Nur den ersten Spatenstich. Ich habe gerade gesagt, ich möchte einen Spatenstich tun, wenn’s recht ist. Es ist wichtig für mich.«

Während meiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Architektin habe ich mir etwas angewöhnt, das schon fast einem Aberglauben gleichkommt: Ich muss beim ersten Spatenstich dabei sein. Dies ist tatsächlich ein Moment rein sinnlichen Vergnügens, in dem ich mir oft wünsche, ich könnte mit eigenen Händen graben. Nachdem man Monate, manchmal sogar Jahre an der Erstellung von Plänen gearbeitet, nervöse Auftraggeber besänftigt und mit sturen Beamten im Baureferat verhandelt hat, nach all den Kompromissen und dem Papierkrieg tut es gut, nach draußen zu gehen und sich daran zu erinnern, dass es eigentlich nur um Erde und Ziegel und das richtige Anbringen der Rohre geht, damit sie im Winter nicht platzen.

Das Schönste daran sind die zehn bis fünfzehn Meter tiefen Aushebungen, die den eigentlichen Bauarbeiten vorausgehen. Man steht am Rand eines Baulochs im Herzen von London und blickt auf Jahrtausende vergangener Menschenleben. Zuweilen ahnt man noch die Überreste eines alten Hauses, und mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach Bauunternehmer heimlich Beton über einen alten Fußboden aus der Römerzeit gegossen haben, um einer Auseinandersetzung mit den Archäologen aus dem Weg zu gehen. Denn oft muss man endlos warten, bis sie ihre Untersuchungen abgeschlossen haben und die Genehmigung zum Weiterbau erteilen. Wir errichten unsere Gebäude auf den Ruinen, die längst vergessene Vorfahren hinterlassen haben, und in einigen hundert oder tausend Jahren werden unsere Nachkommen ebenso vorgehen und auf unseren verrosteten Deckenträgern und dem bröckeligen Beton etwas Neues hochziehen. Auf unseren Toten.

Das hier würde nur ein winziges Loch werden, ein Kratzer an der Oberfläche. John reichte mir einen Spaten. Ich trat in die Mitte des rechteckigen Bauareals, das ich tags zuvor ausgemessen und mit einem Seil abgegrenzt hatte, und stieß den Spaten in den Boden.

»Pass auf deine Nägel auf, Mädchen«, hörte ich Jim hinter mir sagen.

Ich drückte den Spatengriff entschlossen nach unten und dann zu mir. Das Rasenstück wurde angehoben und legte ein keilförmiges Stückchen Erde und Lehm frei.

»Schön weich«, bemerkte ich.

»Die Jungs machen den Rest«, meinte Jim. »Wenn es Ihnen recht ist.«

Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. Es war Theo. In meiner Erinnerung ist Theo Martello siebzehn Jahre alt; er trägt das...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2018
Übersetzer Petra Hrabak, Barbara Reitz, Christine Strüh
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel the Memory Game
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Blauer Montag • Blutroter Sonntag • Böser Samstag • Der achte Tag • Dunkler Donnerstag • eBooks • Eisiger Dienstag • Frieda Klein • Krimi • Kriminalromane • Krimis • memory game • Mörderischer Freitag • Psychothriller • Schwarzer Mittwoch • Sommermörder • Thriller
ISBN-10 3-641-24598-2 / 3641245982
ISBN-13 978-3-641-24598-6 / 9783641245986
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