»Das Innere wird durch die äußeren Umstände nicht berührt« (eBook)

Hanne Trautwein – Hermann Lenz. Der Briefwechsel 1937-1946
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2018 | 1. Auflage
1000 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76039-9 (ISBN)

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»Das Innere wird durch die äußeren Umstände nicht berührt« - Hermann Lenz, Hanne Trautwein
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Hanne Trautwein und Hermann Lenz lernten sich, beide Anfang zwanzig, 1937 im Kunsthistorischen Institut der Universität München kennen: er angehender Schriftsteller, sie Studentin der Kunstgeschichte, Halbjüdin. Sie schrieben sich zunächst in den Semesterferienn, dann regelmäßig, als Hermann Lenz einberufen wurde und bis zum Ende des Krieges Soldat in der Wehrmacht blieb. Er, der sich fest vorgenommen hatte, im Krieg keinen Menschen zu erschießen, war in vorderster Front im Russlandfeldzug mit dabei. Hanne Trautwein entging der Verfolgung dank einer Anstellung als Sachverständige für Beutekunst bei einem einflussreichen Kunsthändler. Sie ermöglichen einander das Überleben, indem sie in utopischen Daseinsentwürfen sich eine Gegenwelt entwerfen zu den realen Schrecknissen um sie herum. Der Briefwechsel wird bis 1946 geführt, als Hermann Lenz aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, Hanne Trautwein zu ihm nach Stuttgart zieht und die beiden heiraten.

Die hier erstmals veröffentlichten 577 Briefe und Karten, die Hanne und Hermann Lenz ausgetauscht haben, sind nicht nur ein bedeutendes zeithistorisches Dokument, sondern zeigen auch in ganz besonderer Weise die Wirkungskraft der Dichtung. Die deutsche Literatur kennt aus dieser dramatischen Zeit an Zeugnissen einer deutsch-jüdischen Verbindung nichts Vergleichbares.



<p>Hermann Lenz wurde am 26. Februar 1913 in Stuttgart geboren und starb am 12. Mai 1998 in M&uuml;nchen. Nach dem Abitur im Jahr 1931 studierte Lenz Theologie in T&uuml;bingen und anschlie&szlig;end von 1933 bis 1940 Kunstgeschichte, Arch&auml;ologie und Germanistik in Heidelberg und M&uuml;nchen. Von 1940 bis 1946 war er als Soldat in Frankreich und Russland stationiert und kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Seine schriftstellerische Arbeit begann Lenz 1946 in Stuttgart. Im selben Jahr heiratete er die Kunsthistorikerin Hanne Trautwein. Zu seinen Hauptwerken geh&ouml;ren die Romane <em>Andere Tage</em> und <em>Neue Zeit</em> um sein Alter Ego Eugen Rapp. Von 1951 bis 1971 war Lenz Sekret&auml;r des S&uuml;ddeutschen Schriftstellerverbandes.1972 begegnete er zum erste Mal Peter Handke. Ab 1975 lebte Lenz in M&uuml;nchen. Er erhielt zahlreiche Preise f&uuml;r seine Werke.</p>

Hermann Lenz wurde am 26. Februar 1913 in Stuttgart geboren und starb am 12. Mai 1998 in München. Nach dem Abitur im Jahr 1931 studierte Lenz Theologie in Tübingen und anschließend von 1933 bis 1940 Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in Heidelberg und München. Von 1940 bis 1946 war er als Soldat in Frankreich und Russland stationiert und kurze Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Seine schriftstellerische Arbeit begann Lenz 1946 in Stuttgart. Im selben Jahr heiratete er die Kunsthistorikerin Hanne Trautwein. Zu seinen Hauptwerken gehören die Romane Andere Tage und Neue Zeit um sein Alter Ego Eugen Rapp. Von 1951 bis 1971 war Lenz Sekretär des Süddeutschen Schriftstellerverbandes.1972 begegnete er zum erste Mal Peter Handke. Ab 1975 lebte Lenz in München. Er erhielt zahlreiche Preise für seine Werke. Johanna (Hanne) Lenz, geb. Trautwein, wurde am 24. Juli 1915 in München geboren und starb am 26. Januar 2010 ebenda. Sie war Kunsthistorikerin und arbeitete als Verlagslektorin. 1946 veröffentlichte sie die Erzählungen Das Nachtkarussell. Michael Schwidtal, geboren 1954, lebt in Frankfurt am Main. Er ist Literatur- und Kulturwissenschaftler.

[1]

Stuttgart, 26. Dez. 1937.

Liebes Fräulein Trautwein,

ich bin erst donnerstags von München weggefahren. Mein Zug war mit Skifahrern vollgestopft, im Gang mußte man über Koffer und Skistöcke hinwegklettern und ich fand mir noch in einem Nichtraucher-Abteil ein enges Plätzchen zwischen zwei geschminkten Damen; die haben mir nicht sehr gefallen. Ich bin deshalb bald wieder auf den Gang hinausgegangen, habe mich zum Speisewagen durchgedrückt und dort Kaffee getrunken. Ich wollte dort in der »Corona«1 lesen, die ich mir vor meiner Abfahrt gekauft hatte, aber weil so viele Leute um mich herumsaßen und es auch zu laut war, ging es nicht.

Sie haben währenddem vielleicht in einem Manuskript von mir gelesen oder im Seminar2 gesessen, in einer Bücherburg an Ihrem Platz am Fenster, und wie Herr Kühnemann3 Zeichnungen angestarrt. — Ist das eine Beleidigung? — Aber, ich denke mir, daß Sie die Feiertage arbeitsam im Seminar verbringen, während ich in meinem Zimmer herumgehe, eine Zigarette rauche, ein Buch aus meinem Regal ziehe und mich damit an's Fenster stelle; oder ich sitze am Schreibtisch und träume vor mich hin.

Ich denke dann in der Vergangenheit herum. Eine junge Dame fällt mir ein, sie hat hellgraue, dunkel umschattete Augen, schwarzes Haar und einen weichen Mund: ein Profil, von dem ich immer denke, daß es so etwa der Tonio Kröger4 besessen haben mag. Die junge Dame trägt einen schwarz-weißgestreiften Mantel, einen dunkelblauen Hut und geht die Leopoldstraße hinter dem Siegestor hinauf, dort, wo die hohen Pappeln stehen; ein junger Mann darf auch noch nebenher mitlaufen, doch wird von ihm jetzt nicht gesprochen. Er ist auch bloß ein junger Dichter und die Dame hält ihn in geziemender Entfernung.5

Es ist ein klarer Wintertag Mitte Dezember, der Schnee schmilzt auf dem Trottoir und spiegelt wie Perlmutter den hellblauen Himmel wider, die zarten Schatten der entlaubten Pappeln sind über den Weg gelegt. Die beiden jungen Leute plaudern lustig, ja, es scheint, als könne ihr der junge Mann mit seiner Art, die Dinge mit wehmütiger Ironie zu betrachten, eine kleine Freude machen. Oder nicht? Aber ja, die Dame hört soweit ganz gern zu.

Dann gehen sie in die Buchhandlung Lehmkuhl,6 wo sich die Dame die Gedichte ihres schüchternen Begleiters geben läßt, denn der junge Dichter ist bereits gedruckt.7 Es entspannt sich dann ein edler Wettstreit über die fünfzig Pfennig, die das Heftchen kostet, der Dichter sagt: »Ach was, Sie sollen doch für mich kein Geld ausgeben!« Doch die junge Dame stampft energisch mit dem Absatz auf, zieht einen roten Geldbeutel aus der Mappe, reißt ihn auf (denn er hat Reißverschluß) und zahlt.

Dann verlassen sie die Buchhandlung.

Draußen sagt der unscheinbare junge Mann: »Nein, das passiert doch selten, daß man den Dichter gleich mitbringt, wenn man ein Buch kauft« und die junge Dame nickt; sie hält es für gar nichts Besonders, findet es im Gegenteil ganz in der Ordnung, nimmt es überlegen hin … Nun ja, sie ist halt auch die große Dame und ihr Begleiter ein bescheidener junger Mann.

Er darf sie dann noch bis nach Haus begleiten, bis an den Anfang der Mannheimerstraße;8 dort zieht er seinen Hut und sagt Adieu … Und so ist es am nächsten Tag und auch am übernächsten, es bildet sich da sozusagen eine Tradition heraus. Der Bub darf beinah jeden Tag die Dame heimbegleiten.

Er lädt sie dann sogar einmal zu sich zum Kaffee ein.

Da sitzen sie in seiner altmodischen Stube, die Dame blättert lässig in den Manuskripten, die der junge Dichter aus seinem Schreibtisch geholt hat, und findet seine Arbeit so im Ganzen recht anständig; darüber ist er sehr erfreut. Dann plaudert sie vom Arbeitsdienst und erzählt, wie sie Mist aufgeladen hat; man stelle sich vor: ihre zarten Finger haben den Griff einer Mistgabel umspannt, der bescheidene Dichter neben ihr auf dem Sopha kann es eigentlich kaum glauben …9

So träume ich hier in meiner Stuttgarter Stube.10 Vielleicht kennen Sie die zwei Personen, denen ich hier am Schreibtisch manchmal zuschaue, an einem kalten grauen Nachmittag, wenn es draußen regnet. Es ist gemütlich warm im Zimmer, Hofmannsthal schaut von der Wand auf mich herunter und unterm Schreiben oder Lesen sehe ich durch das Atelierfenster auf dem Bild von Jakob Alt die sanften Hügel um Wien vor mir liegen.11 Es ist schon hübsch, ich fühle mich hier wohl, aber wenn ich mit Ihnen zwischendurch ein wenig plaudern könnte, würde mir alles noch mehr gefallen. Wir würden dann in meinen Büchern herumwühlen. Sie finden immer wieder etwas, was Sie noch mehr interessierte und so ginge dann der Nachmittag vorbei. Abends müßten wir natürlich in's Theater; oder wir würden bei der Lampe um den Schreibtisch sitzen, Sie dürften in meinem bequemen Schreibtischstuhl Platz nehmen und ich würde Ihnen gegenüber sitzen.

Statt dessen vergleichen Sie eifrig Lippmann Nummer so und so viel mit Winkler Nummer so und so viel.12 Ich sehe Sie genau vor mir, wie Sie mit gerunzelten Brauen im Institut sitzen, alles ist mäuschenstill, nur das Geräusch des tickenden Uhrzeigers, welcher vorwärtsrückt, ist ab und zu zu hören; oder Herr Dozent Doktor Keller13 rasselt mit dem Schlüsselbund hinter der Tür zum Assistentenzimmer und geht mit geschäftigen wichtigen Schritten durch das Seminar, den Kopf im Nacken vorgebeugt, so gleichsam schnüffelnd … Denn mir kommt's immer vor, als habe Dozent Doktor Keller immer etwas zu beriechen.

Nein, ich will nicht boshaft sein und Ihnen die große Verehrung schmälern, die Sie für Herrn Dozent Keller hegen; er ist im Grunde doch ein lieber Mann und, mit Herrn Kühnemann verglichen, eine fast mondäne Erscheinung. Hab ich nicht recht? Ich sehe, wie Sie mir mit Ihren Augen zublinzeln — und mir Recht geben müssen. Und dabei denke ich, daß es künftig einfach nicht mehr vorzukommen hat, daß diese Augen Bindehautentzündung kriegen und von einer scheußlichen blauen Brille verdeckt werden.

Diese Augen dürfen auch von jetzt ab nie mehr Traurigkeit verraten. Ich möchte einmal eine lustige Novelle schreiben, die Sie für alle Zeiten fröhlich macht, aber ich weiß nicht, ob mir das gelingen wird. Jedenfalls freue ich mich auf das nächste Gespräch mit Ihnen, wir werden dazu wieder einmal auf meiner Stube Kaffee trinken müssen; ich setze mich dann in den abgeschabten Lehnstuhl und Sie nehmen auf der Couch Platz.

Damit höre ich jetzt auf zu schwätzen. Es hat ja lang genug gedauert, mein Geschwätz ist Ihnen bereits nach der ersten Seite auf die Nerven gefallen und ich kann Ihnen jetzt nur noch rasch ein gutes neues Jahr wünschen: mögen Sie endlich die Villa am Gardasee bekommen, von der wir immer träumen! — Nicht wahr, Sie stellen mich dann als Portier in Ihrem großen Hause an, ich mache dann für jeden Anlaß ein entsprechendes Gedicht, bin nebenher Haus- und Hofdichter, der das Hochzeitscarmen usw. macht! —

Mit herzlichen Grüßen

Ihr ergebener

Hermann Lenz.

Für die Bücher werde ich natürlich horrende Preise verlangen! Ich habe zwei für Sie auftreiben können (Schnitzler, Casanovas Heimfahrt und Traum und Schicksal für 2 M 50). Die andern kommen aus meinem Besitz. Ich weiß auch, daß ich eine große Schuld auf mich lade, indem ich Sie so mit jüdischem Literatengeist verseuche, aber Sie wollten es ja nicht anders! Lesen Sie also nur »Casanovas Heimfahrt«, diese mit elektrisch zuckender Spannung geladene Novelle, die mit der Müdigkeit des Alternden getränkt ist. Und dann müssen Sie in dem Band »Dämmerseelen« die Erzählung »Das Neue Lied« lesen! Man spürt darin die ganze Traurigkeit eines späten Frühlingsabends mit seinem bezaubernden Duft von violettem Flieder und Jasmin, mit seinen Drehorgelliedern in alten Höfen und dem weichen milden Hauch des Abendwindes, der über die Dächer weht. Und dann natürlich »Spiel im...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bombardierung Münchens • Briefe • Deutsche Geschichte • Deutsche Literatur • Jean-Paul-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1991 • Judenverfolgung • Kunsthandel • Münchner Literaturpreis 1995 • Nationalsozialismus • Ostfront • Raubkunst • Würth-Preis für Europäische Literatur 1997 • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-458-76039-3 / 3458760393
ISBN-13 978-3-458-76039-9 / 9783458760399
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