Das grüne Licht der Steppen (eBook)

Tagebuch einer Sibirienreise Mit einem Auszug aus dem privaten Tagebuch
eBook Download: EPUB
2018
170 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1458-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das grüne Licht der Steppen - Brigitte Reimann
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Das Sibirien-Tagebuch der Brigitte Reimann. Dieses literarische Tagebuch berichtet über eines der eindrücklichsten Erlebnisse Brigitte Reimanns: ihre Reise nach Sibirien im Sommer 1964 mit einer Delegation des FDJ-Zentralrates. Mit all ihrer Begeisterungsfähigkeit und sinnlichen Beschreibungskunst schildert sie Menschen voller Elan unter widrigsten Bedingungen und die grandiose Landschaft. Gleichzeitig entsteht eine Reportage über das Reisen schlechthin und ein weiteres Selbstporträt Brigitte Reimanns.

Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.

Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

Hoyerswerda


Hoyerswerda, 4. 7. 64

Gestern abend rief Kurt an: Pack deinen Koffer, Dienstag fliegen wir nach Sibirien. Eine Delegation vom Zentralrat, du wirst schreiben. Keine Ausreden, keine Bedenkzeit. Route: Moskau, Zelinograd, Nowosibirsk, Irkutsk, Bratsk, Moskau. Nimm ein paar Pullover mit, in Sibirien kann es kalt sein. (Bei Sibirien fällt mir ohnehin zuerst Kälte ein.) Und damit du es gleich weißt: Du mußt arbeiten bis zum Umfallen …

Dieser Mensch ist wahnsinnig. In Gottes Namen – ja, sagte ich. Eine halbe Stunde war ich ziemlich niedergeschlagen, unsere Ferienpläne sind wieder mal geplatzt. Hans trug es mit guter Haltung. Nächste Woche wollten wir trampen, die kleine Schwester wartet mit dem Segelboot am Schweriner See. Stille, bewaldete Ufer … wir hatten uns auf ein Leben in freier Wildbahn gefreut, ohne Terminkalender und Radio und Telefon, auf Krebsjagden und geklaute Fische und die bedenklichen Schnecken-Menüs, die Dorli uns vorsetzen wollte.

Versuche zusammenzuschleppen, was ich über Sibirien weiß. Aus irgendeinem Grunde bin ich auf Nowosibirsk besonders neugierig. Kisch schreibt in »China geheim«, daß die Russen diese Stadt, stolz auf ihr rapides Wachstum, Sib-Chicago nennen; aber das war 1932, Hans erzählte mir von Professor Lawrentjew und seinen Mathematik-Olympiaden. Im ND fand ich eine Menge Zahlen, aber ich kann nicht mehr den Respekt vor Zahlen aufbringen, seit das Wort Mega zu meinem Sprachschatz gehört, und ich sehe auch nicht das Bratsker Meer, wenn ich lese, daß es jetzt schon 75 Milliarden Kubikmeter Wasser faßt. Ich muß mir das immer umrechnen, um einen Begriff von groß, schnell, modern zu bekommen (modernes Reisen: von Berlin nach Moskau – 2 000 Kilometer – sind wir zwei Stunden unterwegs; von Hoyerswerda nach Berlin – 200 Kilometer – fahre ich vier Stunden). Ich erinnere mich an Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, an die »Auferstehung« von Tolstoi … Kolonnen von Sträflingen, die schielende Maslowa … das Lied vom herrlichen Baikalsee, den ein Verbannter auf einer Lachstonne zwingen will … Kusnezow habe ich gelesen. Axjonow, Arbusows »Irkutsker Geschichte«. Irgendwo sah ich ein Foto – vielleicht war es auch ein Ölgemälde – von der Angara, an deren Ufer junge Leute sitzen und Akkordeon spielen … Lieber Himmel, ich habe Vorstellungen von der Güteklasse: Alle Franzosen sind unmoralisch. Alle Italiener essen Makkaroni und fahren immerzu Gondel.

Vorhin im Conversations-Lexikon von 1864 nachgelesen: »Sibirien, ein 262 746 Q.-M. großes, dem Kaiser von Rußland gehöriges Land, welches, im Süden vom Altai und den damit zusammenhängenden Bergketten, im W. vom Ural umgürtet, seine Hauptabdachung nordwärts nach dem arktischen Ocean, nordöstl. nach den nördl. Teilen des Stillen Oceans hat und somit den ganzen Norden Asiens begreift. Während die nördl. Gebiete in stetem Eise starren, sind die südlichsten Teile mit den üppigsten Laubwaldungen geschmückt. Ackerbau und Viehzucht wird bis zu 60 Grad betrieben. Unter den Riesenströmen des Landes zeichnen sich Ob, Jenissei und Lena aus, sowie der für das östl. S. wichtige Amur, unter zahlreichen Seen der Baikalsee. Die Gebirge liefern außer reichen Erzen auch schönes Holz; Wild und kostbares Pelzwerk (Zobel, Hermeline, schwarze Füchse usw.) gehören zu den wichtigsten Producten S.s. Fischfang und Jagd sind im höheren Norden die einzigen Erwerbszweige. Doch auch im Süden ist die Fabrikbeschäftigung von keiner großen Bedeutung …« Na, und so weiter. Das ist alles nicht sehr ergiebig. Vielleicht gibt es auch keine Bären und Wölfe mehr, bloß noch so ein paar erschrockene alte Dekorationsstücke.

Berlin, 7. 7.

Heute mittag startet unsere Maschine.

Seit gestern in Berlin. Zuerst bei Kurt, der mir allerhand gute Ratschläge gab – das ist ja meine erste Delegationsreise – und forderte: exakt arbeiten; fragen, fragen, fragen; nichts mit den Maßstäben von Hoyerswerda und Berlin W 8 messen (aber das habe ich mir schon letztes Jahr in Moskau abgewöhnt); zusammennehmen, durchhalten, fleißig sein, nicht jammern … kurzum: bester FORUM-Stil, und ich schrumpfte ordentlich zusammen.

Mittags, bei Horst Schumann, sah ich die anderen: Mitarbeiter beim Zentralrat, die Sekretäre von Leuna und Gera, den Siggi Lorenz von Berlin und Thomas Billhardt (in der letzten FORUM-Nummer fielen mir seine charmanten und intelligenten Bilder vom Deutschlandtreffen auf); ich kannte nur – vom Titelblatt einer Illustrierten – die junge Ingenieurin aus Schwedt. Den Dieter K. fand ich gleich heraus, obgleich ich ihn vorher nie gesehen habe; aufregendes Wiedererkennen: die gleiche Kopfhaltung wie Hans, wenn er gesammelt zuhört, der gleiche Stimmklang …

Sonntag war Bergmannstag. Unter dem Fenster lärmte ein Jahrmarkt, auf dem Platz, wo 1970 unser Theater gebaut werden soll. Neulich sagte der Professor, daß ein Wettbewerb um die Projektierung des Zentrums ausgeschrieben werde. Aber müßte ein Architekt nicht sehr genau die geistige und soziale Struktur einer Stadt kennen, bevor er ihr die Räume für Erholung und Begegnung entwirft? Möglich, daß ein anspruchsvolles Theater leer stehen würde; wahrscheinlich brauchten wir etwas in der Art zwischen Theater, Kino und Konzertcafé. Wir träumen immer noch von einem unbestechlich arbeitenden Forscherteam: Soziologen, Ökonomen, Künstlern und Kybernetikern … Hoffentlich finde ich drüben ein bißchen Zeit, mich in den neuen Städten umzutun.

Seit ich den Roman angefangen habe, verbringe ich, statt zu schreiben, die meiste Zeit damit, die Wege zu laufen, die uferlosen Diskussionen zu führen, die meiner Franziska bevorstehen. Das arme Mädchen … ich kenne schon genug Leute, die ein vernünftiges Vorhaben mit der stolzen Perspektive erschlagen werden. Die laute, taube Geschäftigkeit macht mich verrückt, mehr als die müde Resignation des Architekten R., der, als ich ihm von Franziskas leidenschaftlichen Entwürfen erzählte, die Schultern zuckte und sagte: »Ach ja, die jungen Leute haben immer große Rosinen im Kopf … aber die Praxis sieht ganz anders aus, und sie laufen uns weg, weil sie Bauelemente zählen müssen.« Wie, sollte es denn nicht möglich sein, Ehrgeiz und Feuer und alle strahlenden Pläne der Jugend zu bewahren und zu verwirklichen, später, im Leben, in der Praxis, im Alltag?

… Nachmittags liefen wir auf dem Rummel herum, zwischen Waffelbuden und Schimmel und Schwan, und das war noch lustiger, als aus einem Fenster im 7. Stock zuzuschauen: wir hörten hundertmal denselben Schlager aus der »Westside-Story« und amüsierten uns vor einer Schaubude, aber dann gingen wir doch nicht rein, weil ich Angst hatte, wir würden etwas niederdrückend Fatales sehen, alt gewordene Artisten und sächsische Inder und zotige Clownerien. Es gab Zuckerwatte und Karussells und einen Fotografen mit einem ausgestopften Löwen, und wir fühlten uns ein bißchen wie früher auf den lauten, bunten, reißerischen Jahrmärkten unserer Kindheit.

Ich war ganz erstaunt zu sehen, wie viele hübsche Mädchen und Jungen herangewachsen sind (diese beschmierten Knirpse, über die man vor fünf Jahren in allen Straßenecken stolperte), wie viele Autos und Motorräder in der Magistrale parkten, und daß es weniger schwangere Frauen gibt als in den ersten Jahren – damals erfanden wir Witzserien über die Luft in Hoy – und bloß drei oder vier Betrunkene. In der Milchbar fing ich auf einmal an zu heulen, vorweggenommenes Heimweh …

Unterwegs nach Moskau

Vorhin Abschied auf dem Flugplatz Schönefeld: ein Spalier von Mädchen in blauen Blusen, Jungen Pionieren mit Blumensträußen, Fotografen, Kameraleuten vom Fernsehen … großer Bahnhof. Ich war ganz bestürzt, weil ich jetzt erst merkte, zu welch einem festlichen und gewichtigen Unternehmen wir aufgebrochen sind.

Dann rollte die TU zur Startbahn, und nun war mir sehr unfeierlich zumute: Ich habe teuflische Angst vorm Fliegen. Ich spürte bis in die Haarwurzeln das Zittern der Maschine und das hohe, heulende Pfeifen, das an die Musik zu utopischen Filmen erinnert … Schließlich zwang ich mich, nur aus Produktionsethos, auf die Erde runterzusehen: eine planvolle Zeichnung mit geraden Straßen, geometrisch geteilten Feldern, schwarzgrünem Wald, einer sternförmig geordneten Stadt.

Der Höhenmesser zeigt jetzt auf 9 000 Meter, wir fliegen über den Wolken. Manchmal sieht man durch einen blauen Riß die Erde, bräunlich und entrückt, aber die meiste Zeit schwimmen wir über wildem Weiß, aus dem sich grelle Hügel erheben wie Eisberge, eine Polarlandschaft unter einem Himmel von dunklem, violett-grauem Blau, das Weltraum ahnen läßt, ein Blau, das ich auf der Erde nie gesehen habe, nicht einmal an hohen reinen Herbsttagen. Die Tragfläche scheint unbeweglich in der Luft zu stehen. Ein paarmal dreht sich das Flugzeug, und dann dreht sich das ganze Himmelsgewölbe, Riesenradfahrt, ein ziehendes Gefühl wie im Auto auf glatter Betonstraße, wenn der Fahrer das Gaspedal durchtritt.

Wir stellen die Uhr zwei Stunden vor, auf Moskauer Zeit.

Peredjelkino bei Moskau, 8. 7.

Im Gästehaus des Komsomol. Unmittelbar neben dem Garten läuft der Schienenstrang der elektrischen Vorortbahn. Peredjelkino ist eine Sommersiedlung, berühmt, sagt man uns, durch die vielen Schriftsteller und Dichter, die hier ihre Datsche haben.

Empfang auf dem Flugplatz Scheremetjewo: Blumen, Umarmungen. Für die meisten von uns ist es eine Wiederbegegnung mit Moskau. Aber auch der Neuling hat nicht das vertrackte Gefühl von Ausland und Fremde – unbeschadet...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2018
Illustrationen Thomas Billhardt
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte 1964 • 20. Jahrhundert • 70er Jahre • Brigitte Reimann • DDR • Erinnerungen • Erlebnisbericht • Gesellschaft • Kultur • Landschaft • Natur • Reimann • Reise • Reisebericht • Schriftstellerin • Sibirien • Tagebuch
ISBN-10 3-8412-1458-4 / 3841214584
ISBN-13 978-3-8412-1458-4 / 9783841214584
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