Slow Horses (eBook)
480 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60915-8 (ISBN)
Mick Herron, geboren 1963 in Newcastle-upon-Tyne, studierte Englische Literatur in Oxford, wo er auch lebt. Seine in London spielende ?Slow Horses?-Serie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem CWA Gold Dagger for Best Crime Novel, dem Steel Dagger for Best Thriller und dem Ellery Queen Readers Award, und mit Starbesetzung von Apple TV+ verfilmt.
{23}TEIL EINS
Slough House
{25}2
So viel soll schon einmal zu Anfang verraten werden: Slough House befindet sich weder in Slough, noch ist es ein Wohnhaus. Seine Eingangstür lauert in einer Nische zwischen Geschäftsgebäuden im Viertel Finsbury, einen Steinwurf von der U-Bahn-Station Barbican entfernt. Zu seiner Linken liegt ein ehemaliger Zeitungskiosk, der sich inzwischen zum Zeitungsladen/Lebensmittelgeschäft/Spirituosenladen gemausert hat, mit einem DVD-Verleih als lukrativem Nebengeschäft. Zur Rechten befindet sich das chinesische Restaurant New Empire, dessen Fenster stets von dicken roten Vorhängen verdunkelt werden. Eine mit Schreibmaschine getippte Speisekarte an der Scheibe ist mit der Zeit vergilbt, aber nie ersetzt worden; Änderungen wurden mit Filzstift eingetragen. Wenn Diversifikation die Rettung des Zeitungskiosks bedeutet hatte, so hatte das Restaurant auf die langfristige Strategie der Einsparungen gesetzt, bei der Gerichte regelmäßig auf der Karte durchgestrichen wurden wie auf einem Bingozettel. Zu Jackson Lambs festen Überzeugungen gehört, dass das New Empire eines Tages nur noch gebratenen Reis mit Ei und Schweinefleisch süß-sauer anbieten wird – serviert hinter dicken roten Vorhängen, als sei die armselige Auswahl ein Staatsgeheimnis.
{26}Die Eingangstür liegt, wie gesagt, in einer Nische. Ihre uralte schwarze Lackierung ist mit Straßendreck bespritzt, und durch das blinde Oberlicht darüber dringt kein Licht von innen heraus. Eine leere Milchflasche steht schon so lange davor, dass der Efeu sie an den Bürgersteig gefesselt hat. Es gibt keine Klingel, und der Briefkastenschlitz gleicht einer vernarbten Wunde aus der Kindheit: Jegliche Post – doch es kommt nie welche – würde an seine Klappe stoßen, ohne Einlass zu finden. Es ist, als wäre die Tür nur eine Attrappe und diente allein als Puffer zwischen dem Laden und dem Restaurant. Man könnte tatsächlich tagelang an der Bushaltestelle gegenüber sitzen und niemals jemanden sie benutzen sehen. Säßen Sie jedoch längere Zeit an der Bushaltestelle gegenüber, würden Sie feststellen, dass Ihre Gegenwart Aufmerksamkeit erregt. Ein untersetzter Mann, vermutlich Kaugummi kauend, würde sich möglicherweise neben sie setzen. Seine Gegenwart wirkt entmutigend. Er strahlt unterdrückte Gewalttätigkeit aus oder einen Groll, den er so lange mit sich herumgetragen hat, dass es ihm egal ist, gegen wen er ihn richtet. Und er wird Sie anstarren, bis Sie von sich aus verschwinden.
Währenddessen bleibt das Kommen und Gehen im Zeitungsladen mehr oder weniger konstant, und auch auf dem Bürgersteig ist immer etwas los. Stets streben Leute in die eine oder andere Richtung. Eine Straßenkehrmaschine brummt vorbei, und ihre rotierenden Bürsten schaufeln ihr Zigarettenkippen, Glassplitter und Kronkorken ins Maul. Zwei Männer, die einander entgegenkommen, führen diesen typischen kleinen Vermeidungstanz auf, wobei das Manöver des einen jeweils vom anderen gespiegelt wird, aber sie {27}schaffen es, ohne zu kollidieren, aneinander vorbeizugehen. Eine Frau, die in ihr Handy spricht, überprüft im Vorübergehen ihr Spiegelbild im Fenster. Hoch oben am Himmel kreist knatternd ein Hubschrauber und berichtet für einen Radiosender über Behinderungen im Straßenverkehr.
Und während all der alltäglichen Ereignisse bleibt die Tür geschlossen. Über dem New Empire und dem Zeitungsladen ragen die Fenster von Slough House drei Stockwerke hoch in den unfreundlichen Oktoberhimmel. Die Fensterscheiben sind fleckig und schmutzig, aber nicht undurchsichtig. Dem Fahrgast im oberen Stockwerk eines vorbeifahrenden Busses, der eine Zeitlang davor aufgehalten würde – was leicht passieren kann: ein Zusammentreffen von roten Ampeln, fast ununterbrochenen Straßenbauarbeiten und der berüchtigten Trägheit der Londoner Busse –, bieten sie einen Blick in die Räume im ersten Stock, die überwiegend gelb und grau sind. Altes Gelb und altes Grau. Das Gelbe sind die Wände, jedenfalls das, was man von ihnen sieht zwischen den grauen Aktenschränken und grauen Behördenbücherregalen, auf denen sich veraltete Nachschlagewerke reihen. Einige liegen, andere lehnen sich zur Unterstützung an ihre Kameraden. Wieder andere stehen noch aufrecht, und die Schrift auf ihren Rücken wird auch bei Tag gespenstisch von Kunstlicht erhellt. An anderen Stellen wurden Aktenordner kreuz und quer in zu kleine Zwischenräume gequetscht. Ganze Stapel drängeln sich vertikal zwischen Regalen, so dass der oberste hinausgedrückt wird und fast herunterfällt. Auch die Decken sind vergilbt; ein ungesunder Farbton, hier und da mit Spinnweben bedeckt. Die Schreibtische und Stühle in diesen {28}Räumen im ersten Stock bestehen aus demselben praktischen Metall wie die Bücherregale und stammen möglicherweise aus derselben behördlichen Quelle: einer verlassenen Kaserne oder einer Gefängnisverwaltung. Die Stühle sind keine, auf denen man sich zurücklehnt und gedankenverloren in die Luft starrt. Die Tische kann man nicht als Erweiterung der eigenen Persönlichkeit gestalten und mit Fotos und Nippes dekorieren. Diese Tatsachen an sich lassen schon gewisse Rückschlüsse zu, nämlich dass jene, die hier arbeiten, nicht so hoch in der Hierarchie stehen, als dass ihre Bequemlichkeit von Interesse wäre. Sie sollen dasitzen und ihre Aufgaben mit einem Minimum an Ablenkung erledigen. Danach müssen sie durch die Hintertür hinausgehen, unbeobachtet von Straßenkehrern oder Frauen mit Handys.
Das obere Deck eines Busses bietet wenig Einblick in die nächste Etage, obwohl man Blicke auf dieselben nikotinvergilbten Decken erhaschen kann. Doch nicht mal ein Dreideckerbus würde wesentlich mehr Aufschluss ermöglichen, da die Büros im zweiten Stock jenen im unteren deprimierend ähneln. Außerdem besagt die Information in goldenen Lettern auf ihren Fenstern genug, um das Interesse zu dämpfen: W.W. Henderson, steht da. Rechtsanwalt und Notar. Manchmal erscheint hinter dem kursiven Schwung dieses längst obsoleten Logos eine Gestalt und blickt zur Straße hinunter, als halte sie nach etwas ganz anderem Ausschau. Doch was immer es ist, es weckt nicht lange ihre Aufmerksamkeit. Nach ein, zwei Augenblicken ist sie wieder verschwunden.
Das oberste Stockwerk verspricht keine derartige {29}Unterhaltung, da die Jalousien heruntergezogen sind. Wer auch immer diese Etage besetzt, ist offenbar nicht geneigt, an die Welt draußen erinnert zu werden oder zu erlauben, dass zufällige Sonnenstrahlen das Halbdunkel im Inneren durchstoßen. Doch dies ist ebenfalls ein Hinweis: Wer auch immer in diesem Stockwerk herumgeistert, hat die Freiheit, die Dunkelheit zu wählen, und Wahlfreiheit beschränkt sich in der Regel auf die, die das Sagen haben. Also wird Slough House – ein Name, der auf keiner offiziellen Dokumentation erscheint und auch auf keinem Namensschild oder Briefkopf, auf keiner Stromrechnung und keinem Mietvertrag, keiner Visitenkarte, in keinem Telefonbuch und auf keiner Maklerliste, da er gar nicht der Name dieses Gebäudes ist, sondern nur ein Schimpfwort – von oben nach unten verwaltet, obwohl man aufgrund des allgemein schäbigen Dekors davon ausgehen kann, dass die Hierarchie sehr überschaubar ist, mit nur zwei Positionen: Man ist entweder ganz oben oder nicht. Und nur Jackson Lamb ist ganz oben.
Irgendwann springt die Ampel auf Grün. Schnaufend setzt sich der Bus in Bewegung und schleicht in Richtung St. Paul’s davon. Und in den letzten Sekunden seiner Betrachtung könnte sich unser Passagier im Oberdeck fragen, wie es sein mag, in diesen Büros zu arbeiten, ja, könnte vielleicht sogar eine kurze Phantasie heraufbeschwören, in der das Gebäude anstatt einer dahinsiechenden Anwaltskanzlei zu einem oberirdischen Verlies wird, in das die Versager irgendeiner größeren Behörde zur Strafe abgeschoben werden: wegen Drogendelikten, Trunkenheit und Bestechlichkeit, aus politischen Gründen oder wegen Betrugs, wegen {30}Depression und Zweifeln und der unverzeihlichen Nachlässigkeit, einen Mann in einer U-Bahn-Station nicht daran gehindert zu haben, sich selbst in die Luft zu sprengen und damit nahezu hundertzwanzig Menschen zu töten oder zu verstümmeln, und der einen auf dreißig Millionen Pfund bezifferbaren Schaden sowie an die zweieinhalb Milliarden geschätzten wirtschaftlichen Schaden durch das Ausbleiben von Touristen verursacht hat – ja, es wird zu einem vergessenen Behördenkerker, wo neben einem prä-digitalen Überfluss an Papierkram eine post-nützliche Mannschaft von Versagern geparkt und dem Verstauben überlassen werden kann.
Eine solche Phantasie würde natürlich nicht länger anhalten als bis zur nächsten Fußgängerbrücke, die der Bus unterquert. Doch ein Eindruck könnte länger zurückbleiben: dass das Gelb und das Grau, die das Farbschema dominieren, nicht das sind, als was sie zunächst erschienen – dass das Gelb gar kein Gelb ist, sondern Weiß, beschlagen mit schlechtem Atem und Nikotin, den Dämpfen von Instantnudelsuppe und auf Heizkörpern trocknenden Mänteln, und dass das Grau gar kein Grau ist, sondern erschöpftes Schwarz. Doch auch dieser Gedanke wird sich rasch verflüchtigen, denn nur wenige Dinge im Zusammenhang mit Slough House bleiben im Gedächtnis haften. Einzig sein Spitzname, der vor Jahren in einer beiläufigen Unterhaltung zwischen Spionen geboren wurde, ist hängengeblieben:
Lamb ist verbannt worden.
Wo haben sie ihn hingeschickt? Irgendein Drecksloch, wo es richtig schrecklich ist?
Schlimmer geht’s...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2018 |
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Reihe/Serie | Jackson Lamb |
Slow Horses | Slow Horses |
Übersetzer | Stefanie Schäfer |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Atmosphärisch • Bestseller • Geheimdienst • Humor • Jackson Lamb Krimi • Krimi • Krimiserie • London • MI5 • Sarkasmus |
ISBN-10 | 3-257-60915-9 / 3257609159 |
ISBN-13 | 978-3-257-60915-8 / 9783257609158 |
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