Zeit aus Glas (eBook)

Das Schicksal einer Familie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 2. Auflage
550 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1645-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeit aus Glas - Ulrike Renk
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Zerbrechliches Glück.

1938: Nach der Pogromnacht ist im Leben von Ruth und ihrer Familie nichts mehr, wie es war. Die Übergriffe lasten schwer auf ihnen und ihren Freunden. Wer kann, verlässt die Heimat, um den immer massiveren Anfeindungen zu entgehen. Auch die Meyers bemühen sich um Visa, doch die Chancen, das Land schnell verlassen zu können, stehen schlecht. Vor allem wollen sie eines: als Familie zusammenbleiben. Dann passiert, wovor sich alle gefürchtet haben: Ruths Vater wird verhaftet. Ruth sieht keine andere Möglichkeit, als auf eigene Faust zu versuchen, ins Ausland zu kommen: Nur so, glaubt sie, ihren Vater und ihre Familie retten zu können ... Eine dramatische Familiengeschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.



Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, sowie der erste Band der Seidenstadt-Saga, Jahre aus Seide, und zahlreiche historische Romane vor. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Kapitel 1


Krefeld, November 1938

»Ihr könnt jetzt gehen, es scheint sicher zu sein«, sagte Josefine und schaute aus dem Fenster. »Niemand ist auf der Straße.« Sie sah Ruth und Ilse sorgenvoll an. »Aber mir wäre es lieber, ihr würdet bleiben.«

»Das geht nicht, Tante Finchen«, sagte die siebzehnjährige Ruth und biss sich auf die Lippen. Ihr war flau im Magen, sie hatte Angst, eine Angst, so groß, wie sie sie im Leben noch nicht verspürt hatte.

»Ich muss wissen, was mit Mutti und Vati ist.« Sie blickte zu Ilse, ihrer jüngeren Schwester. »Aber du kannst hierbleiben …«

Ilse schüttelte stumm den Kopf.

Wieder sah Josefine Aretz nach draußen. »Dann geht jetzt. Schnell, aber unauffällig. Ihr könnt jederzeit zurückkommen, das wisst ihr!«

»Danke, dass ihr für uns da seid.« Mit entschlossenen Schritten machte sie sich auf den Weg. Ilse folgte ihr, nach ein paar Metern griff sie nach ihrer Hand. Sie war warm und lag fest in der ihren, aber Ruth spürte, dass auch sie Angst hatte.

Auf der anderen Straßenseite lag der kleine Schreibwarenladen der Familie Tauber. Curt Tauber nagelte gerade Bretter vor das eingeschlagene Schaufenster. Erst jetzt bemerkte Ruth die Scherben auf dem Bürgersteig.

Es war ungewöhnlich ruhig, fast schon gespenstisch nach dem Chaos und den Verwüstungen des letzten Tages. Eine Dunstglocke lag über der Stadt, es roch nach Qualm und Rauch, nach verbranntem Holz und Stoff, nach Vergeltung und Zerstörung.

Den neunten November 1938 würde Ruth nie vergessen, die Bilder hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die lodernden Flammen, die aus der Synagoge schlugen.

Ihnen kam eine Frau entgegen, sie hatte den Kopf gesenkt, doch Ruth erkannte Hilde Goldschmitt.

»Guten Tag, Frau Goldschmitt«, sagte sie.

Die Frau blieb stehen.

»Was macht ihr denn auf der Straße?«, zischte sie. »Das ist doch viel zu gefährlich.«

»Wir wollen nach Hause …«, sagte Ruth.

»Wo kommt ihr denn her?«

»Wir haben die Nacht bei unserem Chauffeur verbracht«, antwortete Ilse, ihre Stimme klang ängstlich.

»Habt ihr nicht gesehen, was die Nazis getan haben?«, sagte Frau Goldschmitt. »Wer weiß, ob sie damit fertig sind.«

»Die Synagoge hat gebrannt«, sagte Ruth. »Man konnte die Flammen bis zu uns sehen.«

»Alle Synagogen in allen Städten haben gebrannt oder brennen noch, sagt man. An eurer Stelle würde ich zusehen, dass ihr von der Straße kommt.« Sie nickte ihnen zu und lief weiter.

Ruth wurde mulmig zumute. Auch beim Möbelgeschäft der Familie Kaufmann waren die Fensterscheiben zerbrochen worden, die Ausstellungsstücke lagen zerschlagen auf der Straße verstreut. Sie konnte Frau Kaufmann im Laden sehen, sie weinte bitterlich. Doch wo war Herr Kaufmann?

»Komm weiter«, sagte Ilse. »Ich habe Angst.«

Die Nacht hatten Ruth und ihre dreizehnjährige Schwester Ilse bei Familie Aretz in der Innenstadt verbracht – Hans Aretz war lange Jahre der Chauffeur von Ruths Vater gewesen, bevor er ihn hatte entlassen müssen, weil er als Jude keine arischen Angestellten haben durfte. Seit langem schon waren die Familien befreundet.

Mit eiligen Schritten, den Kopf tief in ihren Schals vergraben, liefen sie Richtung Bismarckviertel, nur wenige Passanten kamen ihnen auf dem Weg entgegen. Der randalierende Mob des letzten Tages schien sich verkrochen zu haben. Dort, wo die Synagoge gestanden hatte, stieg immer noch Rauch in den verhangenen Himmel, und Ruth musste sich zwingen, den Blick abzuwenden. Menschen, die nicht davor zurückschreckten, ein Gotteshaus niederzubrennen, waren noch zu ganz anderen Dingen fähig, das war ihr klar geworden.

Wo waren bloß ihre Eltern? Hatten auch sie sich in Sicherheit bringen können? Ruth hatte sie angefleht, Schutz zu suchen und nicht in ihrem Haus zu bleiben. Wie sehr hoffte sie, dass die Eltern ihrem Flehen gefolgt waren.

Mit gesenktem Blick gingen die Mädchen weiter. Manche Bürgersteige waren von Splittern übersät, etliche Fensterscheiben waren eingeworfen worden. Da und dort lag beschädigtes und zerbrochenes Mobiliar auf den Straßen – von jüdischen Geschäften, die geplündert worden waren.

Doch je näher sie dem Stadtrand kamen, umso weniger Verwüstungen gab es, das machte Ruth Hoffnung.

»Meinst du, sie haben unser Haus …?«, fragte Ilse mit erstickter Stimme.

Ruth antwortete nicht, die Angst vor dem, was sie möglicherweise gleich sehen würden, schnürte ihr die Kehle zu.

Dann bogen sie in die Schlageterallee ein – die Straße lag ruhig und friedlich vor ihnen. Die Kastanien, die erst vor wenigen Jahren gepflanzt worden waren, hatten fast ihre ganzen Blätter verloren und streckten die kahlen Äste in den bleichen, grauen Himmel. Das Laub raschelte unter ihren Füßen, als sie den Bürgersteig entlanggingen. Es war kalt, viel kühler als in den letzten Tagen, bestimmt würde es bald anfangen zu frieren.

Plötzlich blieb Ruth stehen und kniff die Augen zusammen. Auf der Mitte der Straße lag etwas. Aber was war es? Es wirkte fremd und trotzdem auf eine merkwürdige Art vertraut … Langsam ging sie weiter, dann erkannte sie, worum es sich bei dem Gegenstand handelte. Wie vor den Kopf geschlagen blieb Ruth stehen, ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten – es war die taubenblaue Haustür ihres Elternhauses. Was macht die Tür mitten auf der Straße, und wie kommt sie dort hin? Eine Tür gehört in ein Haus und nicht auf die Straße. Irgendetwas in ihr weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Wie in Trance ging sie weiter, ihre Schritte wurden schneller, je näher sie ihrem Elternhaus kam. Sie schaute nach links und nach rechts, aber alle Häuser, die Seite an Seite gebaut worden waren, sahen intakt aus, nichts schien beschädigt. Noch ein paar Schritte, und sie stand vor ihrem Zuhause. Es war tatsächlich ihre Haustür, die auf der Straße lag, der Eingang nun eine hässlich klaffende Öffnung im Mauerwerk. Aber woher kam dieses Geräusch? Ein unaufhörliches Rauschen, kaum wahrzunehmen, aber doch da. Dann sah sie es: Wasser lief über die Treppe in den Vorgarten und weiter nach unten, zur Garage.

Sie haben die Wasserhähne aufgedreht, dachte Ruth, und auf einmal war sie voller Wut, einer Wut, die sogar die Angst um ihre Eltern in den Hintergrund drängte. Sie haben einfach das Wasser aufgedreht. Mutters Teppiche und der schöne Parkettboden … Aber warum hatte noch keiner das Wasser abgedreht? Wo waren Mutti und Vati, dass sie nicht das Wasser abdrehten?

»Du bleibst hier und wartest«, zischte sie Ilse zu, dann lief sie die Stufen nach oben. Unter ihren Schuhsohlen knirschte es, und erst jetzt bemerkte Ruth, dass alle Fensterscheiben eingeschlagen worden waren. Sie blickte nach oben – selbst im dritten Stock gab es kein Fenster mehr, das unbeschädigt war. Was sie für Raureif gehalten hatte, waren Glassplitter.

»Mutti? Vati?«, rief Ruth erst zaghaft, dann immer lauter. Einen Moment zögerte sie weiterzugehen, was würde sie im oberen Stock erwarten? Welches Bild des Grauens? Dann watete sie durch das strömende Wasser die Treppe hinauf. Alles war nass, Wasser rann durch die Decken, lief an den Wänden entlang. Die Teppiche waren aufgequollen, das Parkett quietschte unter ihren Füßen.

Außer dem Rauschen und dem Wind, der durch die nackten Fenster strich, war nichts zu hören.

»Mutti? Vati?« Ruth schrie nun, rannte in das Herrenzimmer. Und erstarrte. Alle Bilder, alle Gemälde waren von den Wänden gerissen worden und lagen in Fetzen auf dem Boden. Das Sofa war umgestoßen, die Polsterung quoll heraus, und die Federung bewegte sich leicht im Wind. Vatis Bücher hatte jemand aus dem Einbauregal gerissen, es sah so aus, als wäre eine Armee darübergelaufen.

Ruth war fassungslos. Eine solche Zerstörung hatte sie noch nie gesehen. Nicht darüber nachdenken, sie musste ihre Eltern finden!

»Wo seid ihr? Wo seid ihr nur?« Der allerschrecklichste Gedanke tauchte in einer Ecke ihres Bewusstseins auf, aber sie erlaubte sich nicht, ihn zu Ende zu denken. Einfach nicht denken.

Wie in Trance erreichte Ruth das Bad, erst einmal musste sie die Hähne zudrehen, das Wasser stoppen. In der Tür blieb sie abrupt stehen, das Wasser kam nicht aus den Hähnen – die Wände waren aufgebrochen, die Leitungen herausgerissen und zerstört worden – das Wasser strömte aus den offenen Leitungen.

Mechanisch versuchte Ruth, die Leitungen zurück in die Wand zu drücken, dann wurde ihr bewusst, wie sinnlos das war.

»Hallo? Ist jemand hier?« Ihre Stimme hallte im Haus wider, bald war es nur noch ein Wimmern.

»Wo seid ihr?«, schluchzte sie.

Oben in der Mansarde befand sich das Zimmer von Großmutter. Vielleicht hatten sie sich alle dort versteckt? Ruth hetzte die Treppe nach oben.

Die Türen zu den Zimmern musste sie nicht öffnen, sie waren aus den Angeln gerissen worden. Das Zimmer ihrer Großmutter war genauso verwüstet wie alle anderen Räume auch. Sie sah sofort, dass sich hier niemand versteckte.

Ruths Blick fiel auf die Ölbilder an den Wänden, die Großmutter Emilie aus ihrem Haus in Anrath mitgebracht hatte – Porträts ihrer Eltern und Großeltern. Sie hingen noch, nur hatte jemand mit einem Messer in die Augen, die Münder und die Herzen gestochen und die Leinwände zerrissen. Für einen Moment starrte Ruth das Gemetzel an, dann drehte sie sich um und lief...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2019
Reihe/Serie Die große Seidenstadt-Saga
Die große Seidenstadt-Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2.Weltkrieg • Drittes Reich • Familiendrama • Familiensaga • Flucht • Holocaust • Jahre aus Seide • Liebe • Seidenmanufaktur
ISBN-10 3-8412-1645-5 / 3841216455
ISBN-13 978-3-8412-1645-8 / 9783841216458
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