Ankunft in der neuen Mitte (eBook)

Reportagen und Porträts

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
232 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-419-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ankunft in der neuen Mitte - Alexander Osang
Systemvoraussetzungen
6,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Alexander Osang hat seit 1989 den Weg der Ostdeutschen mit besonderer Aufmerksamkeit publizistisch begleitet. In seinem neuen Buch geht es darum, auf welch unterschiedliche Weise die Menschen nach den Jahren des Umbruchs und der Fremdheit allmählich in der Bundesrepublik Deutschland ankommen. In der ihm eigenen Weise zeichnet er mit präziser Beobachtungsgabe, intelligentem Sarkasmus und gleichzeitiger Herzenswärme die Porträts von Akteuren aus ganz unterschiedlichen Milieus. Es gibt Gewinner, Anpasser und Verlierer, aber auch das aufrichtige Bemühen um eine neue Positionsbestimmung.



Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Seit 1999 berichtet er als Reporter für den Spiegel, acht Jahre lang aus New York, und bis 2020 aus Tel Aviv. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Er lebt heute mit seiner Familie in Berlin.

Sein Roman 'Fast hell' (Aufbau Verlag, 2021), stand mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sein Erzählungsband »Winterschwimmer« ist als Aufbau Taschenbuch lieferbar. Seit 30 Jahren erscheint sein essayistisches Werk im Ch. Links Verlag.  Zuletzt erschien dort »Das letzte Einhorn. Menschen eines Jahrzehnts«.

Jahrgang 1962; Studium der Journalistik in Leipzig; Wirtschaftsredakteur, später Chefreporter der Berliner Zeitung; seit 1999 Reporter für den Spiegel, u.a. in New York und Tel Aviv; 1993, 1999, 2001 Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1995 Theodor-Wolff-Preis, 2009 Auszeichnung als "Reporter des Jahres" durch das Medium Magazin; er veröffentlichte zahlreiche Bücher mit Reportagen und Porträts, Erzählungen und Romanen.

Freitag nacht im Reich der neuen Mitte


Vorwort


Als ich aus dem U-Bahnhof Friedrichstraße ins Freie stieg, war alles wie immer. Es war ein Freitag abend im Januar. Gut, es war der letzte Januar dieses Jahrtausends, und dies war die Mitte Berlins. Aber daran habe ich wirklich nicht gedacht. Noch nicht.

Die Würfelhäuser fügten sich, die Straße wurde fertig. Im Kulturkaufhaus Dussmann bewegten sich die Abendkunden langsam zwischen den bunten Bücherregalen, die Straße glänzte feucht, die Autos dampften in der Enge. Hinter der S-Bahn-Brücke, an der früher die rote Leuchtreklame des Neuen Deutschlands befestigt gewesen war, leuchtete jetzt das Focus-Logo. Auf den Stufen zum Tränenpalast, gleich neben der Wand, auf der ein hübscher nackter Frauenkörper einen Hechtkopf tragen muß, stand ein junger Polizist einem alten Trinker gegenüber. Der Trinker brüllte den Polizisten an, der Polizist wackelte unsicher. Der Tränenpalast sah aus, als habe er geschlossen. Das Glas der Türen schimmerte matt und schwarz, aber sie waren offen. Meine Schritte hallten über den leeren, dunklen Gang. Hinter der Garderobe stand ein junger Mann, der mich mitleidig musterte, als ich eine Karte verlangte. Neben ihm lag ein Stapel weißer Blätter, die alle mit der gleichen Nachricht bedruckt waren.

»Leider findet heute Abend das ROCKHAUS-Konzert nicht statt; Grund: ROCKHAUS hat sich wegen innerer Querelen vorzeitig verabschiedet und hat das Konzert abgesagt!!! Ihr tRÄNENpALAST-Team«

Mein Tränenpalast-Team. Auch das noch. Ich war von Teams umzingelt. Kindergärtnerinnenteams. Kantinenteams. Zugbegleiterteams. Im letzten Sommer stand eine Frau vom »Jugendgesundheitsteam Mitte« vor unserer Wohnungstür. Sie hatte »Informationen rund ums Baby« dabei. Team klang beunruhigend. Es klang wie: Wir stehen hier, und du stehst da, und so wie es aussieht, bist du allein. Kollektiv hörte sich wenigstens so an, als sei es nicht ernst gemeint. Ach Scheiße, ich hatte Rockhaus sehr gemocht. Vorzeitig verabschiedet! Wahrscheinlich hielt das Tränenpalast-Team das für witzig.

Aber die Zettel für das Rockhaus-Konzert bezogen sich auf morgen. Bereits gestern war ein Konzert ausgefallen, das von André Herzberg. Heute abend sollte er aber auftreten. André Herzberg war der Sänger der Rockband Pankow. Vielleicht die beste Band, die die DDR hervorgebracht hatte. Pankow hatte sich vor ein paar Wochen aufgelöst. Vorzeitig verabschiedet. Herzberg war der letzte der Mohikaner. Ich zahlte 25 Mark für die Karte und ließ vorsichtshalber die Jacke an.

Vor der Bühne standen ein paar silberfarbene Stühle und Metalltischchen, auf denen Getränkekarten lagen. Die meisten Tische waren unbesetzt. Aus den Lautsprechern lief das Hauff-Märchen »Zwerg Nase« von einer knisternden Litera-Schallplatte. Es waren 26 Gäste da. Herzbergs blonde Managerin zählte nicht und ich eigentlich auch nicht. Blieben 24. Ich holte mir ein Bier und setzte mich hinter ein älteres Paar, das aussah, als sei es vom Weg in den Friedrichstadtpalast abgekommen. Vor der Frau stand ein buntes Mixgetränk, aus dem ein glitzernder Strohhalm ragte, der Mann trug eine exakte schlohweiße Frisur, ein kleinkariertes Jackett und hatte die Beine übereinander geschlagen. Vielleicht war ich ja auch falsch. Vielleicht würden dort vorn gleich ein paar Nackttänzerinnen erscheinen.

Wahrscheinlich ahnte ich jetzt, daß es doch der letzte Januar des Jahrtausends war. Die letzten Tage.

»Strange Days« hieß der Film, den James Cameron vor »Titanic« gemacht hatte. Fremde, verückte, irre, unwirkliche Tage. Die letzten Tage des Jahrtausends in Los Angeles. »Silvester 1999. Ein schlechter Tag zum Sterben«, hatte auf den Filmplakaten gestanden. Ich hatte nie verstanden, was das bedeuten sollte. War nicht jeder Tag ein schlechter Tag zum Sterben? Womöglich war Silvester 1999 besonders schlecht zum Sterben, weil man in der ganzen Aufregung nicht vermißt würde. Man starb unbemerkt.

Im Oktober hatte mich Herzberg gefragt, wie man seinen Tod in die Zeitung kriegen könnte. Er wollte für die Öffentlichkeit sterben, ein paar Wochen untertauchen und im Januar wieder auferstehen. Wahrscheinlich hatte er an Kurt Cobain gedacht, an Gerhard Gundermann. Oder wenigstens an Kunzelmann, den verschollenen Kommunarden. Und er hatte wohl auch daran gedacht, daß dies eine letzte Chance sein könnte. Es war in den vergangenen Jahren nicht so besonders für ihn gelaufen. Wir hatten in seiner Küche gesessen, Herzberg hatte die Details seines Todes diskutiert, seine Augen hatten geleuchtet, und ich hatte nicht den Mut gehabt, ihm das auszureden. Es ist ein Traum, anderen dabei zuzusehen, wie sie um dich trauern. Wie Huck Finn es konnte. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß sie nicht trauern würden.

Vielleicht hat Herzberg diese Möglichkeit dann doch in Betracht gezogen. Er war jedenfalls nicht gestorben. Er stand jetzt hinter der Bühne und wußte wohl, daß es wieder nicht voll geworden war. Es war der dritte von vier Abenden, an denen er sein neues Programm vorstellte. Die Premiere war noch gut besucht gewesen. Gestern hatte er den Auftritt ausfallen lassen, weil nur 25 Leute da waren. Einer mehr als heute. Herzberg fragte sich vielleicht, woran das lag. Warum, zum Teufel, verstanden sie ihn nicht? Dann zog er den Bauch ein, vergaß das alles und ging raus.

Ich sah, wie sich Herzbergs Managerin zu einem Seitenausgang schlich. Ich wäre ihr gern gefolgt. Ich hatte das Gefühl, zurückgelassen zu werden. Zurückzubleiben. Das ist kein gutes Gefühl, vor allem nicht, wenn man sich gerade in der Mitte Berlins befindet.

»Ich will dabeisein«, sang Herzberg eine gute halbe Stunde später. »Dabeisein, dabeisein.« Er hatte eine bunte Federboa um den Hals, in seinen Augen flimmerte der Irrsinn, und er hatte verdammt recht. Auch wenn es nur 25 Leute hörten.

Ein Freund von mir bewahrt einen Artikel einer unbedeutenden Zeitschrift auf, in dem er als geistiger Kopf der neuen Mitte geführt wird. Als einer der geistigen Köpfe, um genau zu sein. Einer von vielen geistigen Köpfen. Vätern. Gründern. Gründervätern. Eine Liste von Menschen, die in Berlin arbeiten, sie könnte aus Katalogen, Telefonbüchern und Impressen zusammengeschrieben worden sein, eine zufällige Visitenkartensammlung, die der Autor nach einer zweiwöchigen Haupstadtfeuilletonrecherche in seinen Jackettaschen fand, die Gästebücher eines literarischen Salons und einer Volksbühnenpremiere oder was weiß ich. Und mittendrin taucht plötzlich mein guter alter Kumpel auf. Er hat die Stelle mit Leuchtstift markiert. Der Zeitungsausriß ist schon etwas abgegriffen. Er liegt seit Monaten scheinbar achtlos auf seinem Schreibtisch herum. Immer ist ein Zipfel zu sehen, bei Bedarf zieht er ihn hervor. Eine Trumpfkarte.

Nicht, daß mein Freund wüßte, wo sie liegt, diese neue Mitte. Keiner weiß das. Aber es ist gut dabeizusein. Neue Mitte klingt nämlich so, als sei dort nur begrenzt Platz. Eine Art erster Klasse. Eine Insel. Ein Hochstand, von dem man ohne Hast und Angst auf die alte Mitte herabsehen kann und auf die Außenränder, die am Horizont verschwimmen. Die S-Klasse im Land. Der Rolls Royce unter den Mitten. Jeder will dabeisein, wenn sich die neue Mitte findet.

Ein Sog geht von ihr aus. Oder ein Druck. Je nachdem. Die neue Mitte ist Zeit und Raum und Chance. Sie ist hier, ganz in der Nähe, und sie ist jetzt.

Das Jahrtausend geht zu Ende, in Berlin wächst ein neues Zentrum heran. Europas Zentrum, wenn nicht das der Welt. All diese Bilder einer explodierenden, glänzenden Metropole, die man aus dem Stern klappen konnte. Die Infobox am Leipziger Platz, groß, aber schon als Provisorium gebaut, wie der ganze Potsdamer Platz nur ein Übergangsphänomen zu sein scheint. Aufgebaut als Kulisse für irgendeinen Hollywoodfilm, in dem Kometenhagel, Wirbelstürme oder die Faserraketen der Außerirdischen die Innenstädte zerplatzen lassen. Schröder ist der richtige Mann, um am Independence Day in den Düsenjäger zu steigen. Lächelnd zum letzten Gefecht. All die Poster und doppelseitigen Illustriertenbilder der letzten Monate lassen darauf schließen. Die Arme V-förmig gespreizt, Zeige- und Mittelfinger bilden zwei weitere Sieges-V, dahinter die rote, aufgehende Sonne, eher japanisch als sozialdemokratisch, und schließlich das Gewinnergrinsen. Man muß da mit, oder man wird überrollt. Im vorigen Sommer machte ich die Zentrumsschiffsfahrt mit der Weißen Flotte. Als wir mit dem kleinen Dampfer an der Regierungsbaustelle vorbeidümpelten, kam ich mir vor wie Sam Neill bei seiner ersten Fahrt durch den Jurassic Park. Was ich sah, schien so beängstigend, so unbeherrschbar. Und gleichzeitig so großartig, so gewaltig. Wenn ich an der Baustelle des Außenministeriums vorbeifahre, denke ich an Joschka Fischer. Wie fühlt man sich, wenn man diese riesigen Kasten sieht, die für einen gebaut werden? Ich könnte kein Auge mehr zumachen. Vor Aufregung und vor Angst.

Mein Blick hetzt durch Artikel, die die Hoffnungs- und Führungskräfte der neuen Mitte auflisten, die die Generation Berlin benennen. Ich würde zwar keine Funktion übernehmen wollen, ich wäre lieber Hoffnungs- als Führungskraft, aber ich wäre gern dabei. Ich hätte gern einen Platz, ein Ticket. Irgendeine Stange, an die ich mich klammern kann, wenn es richtig losgeht. Bis jetzt hat es noch nicht geklappt, aber ich will nicht undankbar sein. Radio Eins hat kürzlich...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2018
Reihe/Serie Literarische Publizistik
Illustrationen Wulf Olm
Zusatzinfo 35 s/w-Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Alexander Osang • Angela Merkel • Ankunft • Charlotte von Mahlsdorf • Der Spiegel • Jens Weißflog • Mitte • Neuen • Porträts • Reportage • Reportagen • Täve Schur
ISBN-10 3-86284-419-6 / 3862844196
ISBN-13 978-3-86284-419-7 / 9783862844197
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich

von Elke Heidenreich

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
15,99
Nr. 898, Heft 03, März 2024

von Christian Demand; Ekkehard Knörer

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
9,99