Der Verrat (eBook)
480 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-20251-4 (ISBN)
Als Nane nach zwanzig Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird, hat sich vieles verändert. Nicht aber die Schuld, die weiter auf ihr lastet. Nicht die Erinnerung an die Nacht, die ihr Leben zerstörte, und schon gar nicht das Verhältnis zu ihrer Schwester Pia.
Pia hat es gut getroffen. Die erfolgreiche Restaurateurin lebt mit ihrem Mann auf einem idyllischen Weingut an der Saar. Da lässt es sich gut verdrängen, auf welch zerbrechlichem Fundament ihr Glück gebaut ist. Doch dann tritt ihre Schwester Nane wieder in ihr Leben und Pia ahnt: Es ist Zeit für die Wahrheit. Und damit Zeit für Rache - oder Vergebung.
Ellen Sandberg arbeitete zunächst in der Werbebranche, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete - mit riesigem Erfolg: Ihre psychologischen Spannungs- und Familienromane, die immer monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stehen und denen immer ein wichtiges Thema unserer deutschen Vergangenheit zugrunde liegt, bewegen und begeistern zahllose Leserinnen und Leser - wie zuletzt »Das Geheimnis«, »Das Unrecht« und »Keine Reue«. 2022 wurde ihr der Verfassungsorden des Freistaats Bayern verliehen. Unter ihrem bürgerlichen Namen Inge Löhnig veröffentlicht sie erfolgreiche Kriminalromane.
Kapitel 1
Sommer 2018
Der Himmel wölbte sich in einem makellosen Blau über dem Tal der Saar. Weinberge erstreckten sich zu beiden Seiten des Flusses, so weit das Auge reichte. In gleichmäßigen grünen Reihen zogen sich Rebstöcke über Hänge und Hügel. Es sah aus, als wäre die Landschaft schraffiert. Wie immer erfasste Pia von Manthey eine tiefe Zufriedenheit beim vertrauten Anblick der Gegend, die seit zwei Jahrzehnten ihre Heimat war.
Es war gegen zehn Uhr vormittags, als sie aus Frankfurt zurückkehrte. Sie hatte ihren Mann Thomas zum Flughafen gebracht. Für vier Tage musste er nach London zur Weinmesse, und sie vermisste ihn schon jetzt. Trotz der zwanzig Ehejahre, die hinter ihnen lagen. Wo war die Zeit nur geblieben? Thomas war ihr Freund, ihr Vertrauter, ihr Gefährte, wenn man einen derart altmodischen Begriff gebrauchen wollte. Wobei sie eine Schwäche für Altes hatte. Als Restauratorin war das Bewahren und Erhalten schließlich ihr Beruf.
Sie durchquerte Dörfer mit verwinkelten Gassen und Fachwerkhäusern, die üppig mit Blumenschmuck herausgeputzt waren. Die Hauptstraßen säumten Weinstuben und Terrassencafés. Überall waren Touristen, wie jeden Sommer. Wanderer, Mountainbiker, Genießer und kulturell Interessierte. Familien, Kinder, Paare aller Altersstufen und seit einigen Jahren sogar Besucher aus Japan und China.
Pia erreichte das Dorf Graven und bog kurz danach mit ihrem Jeep auf die Straße ein, die in fünf Serpentinen hinauf zum Weingut führte. Im Weinberg waren die Arbeiter mit Laubarbeiten beschäftigt. Bereits zum zweiten Mal in diesem Sommer mussten die Reben gegipfelt werden. Wenn man die langen Sommertriebe nicht zurückschnitt, würden sie Trauben und Boden beschatten, und das war nicht gut für die Qualität des Weins. In der Großlage des Graven’schen Mühlbergs konnten dafür Maschinen eingesetzt werden, doch in der Steillage des Prälatengartens sah Pia die Arbeiter wie Ameisen herumklettern. Hier musste alles von Hand gemacht werden, ein aufwendiges und mühsames Unterfangen, das sich am Ende aber auszahlte.
Pia schaltete einen Gang herunter und nahm die nächste Haarnadelkurve. Die Sonne blendete, und sie schob die Sonnenbrille vom Haar zurück auf die Nase. Sie freute sich darauf, nach Hause zu kommen. Das Weingut war ihre Heimat, seit sie den Winzer Thomas von Manthey geheiratet hatte, der in dieser Erde verwurzelt war wie ein alter Baum. Seit über zweihundert Jahren war das Gut im Familienbesitz. Genauer gesagt, seit ein Vorfahre von Thomas es 1803 beim Kartenspiel gewonnen hatte. Einen verwilderten Weinberg und ein heruntergekommenes Château hatte er vorgefunden. Doch das schreckte ihn nicht, er krempelte die Ärmel hoch, baute Graven wieder auf, und sein ältester Sohn hatte es von ihm übernommen.
Sechs Generationen von Mantheys hatten Graven nun schon durch die Zeiten geführt – durch Revolutionen, den Deutsch-Französischen Krieg und zwei Weltkriege, durch den Wiederaufbau danach und das Wirtschaftswunder. Sie hatten Krisen und Skandale überstanden und auch das Feuer, das ausgebrochen war, als kurz vor Kriegsende eine amerikanische Mustang in den Garten stürzte und in Flammen aufging. Zusammen mit den beiden kriegsgefangenen Franzosen, die auf dem Hof zur Arbeit eingesetzt waren, hatte Thomas’ Großmutter das Feuer gelöscht. Wie oft er ihr diese Geschichte erzählt hatte. »Mon dieu! Das schöne Haus. Der gute Wein!«, hatte François immer wieder gerufen und die Pumpe wie ein Wahnsinniger betätigt. Am Ende war der Teich leer gewesen, die Enten saßen auf dem Trockenen, doch Wohnhaus und Weinkeller waren gerettet.
Das Weingut Graven war Thomas’ Ein und Alles. Es war sein Leben, seine Heimat und damit auch ihre und die ihrer gemeinsamen Tochter, die das Gut einmal übernehmen würde.
Nach der fünften Serpentine hatte man einen grandiosen Ausblick auf das Tal und den Fluss, der tief unter ihr lag und funkelte, als wäre er mit Diamanten besetzt. Pia wandte den Blick rasch wieder ab und konzentrierte sich aufs Fahren. Wer hier von der Straße abkam, stürzte dreißig Meter in die Tiefe. Ein leichter Schauer überlief sie, und die Erinnerungen an den Sommer vor zwanzig Jahren drohten aufzusteigen, doch sie erstickte sie im Keim, wie sie es immer tat. Für einen kurzen Moment blieb ein ungutes Gefühl zurück, bis sie die weiße Mauer sah, die das Gut umgab, und das Tor aus Schmiedeeisen, das offen stand.
Langsam ließ sie den Wagen in den Hof rollen und erfreute sich an dem Anblick, wie immer, wenn sie Graven sah. Das Gut war ein Juwel. Am Ende der Auffahrt lag das Herrenhaus – manche bezeichneten es auch als Manoir oder Château –, das aus einem prächtigen dreigeschossigen Haupthaus und zwei angebauten Seitenflügeln bestand. Schiefergedeckte Dächer, aus denen ein halbes Dutzend Kamine ragten. Die Mauern in zartem Gelb gestrichen. Efeu und üppig blühende Englische Rosen rankten sich an Spalieren empor. Akkurat geschnittene Buchsbäume flankierten die mit Kopfsteinen gepflasterte Einfahrt. Rechter Hand befanden sich Garagen und Stellplätze, daneben das alte Kelterhaus, das Thomas vor vielen Jahren in eine Vinothek hatte umbauen lassen. Ein Reisebus parkte davor, denn eine Besichtigung mit anschließender Weinprobe stand an. Das neue und mit modernster Technik ausgestattete Keltergebäude befand sich dahinter, ein wenig versetzt am Rand des Areals.
Richtung Süden und bis weit hinter das Hauptgebäude erstreckte sich der Garten, den Thomas’ Großmutter im englischen Stil hatte anlegen lassen, mit Ententeich, weiten Rasenflächen, Büschen und alten Bäumen. Ein Gärtner kümmerte sich darum.
Als Pia den Jeep abstellte, bemerkte sie Leonhard, den Kellermeister. Er steuerte das Büro im Seitenflügel an, das Reich ihrer Schwägerin Margot.
»Hallo, Pia.« Grüßend hob er die Hand. »Ist Thomas schon auf dem Weg nach London?«
»Ich komme gerade vom Flughafen. Brauchst du ihn?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Die vier Tage kommen wir ohne ihn aus. Und die Entscheidung wegen der neuen Abbeermaschine kann bis dahin warten.« Er nickte ihr zu, warf den obligatorischen prüfenden Blick zum Himmel und verschwand in Margots Büro.
Unwillkürlich sah auch Pia nach dem Wetter, wie man sich das auf einem Weingut angewöhnte. Seit Mitte Juli war es heiß und kein Regen gefallen. Mit jedem Sonnentag gewannen die Trauben an Süße. Thomas hoffte auf einen guten, vielleicht sogar großen Jahrgang. Hoffentlich hielt die Schönwetterperiode noch ein Weilchen an.
Pia ging ins Haus, wo der Steinboden und die dicken Mauern für angenehme Kühle sorgten. Im Flur legte sie die Wagenschlüssel in die Schale auf die Anrichte und strich sich eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr. Weder die Anrichte noch der Spiegel waren Antiquitäten, sondern modernes italienisches Design, wie beinahe alle Möbel im Haus, die in ihrer schlichten Eleganz einen wunderbaren Kontrapunkt zum historischen Rahmen des Gebäudes setzten. Vor einigen Jahren hatte die Journalistin einer Wohnzeitschrift das Weingut Graven und seine Besitzer in einer Homestory porträtiert und die schlichte Eleganz gelobt. Sie war nicht Pias Werk. Den Grundstein dafür hatte Thomas’ erste Frau gelegt.
Pia warf einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel. Nächstes Jahr wurde sie fünfzig, doch das sah man ihr nicht an. Die Haut war noch straff, was sie den guten Genen der Frauen ihrer Familie verdankte, die sie zuverlässig von Generation zu Generation weitergaben. Genau wie den Fluch, der angeblich auf ihnen lastete. Im Gegensatz zu ihrer Mutter glaubte Pia nicht daran, wobei nicht zu leugnen war, dass es den Frauen ihrer Familie über Generationen hinweg mit erschreckender Zuverlässigkeit gelungen war, sich ins Unglück zu stürzen. Doch sie alle hatten das selbst in der Hand gehabt, dachte Pia. Diesem Beispiel war sie nicht gefolgt. Bei diesem Gedanken wurde ihr kurz schwindelig, und sie musste sich an der Kommode abstützen.
Die Verbindungstür zwischen Bürotrakt und Haupthaus wurde geöffnet. Das leise Klackern von Absätzen erklang auf dem Steinboden. Es kündigte Pias Schwägerin Margot an, die wenig später mit einem Aktenordner in der Hand erschien. Sie war schon jenseits der Fünfzig und eine elegante Erscheinung, während Pia wie so oft ihr Arbeitsoutfit trug, Jeans und T-Shirt.
»Guten Morgen, Pia. Hast du Thomas gut zum Flughafen gebracht?«
»Es war wenig Verkehr. Wir sind schnell durchgekommen.«
»Prima. Ich lege ihm die Angebote für die Abbeermaschinen auf seinen Schreibtisch.« Mit diesen Worten verschwand Margot in Richtung von Thomas’ Arbeitszimmer, während Pia sich ein Glas Wasser aus der Küche holte und dann nach oben in ihre Werkstatt ging, die sich im ersten Stock mit Aussicht auf den Hof und die Vinothek befand.
Auf drei Staffeleien standen die Gemälde, die sie bis zu einer Auktion im Oktober restaurieren musste. Sie waren der Grund, weshalb sie Thomas nicht nach London begleiten konnte. Der Termin war knapp, und es war höchste Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Pia zog ein fleckiges Hemd über das Shirt, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und ließ ihren Blick kurz über das Anwesen schweifen. Eine stille Freude erfasste sie. Sie hatte in ihrem Leben alles erreicht, was sie sich je erträumt hatte. Einen Beruf, der sie erfüllte. Einen Mann, der sie liebte. Eine Tochter, auf die sie stolz war. Ein abwechslungsreiches und schönes Leben. Es fehlte ihr an nichts, und dafür war sie dankbar. Im Gegensatz zu ihren Schwestern Birgit und Nane hatte sie alles richtig gemacht.
*
»Da wären wir.« Birgit schlug die...
Erscheint lt. Verlag | 17.12.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Bestseller • Bestsellerautorin • bestseller taschenbuch • Bestseller Taschenbuch 2020 • Charlotte Link • Das Erbe • Die Vergessenen • eBooks • Familie • Familiensaga • Frankfurt • Frauen • Inge Löhnig • Lügen • psychologische Spannung • Saar • Schwestern • Thriller • Unterhaltung • Weingut |
ISBN-10 | 3-641-20251-5 / 3641202515 |
ISBN-13 | 978-3-641-20251-4 / 9783641202514 |
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