Paolo Bacigalupi ist bereits als Kurzgeschichtenautor in Erscheinung getreten, bevor er mit »Biokrieg« seinen ersten Roman veröffentlichte, der vom Time Magazine in die Top Ten der zehn besten Romane des Jahres aufgenommen wurde und zum internationalen Bestseller avancierte. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in West Colorado.
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TOOL LAUSCHTE MIT GESPITZTEN Ohren auf die fernen Schüsse, das ungezwungene Geplauder der Versunkenen Städte.
Es war eine polyglotte Sprache, doch Tool verstand alle Stimmen. Die scharfen Ausrufe von AK-47- und M-16-Sturmgewehren. Das primitive Gebrüll der Kanonen Kaliber 12 und 10. Das gebieterische Knallen der Jagdgewehre Kaliber 30–06 und das Ploppen der .22er. Und natürlich auch das sich nähernde Schrillen der 999er, die Stimme, die alle Sätze mit ihrer dröhnenden Interpunktion abschloss.
Es war eine vertraute Unterhaltung, die hin und her wogte – Frage und Antwort, Herausforderung und Erwiderung –, doch im Laufe der vergangenen Wochen hatte sich ihr Charakter verändert. Immer häufiger sprachen die Versunkenen Städte ausschließlich die Sprache Tools. Den Kugeldialekt seiner Truppen, den Gefechtsslang seines Rudels.
Der Krieg wütete weiter, doch die Stimmen verschmolzen zu einem einzigen harmonischen Triumphgeheul.
Natürlich gab es auch noch andere Geräusche, und Tool hörte sie alle. Selbst im Atrium seines Palasts, weit entfernt von der Front, konnte er den Kriegsverlauf verfolgen. Mit seinen großen Ohren hörte er besser als ein Hund, und sie waren stets aufgestellt, offen und empfänglich, und verrieten ihm vieles, das Menschenohren verborgen blieb, so wie auch seine übrigen Sinne mehr wahrnahmen als die Sinne der Menschen.
Er wusste, wo seine Soldaten standen. Er witterte jeden einzelnen. Er erspürte ihre Bewegungen mittels der Luftströmungen, die sein Fell und seine Haut berührten. In der Dunkelheit konnte er sie sehen, denn seine Augen waren empfindlicher als die einer Katze in finsterer Nacht.
Die Menschenwesen, die er anführte, waren blind und taub für die meisten Dinge, doch er leitete sie an und bemühte sich, sie in etwas Nützliches zu verwandeln. Er hatte seinen Menschenkindern das Sehen, Riechen und Hören beigebracht. Er hatte sie gelehrt, sich ihrer Augen, Ohren und Waffen zu bedienen, damit sie kämpften wie Reißzähne, Klauen und Fäuste. Einheiten. Züge. Kompanien. Bataillone.
Eine Armee.
Durch die Lücke in der geborstenen Kuppel seines Palasts sah Tool die Bäuche der Gewitterwolken, orangefarben angeleuchtet von den wütenden Bränden, die den letzten verzweifelten Versuch der Gottesarmee begleiteten, das Vorrücken seiner Truppen aufzuhalten, indem sie eine Frontlinie der Selbstzerstörung zogen.
Donner grollte. Blitze durchzuckten die Wolken. Ein Sturm braute sich zusammen, der zweite in ebenso vielen Wochen, doch auch er würde die Gottesarmee nicht retten können.
Hinter Tool näherte sich jemand über die marmornen Flure. Der humpelnde Gang und das Schleifen der Füße verrieten, dass es Stub war. Tool hatte den Jungen in den Kommandostab befördert, weil er hart, aufgeweckt und klug war und seine Tapferkeit beim Sturm der Barrikaden auf der K Street unter Beweis gestellt hatte.
Koolkat hatte den Angriff geleitet, als die Gottesarmee durchzubrechen und die damals noch fragile Hoffnung zu zerstören drohte, und war dabei ums Leben gekommen. Neben ihm hatte Stub einen Fuß verloren, als er auf eine Mine getreten war, doch er hatte das Bein abgebunden, sich weiter vorwärtsgeschleppt und seine Kameraden nach dem Tod ihres Befehlshabers angefeuert. Wild entschlossen, engagiert und tapfer.
Ja, es war Stub – das waren sein Geruch und sein Gang –, doch da war noch etwas anderes – der Geruch von gerinnendem Blut, dem Vorboten von Aas.
Stub wollte Meldung erstatten.
Tool schloss sein gutes Auge und atmete in tiefen Zügen. Er genoss den Duft und den Moment – den beißenden Gestank von Schießpulver, das Donnergrollen und die drückende Schwüle des heraufziehenden Unwetters, den Ozongeruch, den die Blitze erzeugten. Er atmete tief ein, versuchte den Augenblick des Triumphs in seinem Bewusstsein zu verankern.
So viele Erinnerungen waren bruchstückhaft, in Kriegen und Gewalt verloren gegangen. Seine persönliche Geschichte war ein kaleidoskopisches Durcheinander von Bildern, Gerüchen und aufgewühlten Emotionen, vereinzelten Explosionen der Freude und des Grauens, vieles davon blockiert und inzwischen unzugänglich. Dieses Mal aber – dieses eine Mal – wollte er sich den Moment in seiner Gesamtheit einprägen. Ihn schmecken, riechen und hören. Bis er ihn ganz ausfüllte, ihm das Rückgrat straffte, ihn hoch aufrichtete. Bis er seinen Muskeln Kraft verlieh.
Triumph.
Der Palast, in dem er sich befand, war eine Ruine. Einst war er prachtvoll gewesen mit seinen Marmorböden, seinen majestätischen Säulen, seinen alten, meisterlich ausgeführten Ölgemälden und überblickte dank der zerbombten Mauer die Stadt, um die er kämpfte. Er konnte bis zum Meer sehen, das gegen die Eingangstreppe schwappte. Der Regen drang ein und bildete Pfützen auf dem Boden. Fackeln flackerten in der Feuchte und ermöglichten es den Menschen, einen Hauch dessen zu sehen, was Tool ohne fremde Hilfe wahrnahm.
Eine traurige Ruine, und doch ein Ort des Triumphs.
Stub wartete respektvoll.
»Du hast Neuigkeiten«, sagte Tool, ohne sich umzudrehen.
»Ja, Sir. Sie sind erledigt. Die Gottesarmee – sie ist besiegt.«
Tools Ohren zuckten. »Weshalb höre ich dann noch immer Gewehrfeuer?«
»Die Soldaten räumen noch auf«, antwortete Stub. »Der Gegner begreift nicht, dass er geschlagen ist. Er ist dumm, aber zäh.«
»Du glaubst wirklich, dass sie besiegt sind?«
Der Junge schnaubte. »Also, das soll ich Ihnen von Perkins und Mitali geben.«
Tool wandte sich um. Stub hob den Gegenstand in seiner Hand hoch.
General Sachs’ abgetrennter Kopf schaute mit blinden Augen auf die Umgebung. Ohne den Körper wirkte er verloren. Der Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen Bestürzung und Entsetzen erstarrt. Das grüne Schutzkreuz, das der Warlord sich auf die Stirn gemalt hatte, war mit Blut verschmiert.
»Ah.« Tool nahm den Kopf entgegen und wog ihn in der Hand. »Der Eine Wahre Gott hat ihn offenbar nicht gerettet. War also doch kein Heilsbringer.«
Schade, dass er nicht dabei gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, dem Mann das Herz aus der Brust zu reißen und es zu verspeisen. Sich von seinem Feind zu nähren. Der Wunsch danach war stark. Dieser Triumph aber war den Klauen vorbehalten. Er war jetzt General und sandte Fäuste, Klauen und Reißzähne in die Schlacht, so wie er einst entsandt worden war, und deshalb entgingen ihm der Adrenalinstoß des Gefechts und das warme Blut des Gemetzels, das lustvoll in seinen Mund spritzte …
Tool seufzte bedauernd.
Es passt nicht zu deiner Rolle, dem Gegner den Todesstoß zu versetzen.
Eine kleine Freude aber war ihm geblieben: als General einem anderen General in die Augen zu blicken und die Kapitulation entgegenzunehmen.
»›Wider die Natur‹, hast du einmal zu mir gesagt«, murmelte Tool.
»›Ein Scheusal‹.« Er hielt den Kopf höher und blickte in Sachs’ entsetzte Augen. »›Der zusammengeflickte Frankenstein, der nicht mal stehen kann‹. Und natürlich hast du mich als ›Gotteslästerung‹ bezeichnet.«
Tool bleckte zufrieden die Zähne. Der Mann hatte die Wahrheit geleugnet bis zuletzt, hatte sich für ein Kind Gottes gehalten, erschaffen nach dem Ebenbild Gottes, vom Himmel beschützt vor solchen wie Tool. »Offenbar hat der Eine Wahre Gott die ›Gotteslästerung‹ begünstigt.«
Selbst jetzt noch meinte Tool, einen Schimmer von Verleugnung in den Augen des Generals zu erkennen. Die heulende Wut über die Ungerechtigkeit, gegen ein Wesen kämpfen zu müssen, das schneller, intelligenter und zäher erschaffen worden war als der arme menschliche Warlord, der geglaubt hatte, er sei gesegnet.
Dieser einfache Mann hatte nicht wahrhaben wollen, dass Tool für das Ökosystem der Schlacht optimiert worden war. Tools Götter hatten sich mehr für die moderne Kriegsführung interessiert als der Gegenstand der Anbetung dieses erbärmlichen Mannes. So war das eben mit der Evolution und der Konkurrenz. Der eine entwickelte sich weiter; der andere starb aus.
Andererseits war Evolution noch nie die Stärke des Generals gewesen.
Manche Spezies sind die geborenen Verlierer.
Ein gewaltiger Donner erschütterte den Raum. Tools 999er. Der Palast wurde bis auf die Grundfesten erschüttert.
Stille legte sich über die Stadt.
Und blieb dort.
Stub schaute verwundert zu Tool auf. Tools Ohren zuckten, lauschten. Nichts. Kein Gewehrfeuer. Keine Granatwerfer. Tool spannte seine Sinne an. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen, als wartete alles darauf, dass das Wüten weiterging – doch in den Versunkenen Städten herrschte endlich Stille.
»Es ist vorbei«, murmelte Stub ehrfurchtsvoll. Und mit kraftvollerer Stimme sagte er: »Die Versunkenen Städte gehören Ihnen, General.«
Tool lächelte den Jungen freundlich an. »Sie waren schon immer mein.«
Ringsumher hatten die jungen Angehörigen von Tools Kommandostab mit der Arbeit innegehalten. Einige verharrten mitten in der Bewegung. Auch sie lauschten und warteten auf die nächste Runde der Gewalt, doch sie hörten nur Frieden.
Frieden. In den Versunkenen Städten.
Tool holte tief Luft und schwelgte im Augenblick, dann hielt er inne und runzelte die Stirn. Seltsamerweise rochen seine Soldaten nicht nach Sieg, sondern nach Angst.
Er fasste Stub in den Blick. »Was hat das zu bedeuten, Stub?«
Der Junge zögerte. »Wie geht es jetzt weiter, General?«
Tool blinzelte.
Wie geht es...
Erscheint lt. Verlag | 8.10.2018 |
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Reihe/Serie | Schiffsdiebe-Trilogie | Schiffsdiebe-Trilogie |
Übersetzer | Norbert Stöbe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Tool of War |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | diezukunft.de • eBooks • Hollywood-Verfilmung • Hugo-Award-Preisträger • Kampf um die Freiheit • Paolo Bacigalupi • Postapokalypse • Schiffsdiebe • Versunkene Städte |
ISBN-10 | 3-641-22183-8 / 3641221838 |
ISBN-13 | 978-3-641-22183-6 / 9783641221836 |
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