Freud wartet auf das Wort (eBook)

Freud und die deutsche Sprache II
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490842-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Freud wartet auf das Wort -  Georges-Arthur Goldschmidt
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Als Fortsetzung seiner berühmt gewordenen Studie »Als Freud das Meer sah«, die mehrere Auflagen erlebt und dem Autor zahlreiche renommierte Preise eingetragen hat (zuletzt: Joseph-Breitbach Preis 2005), setzt Goldschmidt seine Analyse der deutschen Sprache vor dem Hintergrund der Psychoanalyse fort. Orientierte sich Freud an der grammatikalischen Struktur der deutschen Sprache, die die eigentliche Information immer an den Schluss der Sätze stellt, ganz im Gegensatz zum Französischen, wo Subjekt und Verb am Anfang eines Satzes die Aussage bestimmen? Eine Sprache entfernt sich nicht von ihrem Gebrauch. Freud hat seine Methode am Vorabend der aufziehenden Nazi-Barbarei entwickelt, eine Barbarei, die alles daran gesetzt hat, wie die Geschichte zeigt, zuallererst die Sprache zu beschmutzen und zu zerstören. Goldschmidt geht diesem Phänomen nach und analysiert das Einhergehen von Sprachreinigung und Sprachzerstörung. Er sieht in der deutschen Sprache die 'Grundsprache', die von keiner anderen Sprache massgeblich beeinflusst worden ist, die durchsichtig davon spricht, was dem Benutzer in dringlicher Wirklichkeit vor Augen steht. Die beiden Sprachen, Französisch und Deutsch, werden per definitionem einander so gegenüber gestellt: das Deutsche ist urwüchsig, dinghaft, kindlich-obszön, das Französische durch luzide Rationalität geprägt, theoriegeeignet, geschmeidig, erwachsen.

Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L'Académie de Berlin. Zuletzt erschienen seine Erzählungen »Der Ausweg« und »Die Hügel von Belleville«.

Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L'Académie de Berlin. Zuletzt erschienen seine Erzählungen »Der Ausweg« und »Die Hügel von Belleville«. Brigitte Große wurde für ihre Übersetzungen aus dem Französischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt übersetzte sie Sorj Chalandon »Mein fremder Vater«, Amélie Nothomb »Töte mich«, Gaël Faye »Kleines Land« (zusammen mit Andrea Alvermann).

I Ohne das Wissen von Babel


Was den Sprachen fehlt, passiert zwischen ihnen. Daß alles auch anders gesagt werden kann, »rettet« sie. Der Ursprung der Sprachen ist ihr Ungenügen, ihre Unzulänglichkeit angesichts des Gemeinten. Die Sprache setzt Zeichen, sonst wüßte man gar nicht, daß es etwas zu wissen gibt, denn was sie zeigt, zeigt sich nur durch sie, und nur sie sagt uns auch, daß sie es verfehlt: Das Unzulängliche der Sprache kennen wir nur durch sie. Wer spricht, überdauert das, was er sagt, und will es immer wieder sagen; keine Sprache sagt etwas über den Sprecher aus; deshalb ist sie Sprache.

Ich, der die Sprache spricht, bleibe hinter der Sprache, dafür ist sie da.

Die Sprache besteht nicht aus denen, die sie sprechen, und kann ohne sie doch nicht existieren; das macht die Sprache aus: Sie ist nicht, sie ist nirgendwo, aber jeder spricht sie; jeder versteht sie, doch so genau weiß keiner, was der andere versteht und wie er es versteht. Um es zu sagen und sich Gehör zu verschaffen, benutzt man die Sprache; man benutzt sie, ist sie aber nicht. Was durch die Sprachen dringt, ist ihr Sinn, ist das, was ich sagen möchte. Jede Sprache enthüllt die Existenz einer anderen. Von Anfang an ist mir klar, daß ich mich hätte anders ausdrücken können, daß ich weitersprechen und es anders sagen werde: Wenn ich will, kann ich mehrere Sprachen sprechen, und ich bin es, der sie beherrscht, ich bleibe in ihrer Verschiedenheit derselbe, ich hätte auch »in« einer anderen Sprache geboren werden können; mein Einssein ist geradezu der Beweis für die Vielheit der Sprachen.

Ich weiß, daß ich sprechen kann, und dieses Sprechenkönnen vor dem Sagen, dieses »noch nicht« ist es, was letztlich die Sprachen »zeugt«. Das Durchdringen des Sinns macht die Sprachen wiedererkennbar.

»Es ist eine der treflichsten Uebungen für den Geist, wenn er das oft in einer Sprache Gedachte wieder in einer anderen vortragen muss. Der Gedanke wird dadurch unabhängiger von einer bestimmten Art des Ausdrucks, sein wahrer innerer Gehalt tritt deutlicher hervor, Tiefe und Klarheit, Stärke und Leichtigkeit begegnen einander harmonischer«, schreibt Wilhelm von Humboldt.«[3]

In der Tat fängt alles mit der Übersetzung an, mit dem, was sich von Sprache zu Sprache fortstiehlt, was sie alle durchdringt und von keiner erfaßt wird. Seit jeher übersetzt der Mensch, er setzt zuerst sein eigenes Wort (parole) in Worte (mots), und von Anfang an geht es schief. Das Deutsche hat nur ein einziges Wort für das Wort, wo das Französische zwei hat, um zweierlei zu sagen; »Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort«, übersetzt Martin Luther (Johannes I, 1); Louis Segond übersetzt: »Au commencement était la parole et la parole était avec Dieu et la parole était Dieu.«[4]

Welchen Sinn hat es für das Deutsche, mot (Wort) mit parole (Wort) zu »verwechseln« und aus dem Sprechen (parler) die Sprache (la langue) zu machen? »Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache« (Moses I, 11, 1), dagegen wieder Louis Segond: »Toute la terre avait une seule langue et les mêmes mots« (Genesis 11, 1).

Die Aussage (le dire, la parole – das Wort) ist wie eine Hülle des Worts (mot), als bliebe der Sinn im Wort gefangen, da doch das Deutsche eins vom anderen nicht unterscheidet: »Gott war das Wort«, sagt das Deutsche, »la parole était Dieu«, das Französische, das Wort war Gott, also das, was im Wort (mot) »spricht«: Der Sinn entwischt den Wörtern (mots) von Anfang an, das Wort (la parole) verflüchtigt sich. Was die eine Sprache sagt, wird von der anderen umgedreht: »Gott war das Wort« – »la parole était Dieu«; es ist dasselbe, nur andersrum, als bildeten die einander gegenüberstehenden grammatischen Rahmen dasselbe ab.

 

Vielleicht ist die durch die konstante grammatische Umkehrung von Anfang an spiegelbildliche Übersetzung ein Ausdruck für die Struktur beider Sprachen: dieselbe »Passage« (parole) in unterschiedlicher Richtung, in dem oder jenem »Sinn«.

Auf französisch könnte man auch sagen: »Au commencement était le Verbe« – schon wieder das Wort, in diesem Falle das göttliche Wort, in dem die Konjugation durch alle Zeiten mitklingt.

Da also »verwirrt« es sich gleich zu Beginn: Drei Wörter (parole, mot, verbe) werden zu einem einzigen Wort, und doch wird jedesmal derselbe »Sinn« übertragen. Das Wort (la parole) jedoch entwischt ihm – »der fehlende Teil«.

Der fehlende Teil – das zieht sich durch alle Sprachen, das sind die Sprachen selbst; so belegen sie sich gegenseitig und beweisen die Notwendigkeit der Übersetzung, die ihnen allen zugrunde liegt. »Es hatte aber die Welt einerlei Zunge und Sprache« – eine Sprache, ein »Sprechen«.

Wenn das Deutsche für le mot und la parole nur ein und dasselbe Wort hat, hat es dafür für la langue zwei: das alte, heute fast in Vergessenheit geratene Wort die Zunge ist wie im Französischen sowohl das sprachbildende Organ als auch das Gesprochene selbst, die Sprache, die vom Wort sprechen kommt. Das Sprechen, für das es im Französischen ein eigenes Wort, le langage, gibt, wird im Deutschen wiederum zur Sprache.

Was an einer Stelle fehlt, kann anderswo doppelt sein. Alle Sprachen verbindet die Notwendigkeit der Übersetzung überhaupt und ihrer eigenen Übersetzung, aber – und eben darum ist jede Sprache Sprache – sie sind auf keine andere zurückzuführen und schreien deshalb nur um so mehr nach Übersetzung. Jede Sprache zwingt dazu, die Frage nach der anderen Sprache zu stellen, sich selbst gegenüber tritt sie ständig über das, was sie nicht sagen kann, hinaus, erwartet es vielleicht von einer anderen, die wiederum selbst nur ist, was sie nicht sagen kann, und das ihrerseits von einer anderen Sprache erwartet. Sprachen sind Sprachen, weil sie nicht alles sagen; ihre Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit sind ihr ureigenstes Wesen: Denn ich, der sie spricht und ohne den sie nicht wären, spüre (sens = Sinn), was ihnen jeweils fehlt und was ich anderswo finden zu können glaube.

Nun spricht die Sprache gerade durch diese Lücken, diese Mängel; in ihr ist ein Rest, der sie ist, den sie aber nicht ausdrücken kann (der Rest, von dem Molière spricht), wo sie (im Kopf des Übersetzers) ins Stottern gerät und ratlos dasteht mit offenem Mund, da ist sie baff.

Den Ursprung der Sprache (des Sprechens – langage also) kann jeder jederzeit in sich selbst erleben, wenn er sprechen will und ihm die Worte fehlen (la parole). Molière, der Linguist unter den Linguisten[5], zeigt das mit bestürzender Kraft, indem er George Dandin in seinem sprachlichen Ausdruck aufs äußerste beschränkt: »Ich weiß, was ich weiß.«

Die Sprache (la langue) des Menschen erwächst aus dem Nicht-sprechen-Können. Auch in Molières Amphitryon wird die Hauptfigur, Sosie, seiner Äußerungsmöglichkeiten so weit beraubt, daß er fast erstickt und nur noch mit den Händen wedeln kann, aller Zeichen ledig, durch die er für sich und andere wiedererkennbar wäre. So ist Sosie auf die unaussprechliche Gewißheit seiner selbst reduziert, auf seine unbeweisbare Identität, in der die Sprache (le langage) ihren Ursprung hat. Sicher gibt es phylogenetische und »historische« Anfänge der Sprache, aber es gibt auch deren ewigen Neubeginn in jedem, der spricht und sich durch seine Worte nicht verständlich machen kann, der seine Identität nicht nachweisen kann, weil nichts sie beweist: In diesem Abgrund gründet das Sprechen.

In Molières Amphitryon setzt sich Merkur, der über Jupiters Abenteuer mit Amphitryons Frau wacht, an die Stelle Sosies, bemächtigt sich seiner physischen Erscheinung ebenso wie seiner vergangenen und gegenwärtigen Taten und Gesten. Sosie wird aller Erkennungszeichen, auch seines Sprechens, beraubt und ist doch mehr als jeder andere im Herzen der Sprache (langage). Der einzige Beweis, daß er er ist, ist die Unmöglichkeit, sich selbst zu beweisen: Jedesmal, wenn er ein Zeichen seiner selbst hervorbringt, wird es ihm gleich von Merkur entzogen.

Je weniger Sosie seine Identität äußern kann, desto sicherer ist er sich ihrer. Und das Bedürfnis, sich zu äußern, wird desto stärker, je mehr die Sprache (le langage) sich ihm entzieht: Hier ist der eigentliche Ursprung, der »Sinn«, die »Aussage« der Sprache. Die Sprache nährt sich aus dem Scheitern des Sprechens. Es geht ihr voraus. Es bringt sie zum Reden.

Letztendlich kommt alles von diesem Sprechen (langage), das den Sprachen (langues) vorausgeht, die anfangs nichts anderes sind. »Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des anderen Sprache verstehe. Also zerstreute der Herr sie von dort in alle Länder«, heißt es in Luthers Übersetzung der Genesis (11, 7). »Allons! Descendons et confondons leurs langages afin qu’ils n’entendent plus la langue les uns des autres et l’Éternel les dispersa loin de là sur la face de toute la terre«, übersetzt Segond.

»Confondre«...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2018
Übersetzer Brigitte Große
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Sprachwissenschaft
Schlagworte Als Freud das Meer sah • Anspruchsvolle Literatur • Deutsch • Französisch • Georges-Arthur Goldschmidt • Holocaust • Psychoanalyse • Sigmund Freud • Sprache • Studie • Übersetzung
ISBN-10 3-10-490842-7 / 3104908427
ISBN-13 978-3-10-490842-7 / 9783104908427
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 977 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich