Erzählungen (eBook)

Die Schicksalsbrücke / Zwei Mütter / Der Beamte / An der Landstraße / Im letzten Wagen

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
300 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1547-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erzählungen - Leonhard Frank
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In Franks Erzählungen erweist sich, wie beständig bürgerliches Wohlverhalten ist, wenn Ungewöhnliches geschieht: Da löst sich der letzte Wagen eines Zuges, rast vollbesetzt den Berg hinab, und unausweichlich macht sich Panik breit. - Die Erzählungen dieses Bandes erschienen erstmals 1925, als Frank durch 'Die Räuberbande', 'Die Ursache' und 'Der Mensch ist gut' bereits ein anerkannter Schriftsteller war.

Leonhard Frank wurde am 4. September 1882 in Würzburg geboren. Sein Vater war Schreiner, er selbst ging zu einem Schlosser in die Lehre, arbeitete als Chauffeur, Anstreicher, Klinikdiener. Talentiert, aber mittellos, begann er 1904 ein Kunststudium in München. 1910 zog er nach Berlin, entdeckte seine erzählerische Begabung und verfaßte seinen ersten Roman, 'Die Räuberbande', für den er den Fontane-Preis erhielt. Im Kriegsjahr 1915 mußte er in die Schweiz fliehen: Er hatte Zivilcourage gezeigt und handgreiflich seine pazifistische Gesinnung kundgetan. Hier schrieb er Erzählungen gegen den Krieg, die 1918 unter dem berühmt gewordenen Titel 'Der Mensch ist gut' erschienen. Von 1918 bis 1933 lebte er wieder in Berlin, nun schon als bekannter Autor. 1933 mußte er Deutschland erneut verlassen, diesmal für siebzehn Jahre. Die Stationen seines Exils waren die Schweiz, England, Frankreich, Portugal und zuletzt Hollywood und New York. 1952, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus den USA, veröffentlichte er den autobiographischen Roman 'Links wo das Herz ist'. Leonhard Frank, 'ein Gentleman, elastisch, mit weißen Haaren, der in seinem langen Leben alles gehabt hat: Hunger, Entbehrung, Erfolg, Geld, Luxus, Frauen, Autos und immer wieder Arbeit' (Fritz Kortner), starb am 18. August 1961 in München.

Die Schicksalsbrücke


Zuerst 1925 veröffentlicht

Wieder läutete eine Kirchenglocke in den Sonntagnachmittag. Annette stand immer noch im dunklen Zimmer am Fenster. Sie war sechzehn Jahre alt.

Die Straßenlampen brannten schon; aber die Helle kam vom Schnee. Die Häuser gegenüber standen im Dunkel. Ein Zimmer wurde beleuchtet: Eine alte Dame rückte den Lehnsessel zurecht, ließ sich vorsichtig und mühsam nieder an dem polierten Tischrund und breitete die Zeitung aus.

Das Läuten verklang. Stille und Einsamkeit wurden so drückend, daß Annette plötzlich über den Teppich rannte und stürmisch durch den langen, unbeleuchteten Gang. Vor der Wohnzimmertür preßte sie ihre linke Brust und senkte, atmend an den Pfosten gelehnt, tief den Kopf. Sie trat langsam ein.

Miss Hauk saß vor dem Nähtisch und besserte Wäsche aus. »Ihr Haar ist wieder unordentlich, Annette. Haben Sie Ihre Aufgaben gemacht für morgen?«

Der Blick jedes Menschen, der mit Annette sprach, glitt von den Augen herab zu ihrem Munde. Es war, als ob die Augen, die von rein und fast eckig geschnittenen Lidern gehalten wurden wie dunkle Steine von der Goldfassung, sich zurückzögen zugunsten dieses großen schönen Frauenmundes.

Sie sah auf den Wäschehaufen. »Daß Sie das aushalten, immer an diesem kleinen Tisch zu sitzen und Wäsche auszubessern an den Sonntagen!«

Miss Hauk wurde unwillig. »Ich habe doch keine Zeit während der Woche!«

Annette zog die zu langen Beine an. »Aber daß Sie es aushalten! Immer allein und mit mir! Haben Sie denn nicht das Verlangen, mit Menschen zu sprechen?«

»Seien Sie nicht extravagant, Annette. Beschäftigen Sie sich mit etwas. Die Hauptsache im Leben ist die Pflicht. Daß man seine Pflicht tut!«

»Aber was ist Pflicht?«

»Pflicht ist das, was jeder tun muß ... Hier habe ich einen Stoß Zeitschriften für Sie herausgesucht. Lesen Sie, wenn Sie schon nichts arbeiten wollen.«

Während sie blätterte, dachte sie darüber nach, was Pflicht sei. Wer das zu bestimmen habe. Wer Miss Hauk gesagt habe, daß es ihre Pflicht sei, den Haushalt zu überwachen, Annette zu erziehen und an den Sonntagen Wäsche auszubessern. Was Miss Hauk denken mochte, wenn sie stundenlang dasaß und den Faden zog, ohne daß eine Falte ihres Gesichtes sich bewegte. Ob sie sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigte, an ihr langes Leben zurückdachte?

Annette begann an die Zukunft zu denken.

Sie kannte wenig Menschen. Seit dem Tode ihrer Mutter kamen selten Gäste ins Haus. Im Gegensatz zu der ereignisarmen Stille, in der sie aufwuchs, war es die unermeßliche Vielfältigkeit des Lebens, die sie anzog. Sie konnte sich ihre Zukunft nicht vorstellen. Der Gedanke, sich für nur eine von den unendlich vielen Möglichkeiten, die das Leben enthielt, zu entscheiden, war ihr unfaßlich.

Das helle Leben, Wärme, Sonne, Tanz, Blumen, Begehrtsein ... Im Gefängnis sitzen für eine gute Tat ... Krankenschwester im schwarzen Kleid, das Haar kurz geschnitten unter der Haube; nur sprechen, wenn ein Mensch leidet ... Tänzerin. Oder die auffallend gekleidete Frau im Wagen, die so laut lachte, daß alle hinsehen mußten ... Jung sterben – oder viele Enkelkinder haben ... Mußte sie alles sein, um das Leben zu fassen? Oder faßte sie alles, wenn sie nur etwas war?

»Wieder haben Sie die Hände unter dem Tisch, Annette! Wie oft habe ich Ihnen gesagt: Die Hände gehören auf den Tisch! Wie wollen Sie in die Gesellschaft eingeführt werden, wenn Sie nicht einmal verstehen, ordentlich an einem Tische zu sitzen! Man wird mich beschuldigen ... Warum lesen Sie nicht? Oder lösen Sie einen Rösselsprung.«

Annette blätterte weiter in den vergilbten Provinzjournalen, die Miss Hauk während vieler Jahre gesammelt hatte. »Die Rätsel sind schon alle gelöst.«

»Das werden meine früheren Zöglinge getan haben an den Sonntagnachmittagen. Dann häkeln Sie eben.«

Annette legte ein Häkelmuster vor sich hin und daneben heimlich ein Blatt der verbotenen Romanbeilage.

Miss Hauk sah auf die Uhr und öffnete das Fenster. Das tat sie pünktlich jede Stunde, ihrer Gesundheit wegen. Sie ging, in ein Tuch gehüllt, im Zimmer umher und atmete tief ein und aus.

Annette hatte einen Mantel angezogen und sah nun zum Wohnzimmerfenster hinaus. Es schneite. Der Hof war eng und still.

In der kleinen Küche gegenüber richtete die Frau das Abendbrot.

Im Zimmer saß der Mann, hemdärmelig, und spielte Karten mit einem Freunde.

Annette erinnerte sich noch genau, wie dieses Ehepaar vor einigen Jahren von der Hochzeitsreise zurückgekommen und in die kleine Hofwohnung eingezogen war. Die Frau hübsch und frisch, der Mann gepflegt und immer hinter ihr her. Jeden Morgen um acht Uhr ging er ins Büro. Dann erschien die junge Frau mit eingebundenem Haar am Fenster, legte die Betten heraus, schleuderte von Zeit zu Zeit das Staubtuch aus, reinigte die Scheiben. Dabei sang sie. Mittags war alles blank. Das Essen stand auf dem Tisch.

Jetzt sah der Mann nicht mehr so gepflegt aus. Ein Kind lag im Waschkorb. Die Frau war still und blaß geworden. Sie sang nicht mehr. Annette sah immer noch jeden Morgen vom Bett aus zu, wie die Frau, das hellblaue Tuch um den Kopf, die Betten auslegte. Ihr Gesicht war alt.

›Auch sie tut ihre Pflicht. Ist die Pflicht etwas Trauriges?‹

Die Wohnungsglocke läutete. Annettes Freundin kam. »Nur auf einen Augenblick!« Der Wagen wartete unten. Beate legte den Mantel ab und stand in ihrem ersten dekolletierten Ballkleid vor Annette. Der Salon wurde beleuchtet.

Beate glühte. Sie kam von der Hochzeit ihrer Schwester. Sie tanzte im Zimmer umher und umarmte die fassungslose Annette, die nicht begreifen konnte, daß diese Dame mit den entblößten Schultern ihre Freundin war. Das Leben schien doch näher zu sein, als Annette gedacht hatte.

Beate erzählte hastig und pausenlos und stürmte wieder hinaus. Sie hatte sich nur zeigen wollen. Die Wohnung wurde finster. Annette saß wieder neben Miss Hauk.

»Eine merkwürdige Erziehung!« Miss Hauk setzte einen großen Fleck auf das Leintuch. Man dürfe sich aber über nichts mehr wundern. Sie werde dem Vater vorschlagen, diesen Verkehr einzuschränken und später ganz zu verbieten.

Punkt sieben Uhr kam Großtante Emma, um, wie jeden Sonntagnachmittag, nach Annette zu sehen. Sie war über Siebzig und sehr schwerhörig.

Noch kurzatmig von der Kälte schälte sie sich aus einer Unmenge von Kleidungsstücken heraus, küßte Annette und setzte sich mit Miss Hauk auf das Kanapee, über dem zwei Dutzend Familienbilder hingen. Sie schrie laut, und Miss Hauk schrie die Antworten ins Hörrohr. Die Tante nickte immer heftig und sprach weiter von etwas ganz anderem. Annette war überzeugt, daß die Tante seit langem kein Wort mehr verstand.

»Annette, mein Kind, siehst blaß aus.«

»Schwer ins Leben einzuführen!« schrie Miss Hauk ins Hörrohr.

Tante Emma nickte. »Ja ja, Bewegung, mein Kind, Bewegung!«

Zum Abendbrot kam der Student, ein entfernter Verwandter, dessen Familie verarmt war. Er kam seit Jahren täglich zweimal zu Tisch, verbreitete immer einen Geruch wie von eingeregneten, noch nassen Kleidungsstücken, hatte viele Pickel im Gesicht und verschwand sofort, nachdem er gegessen hatte.

»Warum sprechen Sie nie mit Ihrem Vetter oder mit Ihrer alten Tante! Warum schweigen Sie überhaupt immer, Annette! Sie schweigen und schweigen. Während des Essens tranken Sie auch wieder Wasser, ohne sich vorher mit der Serviette den Mund abgewischt zu haben. Ich beobachtete es genau.«

Miss Hauk setzte sich an ihren kleinen Tisch und schlug die Wirtschaftsbücher auf. Einkaufszettel lagen umher, wurden durchgesehen und vernichtet. Die Dienstmädchen waren schon in ihre Kammer gegangen.

Annette öffnete leise die Tür und lief wieder durch den dunklen Gang hinüber ins Vorderzimmer, getrieben von Sehnsucht nach Weite. Ein Mensch bewegte sich mühsam durch den Schnee, den Kragen hochgestellt.

›Er geht so schwer, so schwer ... Wie durch zähes Unglück‹, hatte sie plötzlich gedacht. ›Hat jeder Mensch Schweres zu tragen? Jeder?‹

Sie saß im Dunkeln und sah zu, wie die Flocken fielen. Die Nacht war weiß. Durch den Fensterausschnitt drang das Schneelicht herein. Die Umrisse der Möbel wurden allmählich sichtbar und die Familienbilder an den Wänden. Die tote Mutter blickt. Aus der Ferne tönte schwach das ferne Klingeln der Straßenbahn. Vergangenheit und Zukunft hielten einander die Waage. Annette breitete weit die Arme aus.

Es rasselte lange, ehe die Uhr schlug. Zehn Schläge. Miss Hauk legte sofort den Bleistift weg.

Annette ordnete noch ihre Hefte für den nächsten Tag, englische Aufsätze, stellte den Stickrahmen zurecht. Das Klavierstück ist nicht geübt. Krach am nächsten Morgen.

Das Licht wurde ausgelöscht, die Kerze angezündet im Schlafzimmer. Miss Hauk entkleidete sich umständlich. Sie saß in ihrem gestreiften, kurzen Flanellunterrock und dem Wolleibchen lange vor dem Spiegel und fettete sorgfältig das Haar ein.

Annette sah vom Bett aus zu. Sie hatte Miss Hauk nie im Hemd gesehen. Ohne zu wissen weshalb, hatte sie immer die Augen geschlossen in der letzten Sekunde.

»Sie haben Ihre Zähne wieder zu flüchtig gereinigt. Was soll mit Ihnen werden, Annette? Sie werden immer ein...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte An der Landstraße • Der Beamte • Der Mensch ist gut • Die Räuberbande • Die Ursache • Erzählungen • Im letzten Wagen • Leonhard Frank • Moderne Klassik • Schicksalsbrücke • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre • zwei Mütter
ISBN-10 3-8412-1547-5 / 3841215475
ISBN-13 978-3-8412-1547-5 / 9783841215475
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