Wir sind dann wohl die Angehörigen (eBook)

Die Geschichte einer Entführung
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99106-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir sind dann wohl die Angehörigen -  Johann Scheerer
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Johann Scheerer erzählt auf berührende und mitreißende Weise von den 33 Tagen um Ostern 1996, als sich sein Vater Jan Philipp Reemtsma in den Händen von Entführern befand, das Zuhause zu einer polizeilichen Einsatzzentrale wurde und kaum Hoffnung bestand, ihn lebend wiederzusehen. »Es waren zwei Geldübergaben gescheitert und mein Vater vermutlich tot. Das Faxgerät hatte kein Papier mehr, wir keine Reserven, und irgendwo lag ein Brief mit Neuigkeiten.« Wie fühlt es sich an, wenn einen die Mutter weckt und berichtet, dass der eigene Vater entführt wurde? Wie erträgt man die Sorge, Ungewissheit, Angst und die quälende Langeweile? Wie füllt man die Tage, wenn jederzeit alles passieren kann, man aber nicht mal in die Schule gehen, Sport machen, oder Freunde treffen darf? Und selbst Die Ärzte, Green Day und die eigene E-Gitarre nicht mehr weiterhelfen?

Johann Scheerer, geboren 1982, gründete mit fünfzehn Jahren seine erste Band, nahm mit »Score!« 1999 sein erstes Album auf und ging auf Deutschlandtour. Nach dem Abitur bekam er einen Plattenvertrag für sein Soloprojekt »Karamel« und gründete 2003 das Tonstudio »Rekordbox«. Seit 2005 betreibt er das Tonstudio »Clouds Hill Recordings« mit angeschlossenem Label und Musikverlag 'Clouds Hill'.Johann Scheerer arbeitet als Musikproduzent mit international renommierten Musikerinnen und Musikern wie Omar Rodríguez-López, At the Drive-In, Alice Phoebe-Lou, Gallon Drunk, Rocko Schamoni oder Peter Doherty. » It´s magic what this young German did to my songs. He saved my life.« Peter Doherty // The Libertines, Babyshambles. 2018 erschien sein hochgelobter erster Roman »Wir sind dann wohl die Angehörigen«.

Meine Mutter öffnete die Tür und betrat, energischer als sonst, mein Zimmer. Hatte mein Wecker schon geklingelt? Normalerweise weckte mich meine Mutter nicht mehr. Ich überlegte kurz, ob es mir unangenehm sein sollte, dass sie so unangekündigt hereinkam, war aber zu müde und ließ die Augen geschlossen und meine Gefühle im Dämmerschlaf. Ohne ein Wort lief sie die paar Schritte zum halb geöffneten Fenster und zog die Vorhänge auf.

Vogelgezwitscher.

Hätte ich gewusst, dass diese Frühlingsatmosphäre, dieser Klang der erwachenden Vögel, gepaart mit den ersten vorsichtigen Sonnenstrahlen des Jahres, bis heute eine Art wiederkehrenden Soundtrack, einen Schlüsselreiz meiner Erinnerung darstellen wird, hätte ich meine Mutter bestimmt gebeten, das Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen, bevor sie sich zu mir ans Bett setzte.

Ich tat, als ob ich noch schliefe, ließ sie meinen Rücken streicheln und genoss die paar Sekunden, die ich noch hatte, bevor ich mich anziehen und in die Schule musste. Ich war Ende des vergangenen Jahres dreizehn geworden, Körperlichkeit zwischen meinen Eltern und mir war selten. Der Dämmerschlaf dieser morgendlichen Augenblicke erlaubte es mir, mich nicht gegen die Hand meiner Mutter zu wehren. Langsam kamen die Gedanken.

Eine Lateinarbeit, für die ich mit meinem Vater die Tage zuvor noch gelernt hatte, stand an. Latein lernen mit meinem Vater. Er war nicht der Geduldigste, ich nicht der Begabteste und diese Kombination nicht die beste. Ich sog den Geruch des Kissens ein, streckte mich ein wenig, versuchte, mir die Geborgenheit des Betts, die Besonderheit dieses Moments zu bewahren.

»Johann, ich muss dir etwas sagen.« Der Klang der Stimme meiner Mutter war nicht wie sonst.

Ich kannte diesen Eröffnungssatz von früheren Situationen. Er verhieß nichts Gutes. Das war mir schlagartig klar. Behutsam schien meine Mutter den nächsten Satz vorbereiten zu wollen.

»Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden. Die Entführer wollen zwanzig Millionen Mark. Die Polizei hat einen Krisenstab eingerichtet. Christian Schneider ist auf dem Weg hierher. Ich weiß ganz sicher, dass es gut ausgehen wird, aber bis dahin wird es schwer für uns werden.«

Es war der 25. März 1996, es war Frühling, und mein Leben sollte von da an ein anderes sein. Es sollte keinen unbeschwerten Frühling mehr für mich geben, kein Vogelgezwitscher ohne diesen Satz in meinem Kopf, ohne meinen ersten Gedanken an die Lateinarbeit, die ich hätte schreiben sollen und die ich, das war mir in diesem rasenden Chaos sofort klar, verpassen würde. Meine Mutter sah mich an, als wolle sie mit ihrem Blick in meinem Kopf die Gewissheit einbrennen, dass wir es schon schaffen würden, dass mein Vater nicht ermordet würde, dass alles – was auch immer das sein mochte – gut ausgehen werde.

Die Lateinarbeit. Das war der erste Gedanke, der mir kam. Erleichterung über die Möglichkeit, diesen Schultag zu umgehen, und eine Sekunde danach ein brennendes Feuer, als würde das gesamte Römische Reich in meinem Brustkorb lichterloh in Flammen stehen. Ein Gefühl, als ob mein Magen zerquetscht und meine Eingeweide zerrissen würden. Ein heißer Stich, der quer durch meinen Körper fuhr. Ein Gefühl, das mich und mit mir meine Mutter von diesem Planeten, aus dieser Galaxie zu katapultieren schien. Hinein in eine Welt, von der wir noch nicht mal wussten, ob wir dort würden atmen können.

Ich schämte mich in Grund und Boden, dass mein erstes Gefühl die Erleichterung darüber war, die Lateinarbeit nicht schreiben zu müssen. Es war so profan, unwichtig, absurd, so gemein und dumm, aber es war auch wahr. Mein Vater wurde entführt, und ich hatte erst mal keinen anderen Gedanken als den an die Lateinarbeit.

Warum war ich am Tag zuvor nur so genervt gewesen von meinem penetrant schlauen Vater? Das schlechte Gewissen sollte über Jahre anhalten. Wie wenig ich in diesen ersten Sekunden des Schocks meine Gefühle unter Kontrolle hatte. Von der Sekunde der Erleichterung herab zum Gefühl des rücklings Hinunterfallens ins bodenlose Schwarz des zwitschernden Frühlingserwachens.

Mein Vater wurde entführt. Ohne Fragezeichen. Krisenstab. Dieses Wort schien mir plötzlich gar nicht mehr wie ein Fremdkörper in meinem Leben.

Krisenstab: runder Tisch, Zigarettenrauch, Computer, Papiere, helles künstliches Licht in einem Raum tief unter der Erde. Und dort: Experten.

War keine schlechte Vorstellung. Kannte ich abstrakt aus Filmen. Wie abstrakt eigentlich? Ich erinnerte mich an den legendären »War Room« mit rundem Tisch, Männern, ausschließlich Männern, die unter einer riesigen Neonröhren-Ellipse sitzen. Es würde sich noch zeigen, wie verdammt konkret meine Vorstellungen in diesen ersten Sekunden des Schocks waren und wie abstrus die Realität war.

Ich vergaß zu atmen. Bemerkte einen Druck in der Brust. Sog schnell Luft ein. Mir wurde kurz schwindelig. Meine Gedanken begannen zu rasen, um dann unvermittelt zu stoppen.

Ich war mir sicher, dass mein Vater sterben würde. Vielleicht sogar bereits gestorben war.

Genauer: ermordet. Zu Tode gefoltert oder, noch schlimmer: gefoltert, ohne bislang daran zu sterben. Gestorben zu sein.

Die Entführer werden das Geld bekommen, und dann werden sie ihn ermorden. So läuft das immer, wieso sollte es diesmal anders sein? Das Ende war also klar. Nur wie würde der Anfang sein?

Aus der spontanen Reaktion wurde wenige Tage später der Überlebensplan meiner Mutter und mir. Ohne Hoffnung, so der Plan, auch keine Enttäuschung. Vor allem durften wir uns nicht zu früh freuen. Es sollte keinen Raum für Enttäuschungen geben.

Doch weißt du, wie du Gott zum Lachen bringen kannst? Erzähl ihm deine Pläne.

Ich schrie. Meine Mutter hielt mich fest. »NEIN!! Nein. Nein. Nein. Nein.«

Vergrub mein Gesicht in den Kissen, um meine Gedanken zu dämpfen, mich von der Welt da draußen zu isolieren, zog die Knie zu meinem schmerzenden Bauch, in Kleinkindhaltung, und schrie, schrie, schrie. Drehte mich zu meiner Mutter, die versuchte, mich zu umarmen. Warf mich wieder auf den Bauch. Es durfte nicht sein! Es konnte nicht wahr sein.

Ein paar verzweifelte Tränen zwischen meiner Mutter und mir. Tränen, entstanden aus der Gewissheit, der unausweichlichen Situation, Tränen, die ich zurückhielt, nahezu in mich zurücksog, um die Angst unter Kontrolle zu halten. Ich musste dieses Abenteuer, wie es meine Mutter so kindgerecht wie möglich verpackt hatte, bestehen.

Mein Kopf übernahm bald die Kontrolle. Oder war es mein Körper, der die Kontrolle übernahm? War mein Körper ruhig, weil mein Kopf es ihm sagte, oder war es mein Kopf, der meinem Körper folgte?

Ich hatte vor Kurzem eine Dokumentation über Astronauten gesehen, die sich auf der MIR in einem lebensbedrohlichen Feuer befanden. Einer der Astronauten sagte, dass er zugesehen habe, wie sein Körper die richtigen Knöpfe drückte. Sein Kopf übernahm, steuerte den Rest des Körpers. Er konnte sich selbst zusehen. So entkörpert fühlte ich mich, nur dass ich kein erlerntes Programm abspulen konnte. Doch auch meine bekannte Welt war weit weg. Nun mussten wir irgendwie wieder dahin zurückfinden.

Es schien mir absurd. Mein Vater entführt? Warum? Zwanzig Millionen. Was war das für eine Zahl?

Meine Mutter hatte mit dem Finger über die Nullen fahren müssen, um die Zahl zu begreifen.

Wie ein Kind, das die Zahlen lernt. 2, 20, 200, 2000, 20 000, 200 000, 2 000 000, 20 000 000.

War das viel Geld? War es für uns viel Geld? Kannte meine Mutter die Antwort?

Nie zuvor hatte ich ernsthaft über Geld nachgedacht. Meine Eltern und ich hatten niemals darüber gesprochen. Es existierte nicht. Zumindest nicht in der Sphäre, die für mich als Kind erreichbar war.

Man sieht das Haus, nicht seinen Wert. Isst das Essen, ohne den Preis zu kennen. Fährt in den Urlaub, ohne zu fragen, was er kostet. Dass meine Eltern Geld hatten, war mir bewusst. Aber das war es auch schon. Ich hielt es, wie es mir meine Eltern vorlebten, ich kümmerte mich nicht darum. Ich verstand noch nicht, dass sie so viel Geld hatten, dass man darüber nicht mehr sprechen musste.

Mir wurde langsam schmerzlich klar, dass wir uns das Stillschweigen über Geld, das Ignorieren der Tatsache, dass wir uns in einer irgendwie exponierten Lage befanden, geleistet hatten. Und mir wurde klar, dass das Leben ohne Zäune, Kameras und Sicherheitspersonal gerade zusammengebrochen war.

Jemand hatte unsere Fahrlässigkeit ausgenutzt und alles zum Einstürzen gebracht.

Ich kannte die Geschichten meines Vaters, dessen Mutter ihn aus Angst vor Entführungen während seiner Schulzeit – er ging auf dieselbe Schule, auf die ich jetzt ging – immer chauffieren ließ. Ich wusste auch, wie sehr mein Vater das verabscheut hatte, und dass er sich, sobald er die Möglichkeit dazu hatte, dagegen wehrte und ebenso gegen nahezu alles, was seine Eltern ihm hinterließen. Nun hatte uns dieses Erbe Jahrzehnte später doch noch eingeholt.

»Was meinst du, wo Jan Philipp ist?«

Das war die Zwanzig-Millionen-Frage.

»Ganz sicher nicht weit weg!«, antwortete meine Mutter mit beruhigender Stimme und erklärte, dass die Entführer außerdem »nur« Geld wollten. Die Art, wie der Erpresserbrief geschrieben war, schien darauf hinzudeuten, dass sie nicht aggressiv waren, sondern rational vorgingen.

Meine Mutter versuchte, ein Bild der Situation zu zeichnen, das nicht ganz so düster war wie das Bild, das...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bericht • Blankenese • Briefe • Buch • Bücher • Einsatzzentrale • Entführung • Erpressung • Hamburg • Hamburg-Blankenese • Jan-Philipp Reemtsma • Jan-Philip Reemtsma • Lösegeld • Polizei • Realität • Reemtsma • Reemtsma-Entführung • Spannung • Übergabe • Vater-Sohn-Beziehung • Wahre Begebenheit
ISBN-10 3-492-99106-8 / 3492991068
ISBN-13 978-3-492-99106-3 / 9783492991063
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