Welten der Fantasy (eBook)
900 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-1743-7 (ISBN)
„Beim Allmächtigen und Barmherzigen! Bitte erzähl sie mir nochmal, großer Sindbad“, stieß der Junge hervor, der mit glühenden Ohren den Worten des größten Seefahrers aller Zeiten gelauscht hatte. „Ich bitte dich! Erzähl mir noch einmal, wie man dich auf einer einsamen Insel zurückließ und du dem Riesenvogel Rock begegnet bist.“
Sie saßen in der Nähe des Flussufers, wo sich die Anlegestellen und Kaimauern befanden und sich ein wahrer Wald von Schiffsmasten und Segeln erhob. Unzählige Schiffe legten täglich im Hafen von Bagdad an, dieser größten und prächtigsten Stadt der Welt. Sie segelten den Fluss hinauf und brachten Waren aus aller Herren Länder in die Stadt des Kalifen. Nachdem sie dann ihre Ladung gelöscht hatten und erneut beladen worden waren, fuhren sie flussabwärts, zuerst bis Basra und schließlich zum Schat al-Arab, wo der Strom in den Persischen Golf mündete. Sehnsuchtsvoll blickte Sindbad der Seefahrer einem der Schiffe nach, das sich gerade auf den Weg stromabwärts machte. Er seufzte und trank seinen Tee. Oft genug war er selbst stromabwärts gesegelt. Oft genug hatte er den Schat al-Arab passiert und das Meer erreicht. Oft genug war er auch bis zu den Küsten der Insel Al-Bahrain gesegelt, wo es einen großen Hafen gab, auf dem mit edlen Gewürzen gehandelt wurde. Doch jetzt saß er zumeist am Hafen und erzählte für ein paar Münzen seine Geschichten. Es war schon länger her, dass er zuletzt an Bord eines Schiffes stromabwärts gefahren war.
„Ja, ja, der Vogel Rock...“, murmelte Sindbad auf die Frage des Jungen hin.
Der Junge war ungefähr dreizehn Jahre. Er hieß auch Sindbad und war der Sohn von Sindbad dem Lastenträger, der zu den eifrigsten Zuhörern jener Geschichten gehörte, die Sindbad der Seefahrer am Hafen zum besten gab. Auch nun saß der hagere Lastenträger nach getaner Arbeit mit verschränkten Beinen da und hatte schon die ganze Zeit über den erstaunlichen Berichten seines Namensvetters gelauscht. Und Sindbad der Sohn – normalerweise von allen nur 'Sin' genannt – saß neben ihm. Sein Vater gab ihm einen leichten Stoß. „Sei nicht so unverschämt und freue dich darüber, dass du hier überhaupt zuhören darfst! Denn manche der Geschichten, die der Weltläufigste unter allen Seefahrern, der Mutigste und Kühnste unter allen, die Allah dazu bestimmt hat, sich auf das Meer hinauszubegeben und der Kraft der Winde zu vertrauen, sind ganz und gar nicht für die Ohren eines Dreizehnjährigen bestimmt!“
„Nun übertreibe aber nicht, mein Namensvetter“, sagte Sindbad der Seefahrer mit einem deutlich tadelnden Unterton. „Und vielleicht erinnerst du dich daran, wie du selbst warst, als du dreizehn warst und welcher Art von Geschichten du gelauscht hast!“
„Herr, ich bin ein einfacher Mann“, sagte Sindbad der Lastenträger. „Ich habe nie lesen und schreiben oder ein Handwerk gelernt, geschweige denn sonst etwas, das nützlich sein könnte. Ich habe nur die Kraft meiner Arme, die ich verkaufen kann und bei Allah, als ich dreizehn war, war ich bereits das, was ich heute immer noch bin – ein Lastenträger. Und um einem Geschichtenerzähler zuzuhören hatte ich damals nie die Zeit.“
„So solltest du froh sein, dass es deinem Sohn zumindest in dieser Hinsicht besser ergeht, als es bei dir der Fall war“, gab Sindbad der Seefahrer zurück.
„Erzähl mir mehr vom Vogel Rock, großer Sindbad!“, forderte Sin unterdessen noch einmal. „Als du die Geschichte das letzte Mal erzählt hast, bin ich erst eingetroffen, als der Riesenvogel dich bereits in ein Tal voll Diamanten und Schlangen getragen hatte!“
„Ich erzähle diese Geschichte nicht gern“, behauptete Sindbad der Seefahrer. „Und sie ist auch sicherlich für die Ohren vieler viel zu schrecklich und aufregend... Und mir selbst verursacht dieses Erlebnis bis heute die schlimmsten Albträume! Davon abgesehen weiß ich nicht, ob meine Schilderungen von einem Tal voller Diamanten nicht vielleicht den einen oder anderen Zuhörer von dem rechten Weg abbringen, den Allah für ihn vorgesehen hat, in dem meine Worte eine verwerfliche Gier in ihm wecken!“
„Aber da ich schon einen Teil der Geschichte kenne, platze ich vor Neugier“, wandte der Junge ein. „Denn das Ende habe ich auch nicht fahren, weil ich von meiner Mutter gerufen wurde, als du es zuletzt erzählt hast.“
Inzwischen drängten sich immer mehr Menschen um die drei, die alle den Namen Sindbad trugen.
Einer von ihnen war gekleidet wie die reichen Kaufleute aus Persien, die sehr zahlreich in der Stadt waren. Er warf Sindbad dem Seefahrer eine Silbermünze zu und sagte: „Tue dem Jungen den Gefallen und erzähle die Geschichte vom Vogel Rock!“
„Nun, ich habe sie schon so oft erzählt...“, begann sich Sindbad der Seefahrer etwas zu zieren. „Und auch wenn mein Namensvetter Sin, der Sohn von Sindbad dem einfachen, aber ehrenwerten Lastenträger, vielleicht das Pech hatte, einige Teile davon bisher stets zu versäumen...“
Eine zweite Münze landete vor den überkreuzten Beinen des berühmtesten aller Seefahrer in Bagdad. „Erzähl schon! Du hast mich neugierig gemacht!“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich und es landeten alsbald noch ein gutes Dutzend weiterer Münzen mehr oder minder genau vor den Füßen des Mannes, von dessen Reisen inzwischen schon überall in der großen Stadt gesprochen wurde und dessen Geschichten sich in Dutzenden von Abwandlungen in den Straßen Bagdads verbreitet hatten.
„Ich möchte die richtige Version hören“, meldete sich einer der anderen Männer zu Wort, die bei den drei Sindbads stehen geblieben waren. Er war noch jünger als der Kaufmann und sein gelocktes Haar schaute seitlich unter seinem Turban hervor. „Nicht eine der vielen ausgeschmückten Fassungen, die man sich in den Basaren erzählt, sondern nur die Wahrheit!“
„Wer außer Allah könnte sagen, was die Wahrheit ist“, erwiderte Sindbad der Seefahrer. „Du brauchst nur die Stadt zu verlassen und eine Tagesreise von hier fort zu ziehen, dann bist du in einer Wüste, in der die Luft flimmert und dir Dinge erscheinen, von denen du weißt, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen können, die du aber trotzdem vor dir siehst! Wie viele Wüstenwanderer sind schon jämmerlich verdurstet, weil sie plötzlich ein Gewässer im Horizont zu erblicken glaubten, das nichts weiter als eine Vorspiegelung des Shaitans oder das Trugbild eines Dschinns war!“
„Von der Wahrheit Allahs hören wir in der Moschee – jetzt aber wollen wir die Wahrheit über deine Reisen und den Vogel Rock hören“, beharrte der junge Mann und das zustimmende Geraune, das sich daraufhin erhob, ließ es Sindbad dem Seefahrer ratsam erscheinen, seine Zuhörer nicht länger auf die Folter zu spannen.
Bevor er jedoch zu erzählen begann, hob er zunächst die Münzen sorgfältig vom Boden auf, zählte und begutachtete sie kurz der Reihe nach und steckte sie dann ein. „Wer mir schon des öfteren zugehört hat, wird sich gewiss noch daran erinnern“, so begann Sindbad schließlich, während es unter den Zuhörern nun vollkommen still wurde. So still, dass man genau hören konnte, was die Männer auf einer kleinen, überladenen Dau miteinander redeten, die gerade anlegte.
„Während meiner zweiten Reise“, so begann Sindbad, „wurde ich irrtümlich auf einer Insel zurückgelassen. Mein Schiff war längst wieder auf hoher See und ich blieb allein auf diesem von Allah vergessenen Flecken Erde zurück, das mitten in dem unendlichen Ozean gelegen war. Eigentlich waren wir dort nur vor Anker gegangen, um frisches Wasser zu holen, denn unser Wasser war verdorben und anders als die ungläubigen Nordmänner, die Met anstatt Wasser auf ihre Seereisen mitnehmen, ist es guten Muslimen untersagt, ihr Getränke durch den Alkohol haltbar zu machen. So hatte unsere Mannschaft schon tagelang Durst gelitten und vielleicht ist es diesem Umstand zu verdanken, dass man nicht bemerkte, dass ich noch auf der Insel zurückgeblieben war, während das Schiff bereits in See stach!“
„Was ist mit dem Vogel Rock?“, fragte der Kaufmann. „Spar dir die erzählerischen Girlanden und spann mich nicht noch mehr auf die Folter, Geschichtenerzähler!“
„Oh, erstens: Ist das nicht die Aufgabe eines guten Geschichtenerzählers?“, gab Sindbad der Seefahrer zurück, während Sindbad der Lastenträger die Augen verdrehte, so als würde er diese Ausrede bereits zu Genüge kennen. „Sollte ein Erzähler nicht den Zuhörer so sehr mit Ungewissheit über den Ausgang seiner Erzählung quälen, dass dieser am Ende glaubt, er müsste schier platzen, wenn er nicht auf der Stelle erführe, wie es dem Helden der Geschichte ergeht? Und kann dies der Erzählte nicht nur dadurch erreichen, dass er die wichtigsten Teile seiner Erzählung bis zum Schluss...
Erscheint lt. Verlag | 24.7.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
ISBN-10 | 3-7389-1743-8 / 3738917438 |
ISBN-13 | 978-3-7389-1743-7 / 9783738917437 |
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