Die Rache der Baumeister (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10924-1 (ISBN)
Milo? Urban wurde 1967 in Sokolov, Westböhmen, geboren. Er studierte in Prag und Oxford Anglistik und Nordistik; danach arbeitete er als Verlagslektor. Sein Debütroman «Die Rache der Baumeister» (2001) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Heute lebt Milo? Urban als Autor und Übersetzer in Prag.
Miloš Urban wurde 1967 in Sokolov, Westböhmen, geboren. Er studierte in Prag und Oxford Anglistik und Nordistik; danach arbeitete er als Verlagslektor. Sein Debütroman «Die Rache der Baumeister» (2001) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Heute lebt Miloš Urban als Autor und Übersetzer in Prag.
1
Ich sprech vom neuen Frühling.
Lenz blüht auf im Winter. Wipfelschnee
Wird süß wie Blumen rieseln.
T.S. ELIOT
Es war ein wunderschöner Morgen Anfang November. Ein langer Altweibersommer hatte den Oktober über den Einzug des Herbstes hinausgezögert, bis plötzlich der erste stechende Frost einfiel, ein Peitschenhieb, der die Stadt in Schrecken erstarren ließ. Kein halbes Jahr ist es jetzt her, dass zum letzten Mal die moderne Zeit geschrieben wurde: Damals nahm die Metropole noch den Kampf mit dem bevorstehenden Winter auf. Das Licht wurde schwächer, der Frost kroch allen in die Glieder, aber den Fabrikschornsteinen entwich ein heißer Atem, und die Fenster der Häuser beschlugen in künstlichem Licht. Es waren Ausdünstungen der Verwesung, der Schweiß eines Sterbenden. Die Schminke der neuen Fassaden konnte genauso wenig wie der Schmiss der schnellen Wagen über die nackte Wahrheit hinwegtäuschen, die ebenso kahl war wie die Bäume auf dem Karlsplatz: Das Jahr war alt, uralt das Jahrhundert, das Millennium überlebt. Jedem stand es klar vor Augen, manch einer wandte mit zugeschnürter Kehle den Blick ab und ergab sich widerstandslos dem Biss des allerletzten Herbstes: Ein dreiköpfiger Hund war in Prag eingefallen und wollte sich von seinem geraden Weg nicht abbringen lassen, drei hungrige Schlünde stürzten sich auf alles, was sich in dieser späten Stunde der Menschheit noch zu bewegen wagte. Sie schnappten erbarmungslos zu.
So war es letztes Jahr, dann wurde alles anders. Die Zeit der Barmherzigkeit brach an.
Die weiße Sonne, die tief am Himmel stand, kletterte über die Krankenhausmauer und blieb im Spinnennetz der Ahornkronen hängen. Ganz allmählich und wie aus Trotz erwärmte sie die eisige Luft, sodass der Geruch des Laubs aufstieg, das die Pflastersteine unter sich begrub. In der Kateřinská war es nicht schlimmer als in anderen Jahren auch, aber die Viničná wurde der Länge nach von einer raschelnden Düne zugeschüttet, die nicht nur die Pflastersteine, sondern auch die asphaltierte Straße vollkommen verschwinden ließ. Es gab keinen festen Boden mehr unter den Füßen, jeder Schritt war ein Abenteuer und hinterließ statt klarer Konturen nur einen undeutlichen, eigenartig Unheil verkündenden Abdruck der Schuhsohle in der roten Verwehung. Der Weg durch eine verwehte Straße kann gefährlich sein – genauso gefährlich wie ein Spaziergang auf einem zugefrorenen Fluss.
Ich schlenderte auf dem Kamm des Větrov-Hügels in Richtung Karlshof dahin, teilte mit den Füßen das gelbe Meer und duckte mich vor den Spritzern von aufgewirbeltem Ocker, Zinnober, Siena und Umbra. Die Straße hatte sich in ein Flussbett mit steilen Ufern verwandelt: linker Hand die Spitalmauer, rechter Hand die Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät. Wer die Strecke im Geiste verlängert, mit ihr den Hügel durchschneidet und das Tal überbrückt, den führt sie unfehlbar zu einer Kirche. Der fromme Pilger kommt nicht vom rechten Wege ab.
Ein Krankenwagen fuhr an mir vorbei, gleich dahinter ein zweiter und eine ganze Weile später ein dritter. Genau genommen nicht viel – früher war ich immer auf eine höhere Zahl gekommen. Damals trug ich noch die Uniform und lief nicht zum Vergnügen hier herum. In dieser ruhigen Straße, die kein Umschlagplatz für Drogen oder Falschgeld war, konnte man sich so die Langeweile vertreiben, ohne dass einen dabei jemand erwischte. Und was hatte mich diesmal hierher geführt? Die Gewohnheit vielleicht, die altvertraute Freude an einem Spaziergang im Morgengrauen, das noch verspricht, es sei mehr aus dem neuen Tag herauszuholen als nur die Betätigung des Lichtschalters, wenn am Nachmittag die Dämmerung hereinbricht. Wer wollte schon in einem heulenden Rettungswagen durch die Stadt rasen und einen so stillen, hoheitlichen Morgen stören?
Die Viničnástraße ist etwa dreihundert Meter lang und gerade wie ein Pfeil, also leicht von einem Ende zum anderen zu überblicken. Ich hatte ungefähr die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, als ich eine Frau bemerkte, die ein Stück vor mir ging. Wieso hatte ich sie nicht schon vorher gesehen? Mir war die Straße menschenleer vorgekommen. Die Frau war klein und bahnte sich ihren Weg nur mit Mühe. Sie hielt sich etwas gebeugt, wirkte aber durchaus gepflegt mit ihrem kurz geschnittenen grauen Haar, ihrem braunen Mantel und der braunen Einkaufstasche, diesem unentbehrlichen Accessoire alter Frauen. Aus Sorge, sie zu erschrecken, verlangsamte ich mein Tempo, doch wäre es nicht nötig gewesen: Das Laub reichte ihr zwar bis zu den Knien, aber sie schritt mit einer erstaunlichen Energie voran.
Sie watete durch die rotgoldene Flut und schaute von Zeit zu Zeit nach links, als suchte sie auf dem vergilbten Putz der Mauer nach dem roten Straßenschild oder einem anderen Orientierungspunkt. Offenbar war sie nicht von hier. Sie trug eine Brille, die ihre ganze obere Gesichtshälfte verdeckte. Auf einmal wandte sie den Kopf nach rechts und blieb kurz stehen, um durch das offene Tor in einen Hof zu schauen. In diesem Moment tauchte über dem Torpfosten, direkt über ihrem Kopf, der stolze Turm von St. Apollinarius mit seinem spitzen Dachstuhl auf. Er sah aus wie die Kapuze eines ruchlosen Mönchs, der vor der Kirche Pilgern auflauert. Ich wollte ihr schon etwas zurufen, um sie zu warnen, aber dann wurde mir klar, dass nur die flimmernde Luft meinen Augen einen Streich gespielt hatte.
Die Frau stand einen Augenblick unschlüssig da, dann setzte sie ihren Weg fort, und meine erste Halluzination wurde von einer neuen abgelöst. Es kam mir vor, als hörte ich ihre Schritte ganz nah im Laub rascheln, direkt hinter meinem Rücken statt weiter vor mir. Ich wusste, dass hinter mir niemand war, und trotzdem ließ es mir keine Ruhe, ich musste mich umdrehen. Die Straße war öd und leer. Auf der laubbedeckten Fahrbahn hoben sich die Spuren der Räder schwarz ab, und eine Stille machte sich breit, die nach dem Verhallen des Sirenengeheuls noch eindringlicher schien als vorher. Ein Windstoß ließ die Reifenspuren wieder verschwinden.
Ich lächelte über meine Nervosität und wollte weitergehen, aber die kleine Frau war plötzlich nirgends mehr zu sehen. Sie musste in die Apolinářská abgebogen sein: entweder nach rechts zur Kirche oder nach links auf die Magistrale zu. Oder war sie womöglich geradeaus die alte Treppe zur Albertovstraße hinuntergegangen? Sollte sie sich das getraut haben?
Der Vétrov ist ein unfreundlicher Berg, eine Schönheit, die den Menschen Böses will, wenn sie töricht genug sind, an ihr Gefallen zu finden. Der Wind, der durch die Viničná und die Apolinářská pfeift, veranstaltet auf der Kreuzung regelmäßig einen Wirbel vom Ausmaß eines kleinen Tornados. So manches Mal hatte er mir früher die Polizeimütze vom Kopf gerissen und sie über einen Zaun oder unter ein Auto gefegt, und auch der Regen hatte mich jedes Mal hier erwischt, wo es weit und breit keine Möglichkeit gibt, sich unterzustellen. An diesem Morgen trieben sich diese beiden Quälgeister irgendwo anders herum, vielleicht auf der anderen Seite des Tals, sodass sich der Berg etwas anderes für mich ausdenken musste: Kurz vor der Kreuzung stolperte ich auf dem Gehsteig, schürfte mir den Schuh ab und stieß mir empfindlich den großen Zeh. Ich schob das Laub mit dem Fuß auseinander, und als das Pflaster zum Vorschein kam, stellte ich fest, dass es beschädigt war. Der glatte, im Quadratmuster verlegte Stein schimmerte grünlich und fehlte stellenweise. Aus der grauen Erde sprossen weiße Grashalme hervor, eine blasse Erinnerung an den Sommer.
An der Kreuzung, an der einst die Gifthütte stand, berüchtigte Schänke und sagenumwobener Magnetberg der Prager Studenten- und Gaunerschaft, bog ich nach rechts ab und staunte nicht zum ersten Mal über die klaren Farben der Blumen im Garten der Pfarrkirche St. Apollinarius. Wahrscheinlich blühten sie zum Gedenken an die untergegangene Gastwirtschaft: Generationen von durch die Nacht torkelnden Stammgästen hatten sie durch den Lattenzaun hindurch treulich gewässert. Was Blumen angeht, kenne ich mich einigermaßen aus, aber es ist mir nie gelungen, Dahlien zuverlässig von Astern zu unterscheiden. Ich bewundere die einen wie die anderen. «Hohe Astern, diese letzten Gestirne des versinkenden Sommers, brannten dort im mannigfaltigsten Schimmer.» – Dieser Satz kam mir an jenem Morgen in den Sinn, und ich nahm ihn als Fingerzeig. Ich weiß nicht, von wem diese Worte stammen und wann ich sie gelesen habe, aber dass sie sich mir in Erinnerung riefen, hat mich überzeugt. Falls Sie einmal bei St. Apollinarius vorbeikommen sollten, denken Sie also daran, dass es sich bei den struppigen Blumen, die hinter dem Zaun blühen, um Astern handelt. Namen sind hier von Belang.
Von den roten und violetten Blüten schweifte mein Blick gewohnheitsmäßig hinauf zu den gewaltigen Mauern und den dunklen Fenstern des Chors. Wenn man von dieser Seite kommt, erschlägt einen die Kirche förmlich durch ihre robuste Erscheinung, und unwillkürlich beschleunigt man den Schritt. Aus zu großer Nähe wirkt sie so unnahbar wie eine Festung, die sich dem Betrachter entgegenneigt und droht, ihn mit einem ihrer unzähligen und doch genau berechneten Steinquader zu zermalmen. Besser als der Blick von Osten ist der von Süden her, denn nur so ist die ganze Kirche zu überblicken. Von dort aus erscheint sie schon heller und freundlicher. Aber erst wenn Sie von Südosten aus schauen und den ganzen Turm, das Schiff und den Chor ins Blickfeld bekommen, zeigt sich die Kirche in ihrer vollen Pracht, einer Pracht, die ihresgleichen sucht – und das, obwohl der Bau bis vor kurzem dem Verfall anheim...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2018 |
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Übersetzer | Eva Profousová, Beate Smandek |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Architektur • Attentate • Geschichte • Gotik • Mord • Mordermittlung • Prag |
ISBN-10 | 3-688-10924-4 / 3688109244 |
ISBN-13 | 978-3-688-10924-1 / 9783688109241 |
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