Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
476 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74521-2 (ISBN)

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Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik - Boris Strugatzki
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Boris Strugatzki hat einen Roman voller Ironie und unheimlicher Ideen geschaffen. Dieses Meisterwerk der neueren russischen Phantastik ist ein Ereignis, nicht nur für die große Gemeinde der Strugatzki-Fans.

Stanislaw Krasnogorow, Programmierer künstlicher Intelligenz und Amateurschriftsteller, ahnt, dass in seinem Leben nicht alles mit rechten Dingen zugeht: Ganze 23 Mal hat Stanislaw, genannt Stak, am Rande des Abgrunds gestanden - und entkam jedes Mal dem Tod um Haaresbreite. Zufall? Oder Schicksal? Und wenn er nicht zufällig überlebt hat, muss es dann nicht eine Bestimmung geben, für die er gerettet und aufgespart wird? Auch der KGB wird auf die seltsamen Vorfälle aufmerksam und bringt sie mit einer Reihe ungeklärter Todesfälle in Zusammenhang. Doch niemand hat mit der Entschlossenheit gerechnet, mit der Stak plötzlich seine außergewöhnliche »Gabe« für sich nutzt und eine Zukunft inszeniert, die sich von unserer Gegenwart mehr als grundlegend unterscheidet ...



<p>Boris Strugatzki (1933&ndash;2012) z&auml;hlt zusammen mit seinem Bruder Arkadi (1925&ndash;1991) zu den erfolgreichsten russischen Autoren der modernen Science-Fiction und Phantastik, ihre B&uuml;cher sind in &uuml;ber 30 Sprachen &uuml;bersetzt. Viele ihrer Romane wurden verfilmt.</p>

Boris Strugatzki (1933–2012) zählt zusammen mit seinem Bruder Arkadi (1925–1991) zu den erfolgreichsten russischen Autoren der modernen Science-Fiction und Phantastik, ihre Bücher sind in über 30 Sprachen übersetzt. Viele ihrer Romane wurden verfilmt.

1


»Plötzlich kommt der Augenblick, wo du das Bedürfnis empfindest, ein Resümee zu ziehen«, sagte Stanislaw daraufhin. »Und das muss dir durchaus nicht erst auf deine alten Tage passieren ...« Er hatte einen Anfall von Tiefsinn. »Und es braucht nicht unbedingt einen besonderen Grund dafür zu geben! Das geht so: Jemand in dir, der für gewöhnlich mit seinen eigenen Angelegenheiten befasst ist, blickt plötzlich von diesen Angelegenheiten auf und spricht nachdenklich: ›Tja, mein Herr, für uns scheint es an der Zeit zu sein, ein Resümee zu ziehen ...‹«

Vikont hörte sich die Rede wohlwollend an, klopfte mit der Pfeife auf den Tisch und äußerte: »Gekauft. Schreib’s auf ...« Aber Stanislaw dachte natürlich nicht daran, etwas aufzuschreiben – er lauschte seiner inneren Empfindung, und er begriff schon, dass das ein Vorzeichen war. Das Gefühl verflüchtigte sich allmählich, verlor die Schärfe ... die Bestimmtheit ... die ursprüngliche wilde Vieldeutigkeit – die klare Treffsicherheit eines glücklichen Verses ... Schließlich verstand er doch nicht, welches Resümee zu ziehen es ihn plötzlich gedrängt hatte.

Das geschah im Jahre neunzehnhundertsiebzig, im Frühling, an dem Tag, als Stanislaw siebenunddreißig wurde. Genauer, am Abend dieses Tages, und noch genauer – nachts, als die Gäste schon gegangen waren; die Mutti hatte begonnen, das Geschirr wegzuräumen, und Stanislaw war mit seinem Freund Viktor Kikonin (genannt Vikont) an die frische Luft gegangen, und an der frischen Luft hatten sie beschlossen, noch ein bisschen beisammenzusitzen – nun bei Vikont.

Es gab eine Flasche rosigen »Vin de mas«, es gab starken Kaffee mit Pflaumenkonfitüre, die Gitarre klimperte leise, und die beiden Schöpfer, die beiden wahren Dichter, Busenfreunde, fast Brüder, hoben sacht und mit Gefühl an:

Am Steuerrad die Hand erstarrt,

Der Mast im Nebelgrau zerrinnt,

Schwer liegt’s dem Seemann auf der Seele,

Voraus nur Finsternis und Wind ...

(Worte vom Autorenkollektiv Krasnogorow & Kikonin, Melodie – dito.) Aus irgendeinem Grunde kam es Stanislaw in den Sinn, dass er mehrmals am Ertrinken gewesen war. Genaugenommen dreimal. Das erste Mal schon als ganz kleiner Junge, noch vor dem Krieg, in einem Teich des Waldparks. Mutti hatte am Ufer gesessen und sich mit Tante Lida unterhalten, und der kleine Slawa hatte zunächst am Rande geplanscht, dann aber beschlossen, weiter ins Wasser zu gehen. Anfangs hatte er festen Grund unter den Füßen, dann kam eine dünne und ekelhafte Schlammschicht, dann eine Art Ziegelschutt, und dann nichts mehr. Schwimmen konnte Slawa nicht. Vor Angst riss er die Augen auf, er sah über sich trüben Lichtschein, vor sich wogende Finsternis und begann krampfhaft zu zappeln, wusste schon, dass er verloren war. Und plötzlich tauchte unter den Füßen wieder fester Grund mit einer dünnen Schlammschicht auf. Rasch ging er ans Ufer und setzte sich neben die Mutti auf die ausgebreitete Decke. Niemand hatte etwas gemerkt. Und nichts ringsum hatte sich verändert. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, er sei in Wahrheit schon ertrunken, auf der Decke aber sitze statt seiner jemand anders, und niemand bemerke diesen wichtigen Umstand. Und genau in diesem (und nur diesem einen) Augenblick erschrak er richtig.

Der zweite Fall war viel interessanter. Es war eine ziemlich sonderbare Geschichte. Schon während des Krieges – sie waren aus Leningrad evakuiert worden und lebten in dem kleinen Dorf Kischla in der Tschkalower Oblast – hatte Slawa mit Dorfkindern eine Bootsfahrt unternommen. Sie waren zu fünft ins Boot geklettert, hatten die Ruder hervorgeholt, und plötzlich begann Tolka Brunow mit schrecklicher Stimme zu brüllen und wurde kreideweiß. Schon das war an sich so entsetzlich, dass einem der Atem stockte, und da sah Stanislaw noch, warum Tolka brüllte: Auf dem Bug, inmitten irgendwelcher alter Lappen, saß eine ungeheuerliche, riesige Spinne, grün mit roten Punkten und faustgroß. Slawa konnte sich später nie erinnern, wie er ins Wasser geraten war. Alle fünf fanden sich im Wasser wieder, und nur durch ein Wunder kippte das Boot nicht um. Slawa hatte damals schon schwimmen gelernt, er tauchte auf und wollte gerade aus Leibeskräften zum nahen Ufer starten, als er entdeckte, dass auf dem Wasser direkt vor seinem Gesicht, die grünen Beine nach allen Seiten ausgestreckt, ebendie Spinne schaukelte und ihn aus blutroten Ansammlungen von Augen anschaute, von denen sie eine Million hatte. Und da klinkte sich Slawas Bewusstsein aus. Weiter erinnerte er sich an nichts. Die Kinder erzählten ihm später, dass er reglos an der Oberfläche schwamm, sodass der Hinterkopf aus dem Wasser ragte, und völlig weggetreten war. Sie zogen ihn rasch ans Ufer und pumpten das Wasser aus ihm raus. Die Spinne hatte niemand mehr zu Gesicht bekommen. Viel später dann, schon wieder in Leningrad, schon erwachsen, hatte Slawa eine Menge Bestimmungsbücher für Gliederfüßler gewälzt und sogar im Zoologischen Museum nachgefragt, doch alles vergebens – wie sich zeigte, war der Wissenschaft diese sonderbare und schreckliche Spinne unbekannt. Sie kam in der Natur nicht vor, zumindest nicht in den russischen Breiten ...

Und was das dritte Ertrinken betraf ... die Ertränknis ... das »katastrophische Untertauchen in Wasser ohne anschließendes Verlassen desselben« – beim dritten erinnerte sich Stanislaw nur ungern an irgendwelche Einzelheiten, und erzählen mochte er davon schon gar nicht. Damals war ein ganzer Trupp ins Wasser gefallen – sechs Burschen, vier Mädchen: Sie waren ins Eis des Ladogasees eingebrochen, in voller Montur, mit ihren monströsen Rucksäcken, mit den Zelten ... Ein Mädchen war ertrunken, doch Stanislaw hatte sich gerettet. Er hätte sich nicht retten dürfen, wenn es ehrlich zugegangen wäre, doch er hatte sich gerettet ...

So hatte die Zählung begonnen. Im Grunde aufs Geratewohl. Ganz zufällig.

Er erzählte Vikont von allen drei Fällen, und Vikont gestand (mit gewissem Bedauern), dass er selbst niemals am Ertrinken gewesen sei. Von dem Fall in der Kindheit abgesehen, als der Zünder hochgegangen war, hatte er überhaupt niemals sein Leben einer Gefahr ausgesetzt. Stanislaw wunderte sich. Ihm kamen auf Anhieb drei, sogar vier weitere Fälle in den Sinn, wo er um Haaresbreite dem Tode entronnen war. Nichts einfacher als das – dem Tod um Haaresbreite nahezukommen. Er glaubte Vikont nicht. Er kam zu dem Schluss, dass Vikont wie gewohnt etwas verschleierte. Vikont war ein Geheimniskrämer, Geheimniskrämer vulgaris.

Er arbeitete in einem »Kasten«, und es war völlig unklar, was er dort trieb. »Ach, allen möglichen Kram ...«, gab er für gewöhnlich zur Antwort, wenn man ihn danach fragte, und verzog dabei angewidert sein langes, bleiches Gesichtchen – er log. Es war anzunehmen, dass er sich durchaus nicht mit Kram befasste. In den letzten zehn Jahren hatte er es schon auf rund hundert Auslandsreisen gebracht. Wobei er immerzu in irgendwelche ausgefallenen Länder flog, wohin normale Sowjetmenschen niemals reisen: Brasilien, Lesotho, Guayana ... Aus irgendeinem Grunde in den Iran. Was zum Teufel hatte ein Sowjetmensch, der das Vierte Medizinische Institut absolviert hatte, im Iran zu suchen?

Eine halbwegs vernünftige Antwort war von Vikont nicht zu kriegen. Von seiner Arbeit pflegte er niemals das Geringste zu erzählen. Niemandem. Und es gab auch niemanden, dem er davon hätte erzählen können. Er hatte keine Freunde, ausgenommen Stanislaw.

Wenn sich bei Stanislaw die übliche Gesellschaft traf, fing Vikont (freilich selten) aus heiterem Himmel an, von anderen Ländern zu erzählen. Als Erzähler hatte er kaum seinesgleichen. Alle verstummten, wenn es über ihn kam, und lauschten mit angehaltenem Atem, voller Angst, er könnte stutzen und ebenso unvermittelt und grundlos aufhören, wie er begonnen hatte.

Er begann immer in der Mitte, von einem unverständlichen Punkt aus, den er anscheinend für den springenden hielt. ...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Arkadi • Arkadi Strugatzki • Fantastik • KGB • Klassiker • Künstliche Intelligenz • Phantastik • Philip K. Dick • Picknick am Wegesrand • Russland • Satire • Science-fiction • Sci-fi • Sowjetunion • ST 4843 • ST4843 • Stalker • Stanislaw Lem • suhrkamp taschenbuch 4843 • Tarkowski • UdSSR • Zukunft
ISBN-10 3-518-74521-2 / 3518745212
ISBN-13 978-3-518-74521-2 / 9783518745212
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