Verschattete Heimkehr (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
416 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561972-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verschattete Heimkehr -  Hans-Ulrich Horster
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Der Boxer Peter Hall nähert sich dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Niemand zweifelt daran, daß er der künftige Champion sein wird - auch nicht seine zweite Frau Erika, die das Boxen verabscheut. Da reißt ihn ein Telegramm aus der Abgeschiedenheit des Trainingslagers, ein Telegramm mit der Nachricht, seine Mutter sei schwer erkrankt. Erika drängt ihn, sofort nach dem entscheidenden Kampf zu fahren. Sie ahnt nicht, daß ihre Schwiegermutter gesund ist und das Telegramm nur ein Vorwand war, um zwei Menschen zusammenzuführen, die einmal einander gehört haben ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Hans-Ulrich Horster war eines der Pseudonyme von Eduard Rhein (1900-1993). Rhein studierte Physik, Biologie und Medizin, war Schriftsteller, Journalist, Librettist, Chefredakteur und Erfinder. Für seine vielfältigen Verdienste wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Hans-Ulrich Horster war eines der Pseudonyme von Eduard Rhein (1900–1993). Rhein studierte Physik, Biologie und Medizin, war Schriftsteller, Journalist, Librettist, Chefredakteur und Erfinder. Für seine vielfältigen Verdienste wurde er mehrfach ausgezeichnet.

2


Die zarte Frauengestalt an der Bahnsteigkante wird immer kleiner.

Peter lehnt weit aus dem Fenster und winkt, bis der dichte Dampf der Lokomotive sie verhüllt. Noch einmal taucht sie auf, dann verschwindet sie völlig im quellenden Weiß.

Peter schließt das Fenster.

»Gott sei Dank«, stöhnt die gelbgesichtige alte Dame, die ihm gegenübersitzt. »Es zog ja schrecklich!«

Peter hängt Hut und Mantel auf, verstaut seinen Koffer, nimmt eine Zeitung aus der Rocktasche und versucht zu lesen. Immer wieder eilen seine Gedanken zwischen Hamburg und München hin und her. Zwischen Erika und Mutter.

»Fahren Sie auch nach München?« fragt die Frau.

»Ja.«

Du lieber Gott, sie fährt bis München mit! Wenn Erika das wüßte, würde sie mitleidig lachen. Ihr frisches, kindliches Lachen. Erika! Jetzt geht sie sicher durch die Bahnhofshalle auf den Glockengießerwall zu, denkt er. Wenn sie nach Hause kommt, setzt sie sich zu Heinchen ans Bett. Ob der Kleine mich vermissen wird?

»Ich besuche meinen Sohn in München«, reißt ihn die brüchige Stimme der Frau aus seinen Gedanken. »Er studiert dort. – Jura!« fügt sie nach einer Weile wichtig hinzu.

Sie versucht, in Peters Gesicht zu lesen, welchen Eindruck ihre Worte auf ihn machen. Peter sieht an ihr vorbei zum Fenster hinaus. »Soso«, sagt er gleichgültig. Wenn sie doch nur aufhören wollte zu reden.

Seine Gedanken sind wieder bei Erika. Wie fürsorglich sie immer ist. Er ist sehr glücklich mit ihr. Auch mit Maria war er glücklich … Peters Gesicht verdüstert sich bei diesem Gedanken. Maria, seine erste Frau. Wie lange ist sie jetzt schon tot? Er weiß es nicht. Nicht einmal das weiß er. Er weiß nicht, wie und wo und wann sie gestorben ist. Ob jemand in ihrer letzten Stunde bei ihr gewesen ist?

Wie oft hat er diese Gedanken verdrängt! Und wie oft ist doch immer wieder das Bild Marias in Träumen und Gedanken in ihm aufgestiegen! Gerade in letzter Zeit. Als wolle es erinnern, mahnen …

Maria – sie war nicht still und träumerisch wie Erika. Ein Sportskamerad, temperamentvoll, intelligent, selbständig – und doch konnte sie sanft und zärtlich sein, voll hingebender Liebe. Ihr Gehen war ein Schreiten aus gewandter Kraft, Schönheit und Beherrschtheit, und wie ein Zaubermantel wehte ihr langes dunkles Haar. Immer war sie in Bewegung. Peter hatte sie auf einem Sportfest kennengelernt. Sie gehörte damals zu den besten deutschen Läuferinnen. Peter hatte zugesehen, wie sie in blendendem Stil zwei Sprintstrecken sicher gewann. Später saß sie im Trainingsanzug am Ring, die Wangen noch vom Lauf gerötet, und er boxte für sie – seinen ersten großen Amateurkampf – und gewann. Maria hatte begeistert geklatscht und ihm später gratuliert. »Sie werden bestimmt mal ein ganz großer Boxer!« hatte sie mit leuchtenden Augen gesagt.

Im letzten Kriegsjahr heirateten sie. Er zog mit ihr nach Berlin, weil er dort Medizin studieren wollte. Sie wohnten in einem Mansardenzimmer in der Frankfurter Allee.

Eines Tages kam der Stellungsbefehl. Nach dreimonatiger Ehe mußte Peter Maria verlassen. Sie brachte ihn zum Bahnhof; genau wie Erika heute morgen. Nur blieb Maria nicht in der Halle stehen. Bis ans äußerste Ende des Bahnsteigs lief sie neben dem Wagen her …

Als er aus der Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurückkam, war sie nicht mehr da. Das Haus in der Frankfurter Allee war niedergebrannt, und die Nachbarn wußten nichts von der jungen Frau Hall. Entweder ist sie umgekommen oder verschleppt worden, hieß es.

Umgekommen? Nein! Peter hatte es nicht geglaubt. Nicht glauben wollen. Er hatte verzweifelt nach Maria gesucht. Jahre – Jahre – Jahre – Jahre! Nichts, was er unversucht, keine Möglichkeit, die er ungenutzt gelassen hatte. – Vergeblich! Er war fast daran zerbrochen. Er hatte nie geglaubt, diesen Schicksalsschlag überwinden zu können. Aber das Leben ging weiter. Budweis trat in sein Leben. Mit ihm kamen Aufstieg, Erfolg und Anerkennung. Und dann Erika …

Da ließ er Maria für tot erklären.

Erika … Peter sieht sich plötzlich wieder in dem kleinen Konzertsaal. Er stand am Beginn seiner Laufbahn als Berufsboxer. Er hatte genügend Geld und war doch nicht zufrieden. Der Schatten Marias folgte ihm überallhin.

Er suchte ständig Neues, Abwechslung, Spannung! Sein möbliertes Zimmer bedrückte ihn. Meist war er mit Freunden unterwegs. Er hatte auch einen Freund in dieses Brahms-Konzert begleitet. Aus einer dummen Laune heraus. Doch es langweilte ihn sträflich. Er fühlte sich unbehaglich und fehl am Platze. Er hatte sich noch nie etwas aus ernster Musik gemacht. Er verstand nichts davon. Die perlenden Töne, die vom Flügel aufstiegen, sagten ihm nichts. Sie ließen ihn gleichgültig. Aber das Mädchen, das im zweiten Teil des Programms auf dem Podium saß, das nach den Schlußakkorden eine verlegene Verbeugung machte, dieses Mädchen nahm Peter Hall vom ersten Augenblick an gefangen. Er klatschte ihr zu, so wie man ihn selber bejubelte, wenn er im Ring stand. Erika hießt sie, Erika Simler.

Drei Monate später war sie seine Frau. Peter hatte sich nie klargemacht, daß er sie geheiratet hatte, um Maria vergessen zu können.

Peter denkt über seine Ehe nach. Es ist eine gute Ehe geworden. Erika liebt ihn, obwohl sie beide so grundverschieden sind.

Erika versteht vom Boxen genausowenig wie er von Musik. Ja, sie verabscheut diesen Sport sogar; er sei brutal und gemein, findet sie.

Das wurmt Peter mehr, als er sich selber eingesteht. Aber das ist auch der einzige Schatten auf ihrem Glück.

Ist es denn überhaupt ein Schatten? O ja. Wenn Peter ehrlich ist, muß er es zugeben. Er ist nicht zufällig Boxer geworden. Das Boxen ist sein Beruf und seine innere Berufung. Er hat Freude am Kampf, an der Härte, an der Notwendigkeit, sich stets aufs neue zu bewähren.

Erika hätte sich wenigstens bemühen können, die guten Seiten dieses Sports zu sehen. Ich habe mich doch auch bemüht, sie zu verstehen, denkt er. Wie oft bin ich mit Erika in Konzerte gegangen. Wie oft habe ich ihr zugehört.

Als Heinchen unterwegs war, hat Erika das Musikstudium aufgegeben. Sie spielt jetzt nur noch, wenn Peter nicht zu Hause ist. Sie hat wohl auch gemerkt, daß mich das stundenlange Üben nervös macht, denkt er. Ob das ein großes Opfer gewesen ist? Es kann ihr wohl doch nicht so viel bedeutet haben. Was man wirklich liebt, gibt man nicht so leicht auf. Nein, denkt Peter Hall, unsere Ehe ist glücklich geworden, so glücklich, wie sie nur sein kann. Seit Heinchen da ist, ist unsere Ehe vollkommen.

Peters Augen folgen den Telegrafendrähten.

Sein Freund Kurt Damaschke fällt ihm ein. Komisch, seine anderen Freunde sind mit Damaschke nie warm geworden. »Ick kann den Leisetreter nich riechen«, sagt Lemke oft. Und Peter weiß, daß auch Budweis ihn nicht mag.

Mit Kurt stimmt irgend etwas nicht, denkt Peter. Seit er seine feste Stellung verloren hat, treibt er sich viel herum. Ich muß mal ernstlich mit ihm sprechen. Wenn er jetzt zum Beispiel wieder bei Erika sitzt …

Peter schließt die Augen und lauscht auf die einschläfernde Melodie der Räder.

Er hat vergangene Nacht aus Sorge um die Mutter kaum schlafen können. Sicher liegt sie schon im Krankenhaus. Weshalb nur hat sie nicht telegrafiert, was ihr fehlt? Sie muß sich doch denken können, wie sehr ihn diese kurze Nachricht bestürzt. Wahrscheinlich hat sie das Telegramm gar nicht selber abschicken können. Es wird vom Krankenhaus aufgegeben worden sein.

Warum schleicht dieser Zug nur so? Die Fahrt dauert ja ewig!

Bei dem Aufenthalt in Göttingen schiebt ein Junge seinen Zeitungswagen am Zug entlang. »Peter Hall Sieger durch K.o! – Peter Hall Deutscher Meister!«

Peter verzieht keine Miene. Da steht nun sein Name dick und groß in frischer Druckerschwärze. Wie gleichgültig ihn das jetzt läßt!

Er sieht auf das große Zifferblatt der Bahnhofsuhr. Erst halb zwölf; noch mehr als acht Stunden Fahrt.

Seine Gedanken sind schon wieder bei der Mutter. Es sind quälende Gedanken, die sich immer im Kreise drehen. Gedanken, die wie durch ein feinmaschiges Sieb laufen, in dem schließlich nur eines zurückbleibt: Angst!

Stunde um Stunde verrinnt. Ab und zu sagt die alte Dame etwas. Es ist stets das Gleiche. Es dreht sich immer um die Ankunft oder um ihren Sohn.

Peter nickt endlich doch ein. Der Kampf und die schlaflose Nacht fordern ihren Tribut. Er schreckt auf, als die alte Dame ihn an der Schulter berührt. »München«, sagt sie, »wir sind gleich da!«

Donnernd fährt der Zug in die Bahnhofshalle ein.

Peter ist der alten Dame beim Aussteigen behilflich. »Kommen Sie«, sagt er, »ich werde Ihren Koffer bis zur Sperre tragen.«

»Danke, danke«, antwortet sie hastig und achtet schon nicht mehr auf ihn, »ich werde abgeholt. Mein Sohn …« – und dann liegt sie in den Armen eines jungen Mannes.

 

Peter bleibt noch einen Augenblick gedankenverloren stehn, dann geht er weiter. Sie wird abgeholt, denkt er bitter, und ich …

Stimmengewirr, Ausrufe, Begrüßungen, alles drängt und staut sich vor der Sperre.

Peter hat es auf einmal gar nicht mehr eilig. Ein ungutes Gefühl lähmt ihn.

Plötzlich bleibt er mitten im Gewühl stehen. Wie hypnotisiert blickt er auf eine Frau im dunklen Mantel. Sie steht hinter dem Sperrgitter. Eine hübsche, kleine Frau mit eisgrauem Haar.

Dann kommt Bewegung in Peter. Er rennt auf das Gitter zu. »Mutti«, schreit er. Über die Barriere hinweg umarmt er sie stürmisch. »Mutti, bist du es denn wirklich?«

Die kleine Frau...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auto • Belletristik • Berlin • Blankenese • Boxen • Budweis • Dagmar Damaschke • Ehe • Erika Hall • Großstadtabend • Hamburg • Heimkehr • Heinchen • Heinz Lemke • Kampftag • Krankheit • Kurt Damaschke • Lemke • Liebe • München • Mutter • Paul Scheller • Peter Hall • Rahmenkampf • Roman • Sportschule • Taxi • Unfallwagen • Valentinstag • Zigarette • Zigarre
ISBN-10 3-10-561972-0 / 3105619720
ISBN-13 978-3-10-561972-8 / 9783105619728
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