Wer die Goldkehlchen stört (eBook)
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-17053-0 (ISBN)
Levi Henriksen wurde 1964 in Kongsvinger/Norwegen geboren. Er ist Musiker, Journalist und Autor und gilt in seiner Heimat als der 'Bob Dylan Norwegens'. Sein Debütroman wurde in Norwegen zum Lieblingsbuch des Jahres gewählt. Mit seinen schrägen Kurzgeschichten zur Weihnachtszeit ist er dort seit Jahren erfolgreich.
Kapitel 1
Ich sah die Geschwister Thorsen zum ersten Mal in der Kirche von Kongsvinger. Ich war in der Stadt, um bei einer Taufe Pate zu sein, und selten hat mich ein Sonntagmorgen so heftig und frontal getroffen. Der Vorabend hatte mit einem totalen Absturz geendet. Eine Bande von lokalen Musikern, die laut dem Vater des Täuflings wichtiger für die Modernisierung des Blues war als irgendeine andere norwegische Gruppe, hatte zu Hause ein Konzert abgehalten. Plattenproduzenten wie ich suchen allerdings etwas andere Qualitäten als halb betrunkene Kneipengäste, und dieser Versuch, Rootsmusik in neuer Verpackung zu bringen, hatte mich in den Suff getrieben. Und das Schlimmste war, dass er mich auch noch dazu getrieben hatte weiterzutrinken, obwohl ich braunen Schnaps noch nie vertragen konnte. Als ich am Sonntagmorgen meine Visage aus dem beschlagenen Badezimmerspiegel herauskratzte, kam es mir unmöglich vor, präsentabel genug zu wirken, um vor einem Taufbecken Aufstellung zu nehmen, ganz zu schweigen davon, die Pastorin lange genug anzuschauen und den Namen Hubert so auszusprechen, dass es nicht wie eine Verwünschung klang.
Ich versuchte, Stärke zu finden, indem ich mir das Gesicht des verstorbenen Gitarristen von Howlin’ Wolf vorstellte, nach dem der Täufling benannt werden sollte, aber ich sah bloß einen schwarzen Mahlstrom, in den die ganze Welt hineingesaugt wurde. Zwei Kannen Kaffee später konnte ich mich immerhin zur Kirche schleppen, kam aber nur bis zur hintersten Bank und signalisierte den anderen von dort, dass ich mich zuerst ein wenig sammeln müsste, ehe ich nach vorn zu den für Paten und Verwandte reservierten Plätzen gehen könnte.
Ich bin nie besonders gläubig gewesen, aber ganz hinten in Gottes eigenem Tempel musste ich doch an eine Geschichte aus der Bibel denken, die mein Großvater immer gern erzählt hat. Die von Paulus, der auf der Straße nach Damaskus zu Boden geschlagen wird und blind werden muss, um zu sehen. Als ich aus der Kirche stürzte und die Abkürzung über mehrere Gräber nahm, um die Toilette zu erreichen, ehe die Katastrophe zur Tatsache würde, konnte ich mich gerade noch fragen, ob auch mir eine solche Prüfung bevorstand, ehe ich die Tür aufriss und vor dem Porzellanklo auf die Knie fiel.
In der Kirche gab ich mir dann alle Mühe, so wenig wie möglich zu schwanken, ließ mich in einer der ersten Bänke am Rand nieder und versuchte, andere nicht anzuhauchen, aber die neue Frau meines alten besten Freundes kniff die Augen stark zusammen. Ich setzte mich gerade, spannte meine Magenmuskeln an, doch die Schwerkraft machte mir auf eine noch nie erlebte Weise zu schaffen. Der Schweiß brannte mir in den Augen, und ein eisiges Gefühl kroch mein Rückgrat hinauf, wie der Zeigefinger des Todes. Mein Herz pochte doppelt so schnell.
An diesem Sonntag wurden drei Kinder getauft, und die Kirche war fast voll. Zuletzt sollte Hubert Malling in das seichte Becken vor dem Altar getunkt werden, und ich merkte schon, dass ich den Taufgottesdienst nicht bis zum Ende durchhalten könnte. Das Kirchenschiff hatte ein wenig Schlagseite, die groben Bodenbretter wirkten so einladend wie das Innere eines Sarges, und ich wollte gerade aufgeben, als ich von den Geschwistern Thorsen gerettet wurde. Später dachte ich an ihre Stimmen wie an die Hand, die dich packt, wenn du gerade zum dritten Mal untergehst. Ich kann es nur so erklären, dass die Geschwister Thorsen mein verhärtetes Produzentenherz auf eine Weise anrührten, wie das keiner anderen Stimme je gelungen war.
Anfangs wagte ich nicht, mich umzudrehen, aus Angst, die Schweißausbrüche und hämmernden Kopfschmerzen noch zu verstärken, aber als die dritte Strophe begann mit »Die rechten Wege wandle ich, solang ich leb auf Erden«, schaute ich doch nach hinten. Ich rechnete damit, auf die kreideweißen Gebisse großbusiger Gospelnebelhörner zu blicken, und musste zweimal hinsehen, um wirklich zu begreifen, wer da mit solcher Inbrunst sang. Der Mann war fast schon schwabbelig, und seine dünnen gelblich weißen Haare klebten an seinem Schädel wie die Breitengrade auf einem Globus. Die größere Frau hatte kohlschwarze Haare, und das Rouge betonte die Wangenknochen in dem schmalen Gesicht auf eine Weise, die mich an einen Vogel mit einem langen Schnabel denken ließ. Die andere Frau hatte ihre Haare unter einem altmodischen Hut verborgen – trotzdem sah ich, dass sie einmal eine gewesen war, für die Männer über Reklameschilder gestolpert oder gegen Laternenpfähle gelaufen waren. Wie sie da so Schulter an Schulter saßen, drei Reihen hinter mir und weit im Norden des Lebens, wies nur wenig darauf hin, dass dieses bejahrte Trio dieselben Vorfahren haben könnte, aber ihre Stimmen wurzelten in einer gemeinsamen musikalischen DNA, und ich musste einfach darüber staunen, mit welcher Autorität sie sangen. Obwohl in der Kirche vielleicht zweihundert Menschen anwesend waren und mindestens die Hälfte bei den Liedern mitsang, hörte ich die drei deutlich heraus, sie vermittelten jedes einzelne Wort wie ein kleines Stück Leben, das sie wirklich gelebt hatten. Ihr Gesang hatte etwas Schwereloses, einen langen Schweif von Bewegung, der alles um mich herum verschwimmen ließ. Er hob meinen gebrechlichen Leib aus dem Tal der Todesschatten und erfüllte mich mit Demut.
Während wir uns um das Taufbecken aufstellten, fühlte ich mich so lebendig, als ob ich gerade aus einem Autowrack herauskroch. Problemlos konnte ich mit klarer Stimme Huberts Namen verkünden, und angesichts der halbmondförmigen Tränen, die in die Augen des Vaters traten, musste ich den Kopf ehrfürchtig senken, weil ich etwas so nahe war, das im Leben eines anderen Menschen offenbar als reines, unverfälschtes Glück erlebt wurde.
Nachdem die Pastorin Hubert vor dem Altar hochgehoben hatte, damit die gesamte Gemeinde ihn willkommen heißen konnte, nahmen wir wieder in den Bänken Platz, und der Küster trug etwas aus dem Ersten Petrusbrief vor. Ich spürte, wie sich ein gesegneter Friede über mich senkte, und setzte mich bewusst möglichst unbequem hin, damit mir nicht die Augen zufielen. In Gedanken hatte ich schon die Hand nach dem ersten Budweiser auf dem Tauffest ausgestreckt, und als die Pastorin alle bat, sich im Gebet des Herrn zu vereinen, glaubte ich zuerst, das Trio sei in Zungensprache ausgebrochen, aber dann erkannte ich das Vaterunser. Nur klang es bei den dreien ganz anders als bei den gesenkten Köpfen in meiner Nähe.
»Was ist hier los?«, flüsterte ich Malling zu und bewegte meinen Kopf nach hinten.
»Sie demonstrieren gegen die Neufassung des Vaterunsers. Sie weigern sich, den heute eingeführten modernisierten Text zu verwenden«, flüsterte Malling zurück und starrte weiter auf seinen Bogen mit dem Text.
»Wer sind diese Leute?«
»Geschwister aus einem Dorf hier in der Nähe. Sie haben im vorigen Jahrtausend mehrere Platten veröffentlicht und waren ziemlich berühmt.«
»Was für Musik war das denn?«, flüsterte ich mit noch immer leiser Stimme.
»Sie gehören einer Pfingstgemeinde an, und sie haben christliche Lieder gesungen«, sagte Malling und versuchte, sich wieder auf sein Gebet zu konzentrieren.
Als ich mich umdrehte, hatten sich die drei Geschwister erhoben, und etwas an ihrer Haltung erinnerte mich an eines der schärfsten Rockfotos überhaupt. Dieses Bild war 1970 in Oakland, Kalifornien, entstanden und zeigt, wie Creedence Clearwater Revival auf dem Höhepunkt ihres Schaffens vom Publikum gefeiert wurden. Der Fotograf hinter der Bühne hatte das Bild über die wogende Menschenmenge hinweg aufgenommen. Zwischen den erregten Gesichtern, den ausgestreckten Händen und den eng gedrängten Körpern fallen drei Mädchen auf. Sie überragen alle um mehrere Haupteslängen, vermutlich haben sie bei anderen auf den Schultern gesessen, aber ich habe immer glauben wollen, dass sie von ihrer Fähigkeit getragen wurden, sich vollständig in der Musik versinken zu lassen. Die Geschwister Thorsen warfen nicht wollüstig den Kopf in den Nacken, aber ihre Gesichter strahlten ganz ähnlich. John Fogerty scheint sich in seiner Rolle absolut wohlzufühlen und hebt die linke Hand, wie um die Versammlung zu segnen, während die Pastorin in der Kirche von Vinger eher verlegen wirkte. Ihr Versuch, die Gemeinde durch die neue Version des Vaterunsers zu führen, gab mir das Gefühl, eine Fernsehsendung zu verfolgen, bei der Ton und Bild nicht synchronisiert waren. Die Lippen der Pastorin bewegten sich, aber was ich hörte, waren die Stimmen der drei Geschwister.
Nach der Taufe blieben wir vor dem Altar stehen, um zusammen mit der Pastorin fotografiert zu werden, und ich musste natürlich dem Abmarsch der drei singenden Geschwister zusehen. Zuerst war ich davon überrascht, dass sie aus der Ferne viel älter wirkten und dass der Mann einen Rollator benutzte. Dann ging mir auf, dass sie sich wie eine Rockgruppe bewegten, die seit Jahren die Bühne nach demselben eingeübten Muster verlässt, der Frontmann vorweg, dann die anderen in genau synchronisiertem Diagonalgang. Ich wollte Malling gerade weitere Fragen nach den Geschwistern stellen, als das Blitzlicht um uns herum losknisterte, und ich musste die nächsten Minuten lang meine Lippen zu meinem besten Popstarlächeln anspannen.
Auf dem Weg aus der Kirche hinaus begleitete ich die Pastorin. Ich dankte ihr für die schöne Predigt und fragte, wer sie seien, diese drei, die so schön gesungen hatten.
»Maria, Timoteus und Tulla Thorsen«, lautete die Antwort.
»Sie waren unglaublich überzeugend«, sagte ich und musste mich anstrengen, um nicht ungeduldig zu wirken, denn ich wollte noch einen letzten Blick auf die Geschwister werfen, ehe sie verschwanden.
»Die...
Erscheint lt. Verlag | 13.8.2018 |
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Übersetzer | Gabriele Haefs |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Harpesang |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Best Ager • Buena Vista Social Club • eBooks • Feel-Good-Roman • Gesang • Musik • Norwegen • Roman • Romane • rüstige Senioren |
ISBN-10 | 3-641-17053-2 / 3641170532 |
ISBN-13 | 978-3-641-17053-0 / 9783641170530 |
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