'Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen' (eBook)

Mein Tagebuch - Aleppo 2011-2017
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
176 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-22600-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

'Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen' -  Myriam Rawick
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Myriam ist knapp sieben Jahre, lebt mit ihren Eltern in Aleppo, liebt das Gewimmel auf dem Basar und die Gerüche des Jabel-Saydé-Viertels, wo sie und andere armenische Christen wohnen. Als im September 2011 die Unruhen ausbrechen, rät die Mutter ihr, ein Tagebuch zu führen, um den Schrecken zu bannen. Erschüttert hält Myriam fest, wie ihre Welt in Terror und Angst zusammenbricht, sie von einem Viertel ins nächste ziehen müssen, Cousins sterben oder entführt werden. Nur selten kann sie dem Terror ringsum ein kurzes kindliches Glück abtrotzen. Doch sie und ihre Familie halten unverbrüchlich zusammen und überleben mit Glück und Geschick das unfassbare Leid.

Am 15. Dezember 2016 kam der französische Journalist Philippe Lobjois nach Aleppo, lernte Myriam und ihre Familie kennen und erfuhr von ihrem Tagebuch. Später half er ihr, es aus dem Arabischen ins Französische zu übertragen.

Myriam Rawick wurde 2004 in Aleppo als Tochter armenischer Christen geboren. Im Alter von sieben Jahren begann sie auf Anraten ihrer Mutter ein Tagebuch über die Schrecken des Krieges, den sie ununterbrochen in Aleppo miterlebte. Nachdem sie ihr Tagebuch im Juni 2017 in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt hat, lebt sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester wieder in Aleppo.

Ich muss nur die Augen schließen und mich konzentrieren, dann kehrt alles zurück.

Ich bin drei Jahre alt, ziehe mich im Wohnzimmer am Sofa hoch, um da hinaufzuklettern. Mein Gesicht versinkt in den Polstern mit den roten Stickereien. Hinter mir höre ich Mama lachen.

Ich bin vier Jahre alt und erwarte ungeduldig meinen Geburtstagskuchen. Aus der Küche rieche ich den Honigduft. Papa, Mama, meine Schwester und die Nachbarn sind da, sie lachen und reden durcheinander. Ein sanftes, fröhliches Tohuwabohu.

Mama hat mir mein Lieblingskleid angezogen. Weiß mit kleinen bunten Blumen, die überall aufgenäht sind. Ich fahre mit dem Finger darüber, um bei jeder Blume die Blütenblätter zu zählen.

Papa hat die Wohnzimmerfenster weit geöffnet. Die Bäume schaukeln im Wind, sie reichen fast bis zum Fenster. Ein Windzug dringt herein, erfrischt uns und bläst wie von Zauberhand die Kerzen auf meinem Kuchen aus, bevor ich dazu komme.

Ich bin sechs Jahre alt, und zum ersten Mal nimmt Mama mich mit auf den Suk. Der Taxifahrer lässt uns auf dem großen Parkplatz aussteigen, der donnerstags als Markt dient. Mama hat mich ermahnt: »Lass meine Hand nicht los, es wird voll sein. Bestimmt sind dort mehr Menschen, als du jemals gesehen hast.« Und sie hatte recht.

Ich drücke mich an sie, und wir bahnen uns einen Weg durch die Straßenhändler und Passanten, die kommen und gehen. Eine ockerfarbene Mauer umschließt die Altstadt. Ich erinnere mich an diese riesigen offenen Holztore, die wir passieren.

Die Hitze von draußen weicht sogleich einer steinernen Kühle. Meine Augen brauchen einige Augenblicke, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Der Suk ist ein Labyrinth aus überdachten Gassen. Wo ich auch hinschaue, an Wänden und Decken, sehe ich Ziegelsteine. Den Himmel sieht man nur durch verglaste Oberlichter. Über mir folgt eine Steinkuppel auf die nächste. Ich habe den Eindruck, als würde ich einen magischen, tausendjährigen Tunnel betreten.

Überall sind kleine Verkaufsstände in die Wände geschlagen. Stoffe in allen möglichen Farben, die von den Auslagen herabhängen. Mäntel, Kleider, Stickarbeiten.

Mama zeigt mir verschiedene Stoffrollen: »Fass mal an.« Ich zögere, es gibt rosafarbene, orange, rote. Ich entscheide mich für Grün. Es fühlt sich weich an. »Das ist Seide, mein Schatz«, flüstert Mama.

Wir dringen weiter in dieses märchenhafte Labyrinth vor. Händler ziehen mit Schubkarren an uns vorbei, die mit frischen Mandeln beladen sind.

Mama sagt mir, ich solle die Augen schließen. Ich gehorche, überglücklich, mich auf das Spiel einzulassen. Mamas Hand führt mich. »Jetzt kannst du sie wieder aufmachen.« Als ich die Augen öffne, funkelt und glänzt alles um mich herum. Die Stoffhändler sind Juwelieren gewichen. Kilos, Tonnen Gold, die funkeln. Ketten, Armbänder quellen in goldenen Strömen aus den Auslagen.

Düfte, Lachen, Farben.

So viele Erinnerungen an mein früheres Leben. Erinnerungen wie Fata Morganas. So weit entfernt von meinem heutigen Leben. Von dem, was ich sehe. Von dem, was ich rieche und spüre.

Ich heiße Myriam, ich bin dreizehn Jahre alt. Ich bin in Jabal al-Saydé aufgewachsen, dem Viertel in Aleppo, wo ich geboren wurde. Einem Viertel, das es nicht mehr gibt.

Ich habe Angst, diese Bilder zu vergessen, diese Stadt, die verschwunden ist, diese Welt, die im Chaos versunken ist.

Neulich hat mir Mama gesagt, dass meine Augen nicht die einzigen Hüter meiner Erinnerungen seien. Ich könne mich auch auf meine Finger, meine Ohren und meine Nase verlassen.

Der Heimweg von der Schule riecht nach Ingwertee vom Café Ammouri, der Samstag nach rundem, warmem Brot vom Bäcker an der Straßenecke, der Sonntag riecht nach den Wachskerzen der Saint-Georges-Kirche, nach Spaziergängen im alten Suk, in dem Olivenölseife und Gewürze verkauft werden.

Meine Geburtstage schmecken nach Honig, der Sommer schmeckt nach Datteln, der Frühling nach Aprikosen aus Damaskus, der Winter nach dem Zimttee meiner Großmutter.

Vor den Ereignissen bin ich in diesem Paradies aus Farben, Düften und Aromen aufgewachsen.

Vor den Ereignissen habe ich mich in Aleppos Sonne gebräunt, Aleppos Wasser getrunken und mich mit Alepposeife gewaschen.

Ich habe meine Stadt und mein Viertel geliebt. Ich spürte gern die Wärme der von der Zeit blank geschliffenen Steine, hörte gern den Gesang des Muezzins, stellte mich gern in den Schatten der Kirche.

Ich war glücklich, frei.

Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Leben einmal anders sein könnte.

Damals sind Mama und ich viel umhergelaufen. Von Westen nach Osten, von Norden nach Süden. Von der Zitadelle, die über die Altstadt wacht, bis zur Saint-Élie-Kirche, die wie eine Burg aussieht.

Im Sommer setzten wir uns nach unseren Spaziergängen unter einen Eukalyptusbaum auf den Platz und genossen ein mit Pistazien bestreutes Sahneeis. Wenn ich die Augen schließe, rieche ich noch diesen Duft nach Milch und Orangenblüten.

Manchmal, wenn wir früh am Morgen aufbrachen, machten wir in einem Café in der Altstadt halt. In einem Bistro im Hof einer Karawanserei aßen wir Tomaten, Gurken, Oliven, Käse und Kräuterbrot mit Olivenöl.

Eines Tages, als ich noch sehr klein war, hat Papa gesagt: »Aleppo ist der Stern dieser Erde.« Und damit hatte er Recht.

Aleppo war das Paradies, unser Paradies.

Heute Morgen hat man uns in unser Zuhause zurückkehren lassen. Doch von unserer Wohnung, unserer Straße, unserem Viertel ist nichts mehr übrig geblieben. Betontrümmer, Zementsplitter, scharfer Eisenschrott. Nichts aus meiner so glücklichen Kindheit habe ich wiedererkannt.

In der Morgendämmerung mussten wir von unserer neuen Wohnung aufbrechen. Seit dem Krieg dauert es ewig, ein paar Kilometer zurückzulegen. Als wir unser altes Viertel erreichten, war ich vor Erschütterung wie gelähmt, weil der Anblick so traurig war. Überall Schutt und Metall.

Dort drüben, am Ende der Straße, neben dem ehemaligen Laden, wo Mama unsere Kleidung hat umändern lassen, liegt ein Haufen verbrannter Autos.

Dort, wo früher der Metzger war, der hervorragendes Hammelfleisch für Bratspieße verkaufte, steht heute eine Mauer aus ausgeschlachteten Bussen. Ich habe nach oben geblickt und das große Gebäude vor mir angeschaut, ein altes Haus, in dem eine Schulkameradin von mir gewohnt hat. Ausgeweidet. Die weiße Fassade übersät mit schwarzen Löchern, aus denen kilometerlange Drähte herausragen.

Als ich mich umdrehte, habe ich ein anderes Stück Straße gesehen. Ich habe es nicht gleich erkannt, doch lange hingeschaut, es hat mich auf geheimnisvolle Art angezogen. Nach einer Weile habe ich Mama gefragt: »Ist es hier?« Sie wusste sofort, was ich meine. Sie hat genickt und mir die Hand hingestreckt. Das war unsere Straße.

Wir sind auf einen Steinhaufen geklettert. Zu meiner Rechten glaubte ich, etwas zu erkennen. Nur ein Loch in der Wand, ein großes Loch, als hätte man eine Garage ins Gebäude gebrochen. An der Rückwand hingen allerdings die Reste eines Plakats. Vertraute Farben. Und da erinnerte ich mich plötzlich. Ich habe an Mamas Ärmel gezupft und gefragt: »Ist das der Laden von Abou Yasser?«

»Ja, Myriam.«

Mit einem Schlag war alles wieder da. Das Lächeln des Lebensmittelhändlers, das runde Brot mit Mohn, das wir jeden Abend bei ihm gekauft haben, der hausgemachte Joghurt seiner Frau, den er freitags verkaufte.

Die Düfte, die Aromen, die Freuden, all das lag nun hier unter den Ruinen, unter den eingestürzten Dächern begraben.

Als wir vor unserem Haus standen, habe ich die Gebäude nicht erkannt. Es gab keine Balkons mehr, keine Fenster. Ich konnte es nicht glauben. Die Bäume davor hatten keine Blätter mehr, als wären auch sie während des Krieges gestorben. Das war doch nicht unser Zuhause.

Hand in Hand sind Mama und ich hineingegangen. Niemand war da, alles war still. Nur ein paar Katzen, die sich auf der ersten Stufe die Reste einer Maus teilten.

Kaum waren wir im Treppenhaus, erinnerte ich mich an alles. Spiele mit den Nachbarskindern. Den Kuchenduft, der aus der Straße zu uns aufstieg.

Und dann erinnerte ich mich an die letzten Monate hier. Nächte, in denen wir darauf warteten, dass sich die Bomben schlafen legen. Stunden, in denen wir darauf warteten, dass uns die Schüsse schlafen lassen. Genau dort habe ich meine kleine Schwester getröstet, als die Männer in Schwarz in unser Viertel eingedrungen sind. Meine Angst hat diese Mauern durchtränkt, sie mit Trauer überstrichen.

Die Wohnung hat keine Tür mehr, keine Fenster, keine Möbel.

Im Wohnzimmer liegen bloß noch ein Stück Teppich und ein zerbrochener Stuhl auf dem Boden. Der ganze Rest ist verschwunden. Der Kühlschrank, der Gasherd auch. Die Schränke. Alles.

Ich wollte in mein Zimmer gehen, blieb jedoch mit meiner Sandale hängen. Ich stolperte und fiel hin. Als ich aufstehen wollte, fiel mir auf dem Boden etwas auf. Eine kleine verbeulte rote Dose.

Ich hob sie auf. Ich schaute sie lange an, bevor ich mich getraut habe, sie zu öffnen. Ich musste nur ein wenig ziehen, dann hat sich der Deckel gelöst und – fast gleichzeitig – begannen die Tränen zu fließen.

Und als ich diesen Schatz betrachtete, sind mir Hunderte Bilder durch den Kopf geschossen.

Hier, mit diesem kleinen blauen Auto, habe ich damals, an einem Sonntagmorgen nach der Messe, mit meinen Nachbarn Fouad und Charbel Autorennen gespielt. Und dieser Ball: Meine Freundin Joudi und ich haben ihn an einem Samstagnachmittag auf dem Boden...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2018
Übersetzer Pauline Kurbasik
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Le journal de Myriam
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Aleppo • Armenier • Assad • Biografie • Biographien • Bürgerkrieg • Christen und Muslime • eBooks • Familie • Isis • Kind im Krieg • Syrien • Tagebuch • Terrorismus
ISBN-10 3-641-22600-7 / 3641226007
ISBN-13 978-3-641-22600-8 / 9783641226008
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