Junge Liebe zwischen Trümmern (eBook)

Erzählungen

(Autor)

Peter Walther (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
256 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1493-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Junge Liebe zwischen Trümmern - Hans Fallada
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Hans Falladas unveröffentlichte Geschichten.

Welch ein Fund: Von den Erzählungen, die Hans Fallada im Laufe seines Lebens geschrieben hat, sind über zwanzig bedeutende Texte den Lesern unbekannt, da sie noch nie veröffentlicht wurden oder direkt für eine Zeitschrifte verfasst waren. Sie zeigen den vertrauten Autor in Hochform und lassen uns zugleich neue Seiten an ihm entdecken. Diese Geschichten aus vier Jahrzehnten führen in Falladas Welten - zu gefährlichen Büchern und glücklichen Schreibstunden, zu einer Bestatterin mit ungewöhnlicher Vorliebe, zu einem alten Pott in der U-Bahn, der unerwartet zur Liebeserklärung wird, und zu einer jungen Liebe, die sich zwischen den Trümmern der Nachkriegszeit behaupten muss.

»Fallada hatte die Energie, die Welthaltigkeit, das Gespür für gesellschaftliche Konflikte und das Talent, sie virtuos zu erzählen.« Thomas Hüetlin, DER SPIEGEL.



Rudolf Ditzen alias HANS FALLADA (1893 Greifswald - 1947 Berlin), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit »Der junge Goedeschal«. Der vielfach übersetzte Roman »Kleiner Mann - was nun?« (1932) macht Fallada weltbekannt. Sein letztes Buch, »Jeder stirbt für sich allein« (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).

Pogg, der Feigling


Diese Geschichte muss erzählt werden, indem man sich streng an die Tatsachen hält. Ich habe längst aufgegeben, sie zu verstehen. Ich präsentiere sie dem Leser so, wie ich sie erfuhr, und muss es ihm überlassen, das Beste – oder das Schlechteste – aus ihr zu machen, wie nun eben seine Geschmacksrichtung liegen mag. Dass mein Tatsachenmaterial lückenhaft ist, kann ich nicht bestreiten, es bleibt jeder Phantasie frei, diese Lücken zu ergänzen: Kolportage oder Wirklichkeit, auch hier sind keine Grenzen gezogen.

Jedenfalls war Julius Pogg aus guter Familie. Sein Vater war irgendein hohes Tier in der Verwaltung oder Justiz, das habe ich vergessen. Sicher, dass er viele Orden trug und dass der Verkehr mit seinem einzigen Sohn sich darauf beschränkte, vierteljährlich seine Zeugnisse durchzusehen.

Die waren jämmerlich genug. Pogg Vater blieb es unverständlich, dass sein Sohn solche Noten nach Haus bringen konnte. Da stand dieser Bursche nun, käsig, zum Umpusten, und auf zehn Schritte gegen den Wind roch man ihm Angst an. Pogg Vater wusste nicht was tun, er händigte Julius seiner Mutter aus, die ihn an den Arzt weitergab. Der Arzt verordnete Eisen, Lebertran, kalte Abwaschungen, Sanatogen, Biomalz, Brom, und Julius blieb geduckt und schiech, kroch an den Wänden entlang und tat das Maul nicht auf.

Umso größer war das Entsetzen, als sich herausstellte, Julius könne noch anders als schiech sein: die Gouvernante der Schwestern meldete erregt, dass Julius regelmäßig ihr im Nachttisch aufbewahrtes Portemonnaie bestehle. Es war unglaubhaft, doch stellte man eine Falle, in die Julius mit rührendem Ungeschick ging.

Diesmal nahm der Vater selbst die Kur in die Hand. Er verordnete Pfeifenrohr, mehrere köstliche Weichselrohre mussten daran glauben, und Julius wurde in eine strenge Pension geschickt.

Überraschenderweise lauteten die Berichte von dort nicht ungünstig, die Zeugnisse wurden besser und gut, der Vater musste zu seinem Staunen erleben, dass Julius Zweiter wurde. Er wäre Erster geworden, hätte er nicht einen Tadel wegen Frechheit erhalten – der Schieche wegen Frechheit, Gott bewahre! Er durfte zum ersten Mal wieder in den Ferien heimkommen und zeigte sich als ein sorgfältig gekleideter Jüngling, dessen Sicherheit zu betont war, um nicht Schüchternheit zu verbergen. Die Frivolität, mit der er seinem Vater zur Begrüßung entgegenschrie: »Tag, alter Knabe!«, wobei seine Augen abirrten, war derartig bestürzend, dass der Vater nach einer Weile Atmens nichts entgegnen konnte als: »Du scheinst ja eine nette Pflanze geworden zu sein! Ein sauberes Früchtchen!«

Julius reiste wieder ab, sein Abitur zu bauen, nicht ohne vorher zweimal um vier Uhr früh betrunken nach Haus gekommen zu sein. Die Eltern mussten dies übersehen, obwohl der Sohn – zum Entzücken der Dienerschaft – vornehmlich auf Treppe und Vorplatz seinen ledernen Herrn Papa angesungen hatte –, mussten es übersehen, weil sie einfach nicht wussten, wie Julius eine Reprimande aufnehmen würde.

Aus dem Abitur wurde nichts. Vier Wochen vorher schlug der Blitz ein: Der Sohn hatte seinen Freund erschossen. »Einfach so«, erklärte er ruhig bei der Vernehmung. »Er wollte es gerne. Er dachte, er hätte einen Hundewurm im Hirn. Der Blödsinn war ihm ja nicht auszureden.« Übrigens hatte sich Julius auch mit seinem eigenen Körper an der Sache beteiligt, nur war seine Hand in persönlicher Angelegenheit nicht so sicher gewesen wie in fremder. Er lag acht Wochen krank und siedelte dann in eine Heil- und Pflegeanstalt über. Nach drei Jahren war er gesund und ging ins Bankfach, nun zwanzig Jahre alt.

In den nächsten fünfzehn Jahren entwickelte sich Julius im Allgemeinen gedeihlich. Die Nachrichten aus diesem Zeitabschnitt sind rar. Immerhin weiß man, dass er eine außergewöhnliche Begabung in vielen Materien zeigte, er wurde nicht nur ein tüchtiger Bankfachmann, er handelte auch mit Autos, fuhr in Rennen mit, schrieb ein nicht erfolgloses Libretto, kam wegen zweifelhafter Geschäfte in Untersuchungshaft und wieder frei, kaufte eine blühende Zeitschrift und arbeitete sie in sechs Wochen in den Grund – kurz, war ein normales Mitglied der besseren Menschheit im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts.

Man weiß auch, dass er sich zu Anfang dieser Laufbahn mit einem ganz unmöglichen Mädchen verlobte und sogar vom Papa, der mittlerweile Exzellenz geworden war, auf nicht feststellbare Weise die Anerkennung dieser Verlobung erzwang. Vierzehn Tage nach der offiziellen Veröffentlichung löste er dieses zarte Band wieder, da er seine Braut, wie er ernst mitzuteilen pflegte, nicht ihrem eigentlichen Beruf als Jüngerin der Venus vulgivaga abtrünnig machen wollte. Von diesem Zeitpunkte ab darf man seine Beziehungen zum Elternhaus als erkaltet oder doch lau ansehen.

Man erzählt ferner noch aus dieser Zeit von seinem Verhältnis mit einer berühmten Schauspielerin, die, in keiner Weise kleinlich, es später nie über sich gebracht haben soll, ihn wiederzusehen. Schon bei der Nennung seines Namens soll sie ein Schauder, eine Art physischen Grauens gefasst haben. Doch mag das Geschwätz sein.

Der Schwanz, den dieser Stern nach sich zog, erlischt, wir verlieren ihn völlig aus dem Auge, für Jahre wissen wir nichts von ihm zu berichten. Als er wieder auftaucht, heißt er schlicht Julius Pogg – ohne Titel –, er ist fünfunddreißig Jahre alt und erster Buchhalter einer kleinen Bank. Ein Bild von ihm aus dieser Zeit liegt vor mir: das bartlose Gesicht ist eckig, flächig und fahl, die Lippen sehr stark und rot, die Stirn niedrig. Man würde ihn auf Mitte der Zwanziger taxieren, wenn die Augen nicht wären, die glanzlos und vollkommen kalt sind. Er ist sehr sicher, geschäftlich die Zuverlässigkeit selbst, von außerordentlichem Fleiß, das Entzücken seines Chefs und – in Männergesellschaft – ein fabelhafter Erzähler.

Und erst jetzt teile ich dem Leser mit, den ich erbarmungslos bis hierher geschleppt, wo er schlechterdings bis zu Ende wird lesen müssen, wenn er erfahren will, warum Pogg außergewöhnlich sein soll – erst jetzt teile ich ihm mit, dass nun meine eigentliche Erzählung beginnt. Alles bisher Berichtete bietet ja schließlich nichts Besonderes, nun aber fange ich an:

Bradley, Inhaber von Bradley & Fischer, Bankgeschäft, Königstraße, lädt seinen Buchhalter Julius Pogg zum Wochenende nach Wildhof ein. Pogg kommt und findet, dass Wildhof ein wundervolles Barockschlösschen in einem riesigen Park ist. Das Schlösschen hallt von Leben: Bradley hat eine Tochter, diese Tochter hat eine Unzahl Freundinnen, und ein halbes Dutzend dieser Freundinnen ist immer zu Besuch auf Wildhof.

Pogg meint, er träumt. Er, der Fünfunddreißigjährige, der alte Gauner, der sich nach Ruhe und einem gleichförmigen Leben sehnt, trifft zum ersten Mal die Tochter aus gutem Haus. Er trifft sie nicht einmal, er trifft sie gleich siebenmal. Alice, Lotte, Irmgard, Irene, Luise, Hertha und Bertha – wo noch hätte er je so viel Jugend gefunden? Gesund, gepflegt, körperlich und geistig gut genährt, siebzehn-, achtzehn-, zwanzigjährig, alles in der Theorie wissend und nichts in der Praxis, schlagfertig, tollkühn, keusch – Julius Pogg kann abends nicht einschlafen.

Es zeigt sich, dass er vielleicht wirklich erst Mitte der Zwanziger ist. Und kaum das. In den dämmernden Park huschen zwei oder drei, in Laken gehüllt, und fahle Gespenster erschrecken die Liebenden unter der Dienerschaft. Bradley, der nach dem Abendessen einschlummerte, erwacht jäh von dem Rascheln eines Igels, fängt ihn ungeschickt in einem Perserteppich, setzt ihn in den Garten und findet, zurückgekehrt, sein Zimmer mit zehn, zwölf, zwanzig Igeln bevölkert. Sie kriechen unter Sofa und Schreibtisch hervor, im Papierkorb raschelt’s, im Uhrgehäuse fiepen sie. Aus den Fenstern steigen nächtens Verschwörer, kapern Boote und liefern Seegefechte, bei denen alle ins Wasser stürzen. Am Tage gibt es Wettschwimmen, Springkonkurrenzen, die staunende Dorfschaft erlebt, dass ein dutzend Männlein und Weiblein schweigend, ernst und auf den Zehenspitzen stundenlang im Regen die Straße auf und ab wandeln: eine Wette!

Je öfter Pogg zum Wochenende hinauskommt, umso belebter werden seine Augen. Schon ist er anerkannter Führer. Manchmal abends überlegt er: »Merken sie nicht, wie viel älter ich bin? Was alles schon durch mich hindurchging?« Und ist der Erste morgens, an Türen zu schlagen, Wasser durch Schlüssellöcher zu pusten, Programme zu entwerfen. Singt er nicht sogar Volkslieder abends im Boot? Er hat sie nie richtig gekonnt, nun lernt er sie. Bei einem singt er nicht mit: Irmgard sitzt am Klavier, die kurzen schwarzen Haare fallen nach vorn, sie singt allein:

Es ist nicht alle Tage Sonntag,

Es gibt nicht alle Tage Wein,

Doch du sollst immer lieb zu mir sein.

Pause. Gefasst, ein Versprechen:

Und bin ich einmal in der Ferne,

So sollst du immer an mich denken,

Aber weinen sollst du nicht.

Hat sie ihn angesehen? Sie hat ihn angesehen. Wundervoll! Eigentlich ein Nichts, nicht einmal Verse, es muss die Melodie sein. Nein, es muss die Stimme machen, dieser Alt: »Doch du sollst immer lieb zu mir sein.«

Weiter geschieht nichts. Scheue Blicke vielleicht, der Händedruck ein wenig fester als bei den andern, sie ist so gesund, nichts Schwüles, sie weiß nichts von dem schließlichen Ende, an das er immer denken muss. Sie gehen vielleicht langsamer durch den dunkelnden Park, aber die andern sind immer dabei. Einmal geraten sie in...

Erscheint lt. Verlag 2.1.2018
Nachwort Peter Walther
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Drogen • Erster Weltkrieg • Erstveröffentlichung • Fallada • Gefängnis • Hans Fallada • Jeder stirbt für sich allein • kleiner Mann • Kleiner Mann – was nun? • Nachkriegsdeutschland • Peter Walther • Stunde Null • Weimarer Republik • Wiederentdeckung • Wolf unter Wölfen • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8412-1493-2 / 3841214932
ISBN-13 978-3-8412-1493-5 / 9783841214935
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