Die Fahrten Binjamins des Dritten (eBook)
107 Seiten
Null Papier Verlag
978-3-96281-050-4 (ISBN)
Mendele Moicher Sforim (1835-1917) war ein vor allem jiddischer, aber auch hebräischer Schriftsteller. Er gilt als 'Großvater' der neujiddischen Literatur und hat ihr mit seinen Texten Geltung verschafft. Nach dem Tod seines Vaters verließ der 13-jährige Mendele sein Geburtshaus und studierte an verschiedenen Talmud-Universitäten in Litauen. Auf seinen Reisen durch die Ukraine nahm er zahlreiche Eindrücke aus dem jüdischen Leben auf, die sich später in seinen Werken widerspiegeln.
Mendele Moicher Sforim (1835–1917) war ein vor allem jiddischer, aber auch hebräischer Schriftsteller. Er gilt als "Großvater" der neujiddischen Literatur und hat ihr mit seinen Texten Geltung verschafft. Nach dem Tod seines Vaters verließ der 13-jährige Mendele sein Geburtshaus und studierte an verschiedenen Talmud-Universitäten in Litauen. Auf seinen Reisen durch die Ukraine nahm er zahlreiche Eindrücke aus dem jüdischen Leben auf, die sich später in seinen Werken widerspiegeln.
Wer Binjamin ist, woher er stammt und wie ihn die Reiselust überkommen hat
Wie Binjamin ein »Opfer« und Selde eine »ewig Verlassene« wird
Binjamin tut sich mit Senderl, genannt das »Weib«, zusammen
Binjamin und Senderl verlassen Tunejadowka
Was unseren Helden bei ihrem ersten Schritt in die Welt widerfährt
Unsere Helden geraten nach Teterewka, wo Binjamin eine Ohrfeige einsteckt
Binjamin bewirkt eine Umwälzung in der Politik
Das Verdienst der Väter erweist sich an unseren Helden
Hurra, Rote Juden!
Wunder über Wunder auf der Pjatignilowka
Unsere Wanderer werden ins Bad geleitet
Ende gut, alles gut
Wer Binjamin ist, woher er stammt und wie ihn die Reiselust überkommen hat
Alle meine Tage – so erzählt uns Binjamin der Dritte selber –, nämlich bis zu meiner großen Reise, habe ich in Tunejadowka verbracht. Dort bin ich geboren, dort bin ich erzogen worden und dort habe ich mein frommes Weib, die Frau Selde, sie soll leben, geheiratet. Das Städtchen Tunejadowka ist ein verlorenes Nest, abseits von der Poststraße und von der Welt dermaßen abgeschnitten, dass, wenn es sich einmal ereignet und einer kommt dorthin angereist, sich Türen und Fenster öffnen, um den Ankömmling zu bestaunen. Die Nachbarn befragen einander dann, zum Fenster hinausgebeugt: Ha, wer mag das wohl sein? Woher ist der so plötzlich aus heiler Haut hier aufgetaucht? Was mag so einer hier suchen? Steckt nicht irgendeine Absicht dahinter? Es kann doch nicht sein, dass man einfach sich aufmacht und hierher reist! Sicherlich ist etwas dabei, das ergründet werden muss. Jeder will dabei seine Weisheit, seine Weltläufigkeit erweisen, unzählige aus der Tiefe des Gemüts geschöpfte Vermutungen lassen sich vernehmen; alte Leute erzählen Geschichten und Fabeln von Reisenden, die in dem und dem Jahr angekommen waren, Witzbolde machen darüber nicht eben anständige Späße, die Männer streicheln ihre Bärte und lächeln dazu, die alten Weiber weisen sie scheinbar zurecht, indem sie sie anschreien und zugleich lachen, junge Frauen entsenden einen schalkhaften Blick aus gesenkten Augen, halten die Hand vor den Mund und ersticken fast vor verstohlenem Lachen. Das Gespräch über diese Angelegenheit rollt von Haus zu Haus, wie ein Schneeball, der im Wälzen immer größer und größer wird, bis er ins Bethaus beim Ofen anlangt, an den Ort, wo alle Unterhaltungen über alle Dinge schließlich landen, sowohl über Familiengeheimnisse als auch über Politik, Stambul betreffend, den Türken und den Österreicher; sowohl über Geldgeschäfte, zum Beispiel über Rothschilds Vermögen im Vergleich mit dem der großen Gutsbesitzer und anderer Magnaten, als auch Gerüchte über Verfolgungen, etwa über die sagenhaften »Roten Juden« und dergleichen. Das alles wird der Reihe nach von einem besondern Komitee ehrwürdiger, ernsthafter Männer durchgenommen, die den ganzen Tag bis spät in die Nacht sich dort aufhalten, die Weib und Kinder darüber preisgeben und mit allen diesen Geschäften sich treulich befassen, der Sache ganz um ihrer selbst willen hingegeben, ohne für ihre Mühe und Plage auch nur einen zerbrochenen Heller zu empfangen. Von diesem Komitee gelangen die Angelegenheiten oft ins Dampfbad und auf die oberste Bank und werden dort in einem Plenum städtischer Hausväter endgültig entschieden; damit ist alles festgelegt und besiegelt, so dass hinterher alle Könige des Morgen- und des Abendlandes sich auf den Kopf stellen könnten, sie würden nichts mehr dagegen ausrichten. Der Türke ist mehr als einmal schon in einem solchen Plenum auf der obersten Bank fast ins Unglück gestürzt worden, und wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn nicht einige aufrechte Hausväter ihm zu Hilfe geeilt wären. Auch Rothschild, der Ärmste, hat dort einmal fast zehn bis fünfzehn Millionen verloren, dafür hat ihm einige Wochen darauf Gott geholfen: man war da oben in bester Stimmung, die Birkenbesen wurden geschwungen und unter ihrem wohltätigen Einfluss gewährte man Rothschild einen Profit von ungefähr hundertfünfzig Millionen Rubel.
Die Bewohner von Tunejadowka sind zwar fast alle, nicht euch gesagt, große Habenichtse und arme Schlucker, aber man muss gestehen, dass sie lustige Habenichtse, fröhliche Bettler sind, von begeistertem Gottvertrauen erfüllt. Fragte man einen Bewohner von Tunejadowka etwa, von welchem Einkommen und wie er sich ernährt, so würde er zuerst verwirrt dastehen und keine Antwort darauf wissen. Bald aber wird er zu sich kommen und in aller Unschuld erwidern: »Ich, so arm ich auch lebe, ich, ach es gibt einen Gott, sag ich Euch, der seine Geschöpfe nicht verlässt, er schickt einem zu und wird gewiss auch weiter zuschicken, sag ich Euch!« – »Dennoch, was treibt Ihr? Habt Ihr ein Handwerk oder sonst einen Beruf?« – »Gelobt sei Gott, ich hab, Er sei gepriesen, so wie Ihr mich da seht, eine Gabe von Seinem lieben Namen, ein köstliches Instrument, eine Singstimme und bete an den hohen Feiertagen ›Mussaf‹ in der Umgebung. Ich bin auch ein Beschneider und ein Mazzot-Rädler, wie es kaum noch einen gibt. Manchmal bringe ich auch eine Heiratspartie zustande. So wie Ihr mich da seht, habe ich einen angestammten Sitz in der Schul, außerdem unterhalte ich, unter uns, einen kleinen Ausschank, der etwas abwirft. Ich besitze eine Ziege – möge sie der böse Blick verschonen –, die reichlich Milch gibt, und nicht weit von hier wohnt mir ein reicher Verwandter, der in schlimmen Zeiten sich auch etwas melken lässt. Jetzt, abgesehen von alledem, sage ich Euch, ist ja Gott ein Vater und seine Kinder Israel sind barmherzige Kinder von Barmherzigen. Ihr seht ja – man darf sich nicht versündigen.«
Man muss den Bewohnern von Tunejadowka auch das Lob zubilligen, dass sie mit dem, was Gott gibt, zufrieden sind und, was Kleidung und Nahrung anlangt, nicht sehr anspruchsvoll sind. Ist die Sabbat-Kapote zerschlitzt, zerrissen, am Rand mit Kot bespritzt und auch sonst nicht sehr sauber, so hat das nichts auf sich; ist sie ja doch aus Atlas und glänzt. Sieht stellenweise, wie durch ein Sieb, die nackte Haut hindurch – wer regt sich darüber auf, wer sieht hin? Wie ist es denn zum Beispiel mit der Ferse? Ist das schlimmer als eine nackte Ferse, ist die Ferse nicht Leib? Ein Stück Brot mit Kartoffelsuppe, wenn es das nur gibt, ist ein sehr gutes Mittagessen, und wie erst eine Semmel und ein Stück Suppenfleisch! Am Freitag, wer es nur hat, ist das ja geradezu ein königliches Essen, etwas Besseres gibt es überhaupt nicht auf der Welt, sollte man meinen. Erzählte man ihnen von anderen Gerichten als Fischsuppe, Gebratenem und Zugemüse aus gelben Rüben oder Pastinake, würde es ihnen so seltsam und merkwürdig vorkommen, dass sie sich darüber lustig machten und in lautes Lachen ausbrächen, wie über etwas Verrücktes, Sinnloses, das man ihnen da aufbinden wolle, genau so als wollte man einem weismachen, er sei schwanger oder eine Kuh sei übers Dach geflogen und hätte ein Ei gelegt. Ein Stück Johannisbrot am fünfzehnten Sch’wat ist eine herzerquickende Frucht, blickt man darauf, so erinnert man sich an das Heilige Land, man starrt darauf, und der Brust entringt sich ein Seufzer: »Ach liebherziger Vater, führ uns aufrecht, ja, wahrhaft siegreich in unser Land, wo die...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2024 |
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Reihe/Serie | Klassiker bei Null Papier | Klassiker bei Null Papier |
Übersetzer | Efraim Frisch |
Verlagsort | Neuss |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Don Quijote • Hebräisch • Jude • Judentum • Jüdisch • Schelmenroman |
ISBN-10 | 3-96281-050-1 / 3962810501 |
ISBN-13 | 978-3-96281-050-4 / 9783962810504 |
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Größe: 1,8 MB
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