Am liebsten würde ich auf der Waage eine Null stehen haben - Mein Leben mit der Magersucht - Autobiografie -  Brigitte Strehl

Am liebsten würde ich auf der Waage eine Null stehen haben - Mein Leben mit der Magersucht - Autobiografie (eBook)

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2017 | 1. Auflage
260 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-458-3 (ISBN)
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Am liebsten würde ich auf der Waage eine 0 stehen haben. Weißt du, wie schwer das ist, wenn du dich nur noch durch jeden einzelnen Tag schleppst und hoffst, dass er nur ganz schnell vorbeigeht? Wenn man noch relativ jung ist, lässt man sich so leicht beeinflussen. Ist es nicht traurig, dass ich mich bereits mit ungefähr neun Jahren schon zu dick fand und davon träumte, abzunehmen und endlich dünn zu sein? In diesem Alter sollte man meiner Meinung nach noch keine Gedanken an solche Themen verschwenden! Ich fühlte mich hässlich, fett ... und geriet immer tiefer in einen Strudel, der mich fast verschlingen sollte. Ich war erfindungsreich dabei, mich selbst verschwinden zu lassen. Brigitte findet sich schon zu dick, als sie gerade neun Jahre jung ist. Mit 13 beginnt sie Diäten, mit 18 stirbt sie fast an ihrer Magersucht. Ein Buch über den Weg in die Anorexie und die schwere Rückkehr in ein normales Leben.

 

Wochen werden zu Monaten

 

Ich quäle mich nun schon fast vier Jahre durch dieses schwere Leben mit der Depression.

Doch für mich vergeht die Zeit noch viel langsamer als für andere Menschen, ein Tag kommt mir fast wie eine Woche vor, jeder einzelne Tag ist so unglaublich qualvoll für mich. Ich schleppe mich nur noch von Tag zu Tag, früher hoffte ich, dass alles besser werden würde, doch auch diese letzte Hoffnung gab ich auch. Es gibt Leute, die schleppen sich von Wochenende zu Wochenende, aber mir bedeutet nicht mal das Wochenende mehr etwas, denn ich habe fast keines mehr. Seit Januar dieses Jahres mache ich an der Fachoberschule einen Vorkurs, der uns auf die 11. Klasse dort vorbereiten soll. Warum habe ich mir das zusätzlich angetan? – Weil ich Angst hatte, ich würde versagen, ich würde es sonst nicht schaffen. Erst vor Kurzem hatte ich erfahren, dass dieser Vorkurs überhaupt nicht so wichtig gewesen wäre, überhaupt bei meinen Noten, aber jetzt ist es zu spät. Nun quäle ich mich auch noch am Samstag zur Schule, hab fast keine Freizeit mehr.

Die Schule kostet mich so viel Kraft, zurzeit lerne ich fast nur noch den ganzen Nachmittag. Meine Angst zu versagen ist zu groß. Aber dabei mache ich mich mit diesem ganzen Lernen doch nur noch mehr fertig, aber ich kann nicht anders, denn ich bin ein Versager.

Ich habe die Kontrolle über mein eigenes Leben verloren, deswegen versuche ich, mit dem vielen Lernen wenigstens meine Noten ein Stück weit kontrollieren zu können. Aber ich bin niemals gut genug für mich selbst, immer rede ich mir ein, ich hätte besser sein können … Ich habe fast endgültig die Kontrolle über mich verloren, das ist wahr.

 

 

Und ich konnte nichts dagegen tun, denn die Depression hat mich fest im Griff, lässt mich nicht los. Sie ist wie ein Partner, ich führe eine Beziehung mit ihr, die ich beenden möchte, doch es geht nicht so einfach. Ich möchte Schluss machen mit der Depression, aber sie möchte mich nicht verlassen. Sie würde es mir heimzahlen, ich müsste dafür büßen. Ach, wenn man diese Krankheit doch nur so einfach loswerden würde …

Jeden Tag stehe ich morgens automatisch auf, wie eine Maschine, mache mich für die Schule fertig, setzte meine Maske auf. Aber diese Maske rutscht mir immer weiter herunter, bis sie zu Boden fällt und sich alle Menschen wundern, welcher Mensch sich doch eigentlich dahinter verbirgt, denn fast niemand kennt mein wahres Ich, das kranke Ich.

Ich gehe zur Haustür hinaus, versuche wieder, diesen falschen Menschen zu spielen, doch ein paar Minuten habe ich ja noch Zeit, bis ich meinen Mitschülern wieder begegne. Auf dem Weg zur Bushaltestelle, die nicht weit von meinem Zuhause entfernt ist, richte ich noch einmal meine Maske, denn niemand darf mein wahres Gesicht sehen. Mit dem Blick auf den Boden gerichtet gehe ich ganz langsam weiter, ich ziehe in meinen alltäglichen Kampf, den Kampf mit der Realität, denn ich lebe in meiner eigenen kleinen, dunklen Welt, die Welt, in der die Depression das Sagen hat, doch für die Zeit in der Schule muss ich die Krankheit ausblenden, was nicht so einfach ist.

An der Bushaltestelle angekommen, laufe ich an den anderen Leuten vorbei, meist sind dann so viele Blicke auf mich gerichtet, ich denke, jeder würde mich anstarren und mich verurteilen. Dort warte ich meistens noch ein paar Minuten auf die anderen. Lea und Sara kommen dann auch gleich. Jedes Mal wenn ich die beiden zu mir gehen sehe, habe ich das Gefühl, sie würden über mich lästern, ich fühle mich so hilflos, würde am liebsten weglaufen oder unsichtbar werden. Wahrscheinlich mögen wir uns alle drei nicht so richtig, aber niemand zeigt es so direkt, es lacht lieber der eine dem anderen schön ins Gesicht und tut so, als wäre alles in bester Ordnung. Obwohl jeder von uns weiß, dass es das nicht ist.

Ich habe keine Lust mit irgendjemandem zu reden, möchte wieder nach Hause und mit diesen Gedanken steige ich in den Bus ein, der mich zur tollen Schule bringt. In die Schule gehe ich mit solch einer Leere, ich fühle mich unsichtbar, als würde mich niemand sehen, denn meist werde ich nicht viel beachtet. Das ist mir aber auch ganz recht so, denn zu viel Aufmerksamkeit mag ich auch wieder nicht, aber trotzdem möchte ich nicht ignoriert werden, dieses Ignoriertwerden tut so unglaublich weh. Ich musste dies schon so oft in der vergangenen Zeit spüren.

Auch ich sehe aber niemanden, besser gesagt ich sehe zwar die Menschen um mich herum, aber schaue sozusagen durch sie durch, diese Leere durchblickt alles und jeden. Ich habe kein festes Bild mehr vor Augen, manchmal scheint mir mein komplettes Leben so verschwommen zu sein, als könnte ich nichts mehr wahrnehmen.

Wenig später sitze ich dann im Unterricht, nichts ist besser, die Leere aus meinen Augen ist natürlich nicht verschwunden. Ich sitze also auf meinem Platz, wünsche mir, dass die Schule schon wieder aus wäre, am liebsten wäre ich tot. Ich denke über alles Mögliche nach, nur meistens nicht über das, was ich eigentlich sollte.

Natürlich schaffe ich es manchmal, mich zusammenzureißen, aber das kostet mich viel Kraft, Kraft die ich aber meist nicht übrighabe. Ich brauche mein minimales bisschen Kraft, um überhaupt noch zu überleben, denn selbst das schaffe ich bald nicht mehr.

Niemand weiß, wie sich diese unglaubliche Leere in einem anfühlt, jedenfalls kein gesunder Mensch. Ich kann es auch nicht beschreiben, denn du musst es selbst erlebt haben, keine Worte können beschreiben wie es ist, täglich den Kampf mit dir selbst zu führen, wenn du dein eigener Gegner bist, hast du sowieso verloren. Du solltest für dich kämpfen und nicht gegen dich. Doch ich kann das nicht, ich hasse mich.

Ich bin müde vom Kämpfen, habe lange und oft genug versucht, mein wahres Ich wieder zu finden, welche schon so lange verloren gegangen ist. Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin oder besser gesagt, war.

Wenn die Schule dann endlich vorbei ist, kann ich es kaum erwarten endlich nach Hause zu kommen, obwohl ich mich auch dort nicht wirklich daheim fühle, aber immerhin um einiges besser als in der Schule! Mit dem Bus endlich wieder an der Haltestelle angekommen, an der ich morgens auch eingestiegen bin, gehe ich mit dem Blick nach unten nach Hause. Ich schaue immer nach unten, denn meine Augen sind auch da, wo ich bin – am Boden. Ich bin am Boden, meine Seele zerbrochen, ich bin kalt.

Wenn ich am Nachmittag meine Hausaufgabe mache und lerne, fühle ich mich so alleine – doch ich bin ja nicht alleine, ich habe Hefte und Bücher vor mir liegen. Wie könnte ich damit jemals allein sein? Die Leute aus meiner Schule schreiben mir auch nur, wenn sie mal wieder etwas von mir brauchen, wegen Proben oder der Schule etwas wissen wollen. Niemand braucht mich als Mensch, alle versuchen nur, mit mir Vorteile zu haben, niemanden interessiert es, wie es mir eigentlich geht. Niemand sieht, wie kaputt und zerbrochen ich doch eigentlich bin, ich muss immer nur funktionieren, 24/7 rund um die Uhr. Mir darf es schließlich nicht schlecht gehen, muss immer so tun, als würde es mir gut gehen, obwohl ich mich in diesen Momenten am liebsten weinend auf den Boden werfen würde, mein Leben für immer beenden …

Denn ich habe einfach keine Kraft mehr und manchmal habe ich das Gefühle, niemand würde mich ernst nehmen, ich könne ja jeden Tag weiterkämpfen. Doch ein Mensch kann nur eine bestimmte Zeit lange alles geben und kämpfen. Diese Zeit ist für mich abgelaufen, ich sehe schon so lange keinen Grund mehr zu leben. Kein einziger Grund, um zu bleiben und doch so viele, um zu gehen. So mache ich jeden Tag weiter, ohne dass sich etwas ändert, wenn nicht bald eine Erlösung für mich kommt, kann selbst ich für nichts mehr garantieren, denn ich habe lange genug gelitten. Ich kann nicht mehr.

Ungefähr so verbringe ich dann fast jeden Schultag, ich bin jedes Mal froh darüber, wenn der Tag vorbei ist, denn für mich vergeht sowieso die Zeit so unglaublich langsam und qualvoll. Ich gehe deswegen zurzeit auch schon so früh schlafen, wenn man das überhaupt so nennen kann. Manchmal liege ich über eine Stunde lang wach in meinem Bett, weil ich einfach nicht schlafen kann, meine Gedanken quälen mich, sie hören nicht auf. Immer und immer wieder redet die Depression auf mich ein, verunsichert mich, sagt mir jedes Mal aufs Neue wie schlecht ich doch bin, ein totaler Versager eben. Alle meine Probleme kommen mir in den Kopf, mir wird alles zu viel. In diesen Situationen würde ich am liebsten alles beenden, da ich keinen Ausweg mehr sehe, am liebsten würde ich die ganze Nacht durchweinen, bis ich keine Tränen mehr übrig hätte, bis ich meine Augen fast nicht mehr öffnen könnte, weil sie rot und angeschwollen sind. Ich würde dann so gerne aufgeben, doch das darf ich nicht, denn am nächsten Morgen muss ich wieder meine Maske aufsetzen und allen vormachen, wie gut es mir geht, dass alles super ist in meinem Leben, na klar! Ich habe langsam keine Lust mehr auf dieses Spiel, welches mich immer mehr und tiefer in den Abgrund treibt. Ich habe auch keine Zeit, mir eine Pause oder Auszeit von diesem grauen, schlimmen Alltag zu nehmen, denn ich muss jeden Tag funktionieren. Aber wieso merkt niemand, wie kaputt ich doch eigentlich bin? Vielleicht will es einfach niemand merken? Die...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95753-458-5 / 3957534585
ISBN-13 978-3-95753-458-3 / 9783957534583
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