Die doppelten Jahre -  Micheline Bood

Die doppelten Jahre (eBook)

Tagebuch einer Schülerin Paris 1940 - 1944
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
400 Seiten
Weissbooks Verlagsgesellschaft
978-3-86337-139-5 (ISBN)
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Am 1. April 1940 beginnt die 14-jährige Micheline ein Tagebuch und notiert, was sie in den Jahren der deutschen Besatzung von Paris erlebt. Sie ist jung und neugierig, erzählt vom Alltag in der Familie, der Schule und von ihren Freundinnen. Über allem schwebt die große Politik und lauern Gefahren, doch Micheline leistet Widerstand - mit Mut und jugendlicher Unbekümmertheit, die sie sogar in die Arme eines deutschen Besatzers treibt. Als sie ihr Tagebuch am 21. Oktober 1944 beendet, ist ihr klar: 'Nie mehr werde ich die Person sein, die ich vor dem Krieg war.'

Micheline Bood, geboren 1926 in Paris, war Juristin und Journalistin, 'gelegentlich Malerin und Gärtnerin', sowie Autorin eines Buches über Louise Colet, der 'Muse' von Flaubert, mit der sie verwandt war. Micheline Bood starb 1980, sechs Jahre nach Erscheinen ihrer Tagebücher.

Vorwort


Bei dem Tagebuch der Micheline Bood haben wir es mit einem ganz besonderen Zeugnis zu tun, das mich, da ich es jetzt zum ersten Mal gelesen habe, überrascht und berührt hat.

Zunächst aber dies: Micheline Bood beginnt ihr Tagebuch im April 1940 – kurz vor ihrem 14. Geburtstag und kurz vor der Invasion der deutschen Wehrmacht in Frankreich am 10. Mai 1940. Sie führt dieses Tagebuch über die gesamte Dauer der deutschen Besatzung in Frankreich, besonders ausführlich in den Juli- und Augusttagen 1944, in denen der Kampf um die Befreiung von Paris das Leben der Pariser Bevölkerung bestimmt. Der letzte Eintrag stammt vom 21. Oktober 1944. Die Deutschen sind vertrieben.

1974, genau 30 Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzung, erscheint Micheline Boods Tagebuch unter dem Titel Les années doubles. Journal d’une lycéenne sous l’Occupation bei Robert Laffont, Paris.

Die Veröffentlichung fällt in die Zeit, in der die historische Aufarbeitung der Kriegsjahre, der deutschen Besatzung und der Résistance in Frankreich in eine neue Phase tritt:

Schon 1969 rührt Marcel Ophüls in seinem Dokumentarfilm Le chagrin et la pitié (deutsch: Das Haus nebenan − Chronik einer französischen Stadt im Kriege) schmerzhaft an Tabus, legt die Finger in die Wunden von Mitschuld und Kollaboration der Vichy-Regierung unter Pétain. Sein Film zeigt, wie sich Teile der Bevölkerung schnell mit den deutschen Besatzern arrangiert hatten. Er rührt an bestehende Mythen im französischen Bewusstsein über die Résistance, relativiert das Bild, dass die überwiegende Mehrheit der französischen Bevölkerung der Résistance angehört oder die Résistance unterstützt hätte. Dieser Film und die damit einhergehenden Debatten sind der Anlass dafür, dass Micheline Bood einer Veröffentlichung ihres Tagebuchs zustimmt. In dem Jahr seiner Veröffentlichung kommt ebenfalls Louis Malles Spielfilm Lacombe Lucien in die Kinos. Auch er beschäftigt sich mit dem Thema Kollaboration. Die Diskussion ist heftig; wie heftig, zeigt sich darin, dass noch 1992 der damalige Staatspräsident Mitterand in seiner Rede zum 50. Jahrestag der rafle du Vel d’Hiv eine Verantwortung der französischen Republik für die Verfolgung und Deportation der in Frankreich lebenden Juden ablehnt. Längst ist jedoch erwiesen, dass die Massenverhaftungen von fast 13 000 Juden in Paris am 16. und 17. Juli 1942 und die anschließenden Deportationen von der französischen Polizei und Miliz durchgeführt worden waren. Erst 1995 erfolgt ein offizielles Eingeständnis, als Staatspräsident Jacques Chirac in einer Rede die Verantwortung des französischen Staates für die Kollaboration der Vichy-Regierung mit den deutschen Besatzern übernimmt und die Mitschuld der französischen Polizei und Miliz anerkennt.

Dieses Tagebuch ist ein besonderes und außergewöhnlich facettenreiches zeitgenössisches Dokument der Zeit der deutschen Besatzung in Paris. Micheline Bood informiert sich akribisch über den Kriegsverlauf und schildert bis ins Detail die Auswirkungen der deutschen Besatzungspolitik auf das Leben in Paris. Ihre Haltung gegenüber Krieg und Besatzung ist eindeutig: Sie steht auf der Seite derer, die gegen die deutschen Besatzer kämpfen, verehrt die Engländer und de Gaulle, formuliert ihre Verachtung für die Franzosen, die den Kampf zu früh aufgegeben und die militärische Niederlage nicht verhindert hätten, sie wettert gegen Pétain, den »Alten«, die Kollaborateure und die französische Miliz: »ein Haufen kleiner Gauner, Diebe oder Vorbestrafte … die Diener der neuen Ordnung.«

Micheline Bood ist selbstbewusst, sie lässt keine Gelegenheit aus, auch in der Öffentlichkeit ihre Haltung zu zeigen: Es sind dies kleine Aktionen, aber was sie tut, erfordert Mut – und manchmal eine Portion adoleszenter Unbekümmertheit angesichts der Gefährlichkeit ihrer Aktionen. Als Vierzehnjährige nimmt sie ohne eine Spur von Angst an der verbotenen Demonstration von Schülern und Studenten am 11. November 1940 am Arc de Triomphe teil, sie zeichnet und klebt antideutsche und englandfreundliche Plakate, schreibt Vive de Gaulle an Wände und in den frisch gefallenen Schnee, besorgt ohne viel Aufhebens falsche Papiere für den jüdischen Bekannten einer Freundin, informiert die Familien, die 14 Monate lang ohne Nachricht waren, über das Schicksal von zwei politischen Gefangenen, mit denen sie im Zug trotz des Verbots der deutschen Wachen spricht, wirft kurzerhand einen ss-Mann hinaus, der gerade das Haus einer alten Frau anstecken will. Sie ist klug, frech und widerspenstig, ein unabhängiger Geist, der sich nichts vorschreiben lässt.

Zur gleichen Zeit zeigt das Tagebuch auch Ambivalenzen: Während Micheline Bood »die Boches im Allgemeinen« verabscheut, kann sie den einzelnen Deutschen, den sie kennenlernt, nicht hassen. Bei der Begegnung mit einem Deutschen, der ihr interessant erscheint, nimmt sie sich die Freiheit heraus, mit ihm zu sprechen, ihre Deutschkenntnisse an ihm zu erproben und zu verbessern, sogar mit ihm zu flirten. Doch nimmt sie dafür kein Blatt vor den Mund, sondern provoziert und liest ihren deutschen Begleitern die Leviten, verleugnet nie ihre Sympathien für die Engländer, die Résistance und für de Gaulle als Symbolfigur des Widerstands.

Die Tagebucheinträge versetzen die Leser und Leserinnen unmittelbar in das Paris zwischen 1940 und 1944, beschreiben die Einschränkungen, die Schwierigkeiten, den Alltag zu organisieren, Lebensmittel zu beschaffen, die ständige Präsenz der deutschen Besatzungssoldaten. Das Lesen heute ist wie eine Reise zurück ins besetzte Paris. Es zeigt ebenfalls: Es gab ein alltägliches Leben im besetzten Paris – oder zumindest die ständigen, berechtigten, manchmal trotzigen Versuche, ein normales Leben zu leben, zur Schule zu gehen, Freunde zu treffen. Wie soll, wie kann man leben im Krieg und unter der Besatzungsmacht? Kriegsgeschehen und persönlich Bedeutsames prallen in ihren Berichten dicht aufeinander – im Juni 1944 notiert sie, »Cherbourg ist gefallen. Endlich und Hurra!«, und dann lakonisch im nächsten Satz: »Aber ich bin durchgerasselt.«

Der Titel Die doppelten Jahre verweist auf das, worauf aktuelle historische Beiträge verstärkt den Blick richten: Zwischen den beiden Gruppen, der aktiven Résistance, die eher eine Minderheit darstellte, und der Gruppe der Kollaborateure, handelte die Mehrheit der Franzosen widersprüchlich und voller Ambivalenzen: Sie fanden sich einerseits mit der Situation innerhalb ihres Alltages ab und andererseits widersetzten sie sich ihr außerhalb dieser Routine.

Der Titel Die doppelten Jahre verweist aber auch auf eine weitere Ebene: Die Spannung des Tagebuches entsteht nicht nur aufgrund der zeithistorischen Einordnung, sondern ebenfalls dadurch, dass es das Tagebuch eines blutjungen Mädchens ist. Es zeigt eine weibliche Adoleszenz im Krieg. Micheline Bood notiert ihre Konflikte mit der Mutter und dem Vater, Schulgeschichten, Mode, sie kommentiert Bücher, die sie liest, Filme, die sie sieht. Sie betont, dass sie sich den Jungen ebenbürtig fühlt. Sie flirtet, verliebt sich, lieber in Engländer und Deutsche als in Franzosen, spricht fließend Englisch und lernt so gut Deutsch, dass sie bei deutschen Soldaten oftmals als Österreicherin durchgeht, sie mokiert sich über die italienischen Besatzungssoldaten, die sie 1943 während eines Sommeraufenthaltes in Belley im Südosten Frankreichs erlebt – dass sie sich dann aber ausgerechnet in einen dieser Italiener verliebt, belastet ihr Gewissen kaum. Ausführlich schreibt sie in den Augusttagen 1944 über den Kampf um die Befreiung von Paris. Sie notiert ihre Erschöpfung, den Wechsel von Enthusiasmus und Depression, weil sie zur Untätigkeit verdammt ist, ihre Hoffnungen und Ängste angesichts der tagelangen Unübersichtlichkeit der Lage in Paris. Ironisch gefärbte Detailschilderungen und schwärmerische Wünsche liegen dicht beieinander. So heißt es am 10. Juli 1944: »Mein Traum ist es, braungebrannt zu sein, wenn die Engländer kommen.«

Mehr als 40 Jahre nach Erscheinen des Tagebuchs in Frankreich liegt nun endlich eine deutsche Übersetzung vor. Die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe fällt in eine Zeit, in der wieder sehr deutlich wird, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit einen herausragenden Stellenwert bei der weiteren Entwicklung Europas besitzt – eines weltoffenen und freien Europas, in dem sich die Menschen nicht vereinnahmen lassen von nationalistischen und populistischen Strömungen.

Europa ist herausgefordert. Wir müssen einerseits eine gemeinsame Geschichtserzählung finden, weg von den eingeschränkten nationalen Narrativen, gleichzeitig aber die unterschiedlichen individuellen Erfahrungen würdigen und europäisch vermitteln.

In ihrem Tagebuch bezieht Micheline Bood eindeutig Stellung für die kleine alltägliche Résistance. So antizipiert, ja lebt sie in schwersten Zeiten auf wunderbare Weise die...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-86337-139-9 / 3863371399
ISBN-13 978-3-86337-139-5 / 9783863371395
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