Das Leben wortwörtlich (eBook)

Ein Gespräch
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2017 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00049-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Leben wortwörtlich -  Martin Walser,  Jakob Augstein
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Martin Walser ist Schriftsteller. Jakob Augstein ist Journalist. Und sie sind Vater und Sohn. In diesem Buch sprechen sie über das Leben von Martin Walser, über dessen Jugend in Wasserburg am Bodensee, über den Vater, der Hölderlin gelesen hat, und die Mutter, die das Gasthaus geführt hat. Sie sprechen über den Krieg, über das Schreiben, über Geld und das Spielcasino in Bad Wiessee, über Uwe Johnson und Willy Brandt. Sex sei kein Sujet, sagt Walser, und so sprechen sie stattdessen über das Lieben. Und dann über das Beten. Jakob Augstein fragt Walser nach der umstrittenen Rede in der Paulskirche und der öffentlichen Fehde mit Marcel Reich-Ranicki. Und natürlich spielen Auschwitz und die deutsche Vergangenheit eine Rolle, ohne die das Leben und die Romane von Walser nicht zu denken sind. Und sie sprechen auch über sich. «Das Leben wortwörtlich» ist ein gemeinsamer Blick auf eine deutsche Lebensgeschichte, bewegend und voller überraschender Einsichten.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen.  Jakob Augstein, geboren 1967 in Hamburg, studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften in Berlin und Paris. Er arbeitete für die «Süddeutsche Zeitung», unter anderem als Chef der Berlin-Seite, und für «Die Zeit». 2008 übernahm er die Wochenzeitung «der Freitag», deren Verleger und Chefredakteur er heute ist. Er ist Kolumnist bei «Spiegel Online».

1. Im Roman ist die Lüge wunderbar


Über dieses Buch

Lieber Martin, wir machen ein Buch zusammen. Ein Abenteuer. Was für ein Buch wird es denn werden?

Jedes Buch ist ein Abenteuer. Dieses hier stelle ich mir wie ein Gespräch vor, das wir in einem kleinen Saal miteinander führen. Da sitzen vielleicht hundert Leute und hören uns zu. In so einem Saal, das erlebe ich ja andauernd bei meinen Lesungen, da bin ich jeweils imstande, so zu reagieren, dass die Leute das Gefühl haben, sie erfahren etwas, was sie sonst nicht erfahren. Sie können lachen, sie werden unterhalten. Darauf kommt es an. Dann bin ich lebendig. Wir ertasten, worüber wir sprechen können. Aber, Jakob, wir werden uns natürlich immer an der Grenze zur Indiskretion bewegen.

Ist das ein Problem?

Es wird Stellen der Verletzlichkeit geben, die jeder Rezensent benutzen kann, wie er will. Wenn wir unser Gespräch ganz offen führen, werden wir auch ganz offen sein, ganz ungeschützt. Ich habe das erlebt, als der letzte Band der Tagebücher erschien. Jeder Depp kann sich auf uns stürzen. Niemand muss sachlich bleiben. Je nachdem, ob uns einer mag oder nicht, wird er so oder so mit uns verfahren. Das trifft natürlich mehr mich als dich.

Du bist nach all den Jahren noch so verletzlich?

Was hat das mit den Jahren zu tun? Glaubst du, es wird mit den Jahren erträglicher, verletzt zu werden? Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich war in meinem ganzen Leben gegen nichts so empfindlich wie gegen Machtausübung. Kritik ist Machtausübung, und Macht bedeutet Verletzung. Ein anderer sagt dir: Du darfst nicht sein, wie du bist.

Glaubst du denn, dass die Journalisten und die Kritik darauf warten, dir zu schaden?

Ich habe eine Notiz in meinen Tagebüchern, die lautet: «Ich leide an Verfolgungswahn, und das ist das Einzige, was mich von meinen Verfolgern unterscheidet.»

Was meinst du, warum werden die Leute dieses Buch lesen wollen?

Wollen? Das ist eine märchenhafte Formulierung. Ich glaube nicht, dass sie es lesen wollen. Sagen wir lieber, das Buch wird erscheinen, und es wird Leute geben, die sich dafür interessieren. Wir sind da ganz und gar abhängig von den Gerüchten und Tatsächlichkeiten des sogenannten Literaturbetriebs.

Was wird die Leute an diesem Buch interessieren?

Also, wenn ich jetzt darauf antwortete, wäre meine Antwort eine reine Höflichkeitsphrase, als hielte ich deine Frage für sinnvoll.

Du hältst sie für unsinnig.

Wenn ich einen Roman schreibe, dann denke ich nicht daran, ob die Leute ihn lesen und warum. Also, wenn ich einen Roman schreibe, habe ich eine Ahnung, und ich versuche, schreibend dieser Ahnung nachzukommen. Dann erfahre ich, das ist immer überraschend, ob positiv oder negativ, wie viele Einstellungen und Erlebnisarten und Stimmungen es geben kann für die Aufnahme eines Buches. Beim Schreiben aber denke ich darüber nicht nach. Es gibt vielleicht einen unter tausend Augenblicken, in dem ich sagen kann: Ich habe bei einem Satz daran gedacht, wie der wohl gelesen werden wird. Und dann bin ich gleich wieder darüber hinweg. Ich sage dir mal ein Beispiel. Im «Springenden Brunnen» lautet der erste Satz: «Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.» Als ich diesen Satz hingeschrieben habe, das weiß ich noch genau, da habe ich mir so halbpolemisch gedacht: «Ach, wenn Frau Sowieso aus Markdorf diesen Satz lesen wird, dann schlägt sie das Buch zu.» Aber wenn ich sehe, wie sich das Buch verkauft hat, muss ich feststellen: Ich habe Frau Sowieso aus Markdorf unrecht getan.

Wo wir gerade bei ersten Sätzen sind: Wie fängt man einen Roman an?

Du weißt, der Roman wird «Ehen in Philippsburg» heißen oder «Halbzeit». Und dann beginnst du zu schreiben. Und wenn es nicht der richtige Ton ist, dann merkst du das sehr schnell. «Ehen in Philippsburg» habe ich zweimal völlig neu angefangen, dann erst stimmte der Ton. Beim zweiten Roman war es noch deutlicher. Ich kam aus Amerika zurück, 1958 war das, im September, und ich war ganz erfüllt vom Schreibenwollen. Ich habe sofort begonnen und drei Wochen lang geschrieben, geschrieben, geschrieben. Ich wollte mich durch das Weiterschreiben davon überzeugen, den Ton bereits gefunden zu haben. Dabei wusste ich: Das ist es noch nicht. Trotzdem, immer weiter geschrieben und geschrieben. Drei Wochen lang. Und dann habe ich alles weggeworfen. Und habe neu angefangen – und der Ton war da. Ich muss übrigens zugeben, der erste Satz im «Springenden Brunnen» …

… «Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird» …

… das war ursprünglich nicht der Anfangssatz. Der stand vielleicht auf der dritten Seite. Das habe ich dann zum Anfang gemacht.

In manchen ersten Sätzen steckt die gesamte Geschichte. Zum Beispiel im «Fliehenden Pferd»: «Der Zufall führte zwei Ehepaare im Urlaub zusammen.»

Der erste Satz von «Einhorn» heißt: «Ich liege, ja, ich liege.» Und schon läuft das. Wenn der Ton richtig ist, muss ich nachher erstaunlich wenig korrigieren.

Bei dir heißt es im «Dreizehnten Kapitel»: «Jeder Roman ist ein Sachbuch. Ein Sachbuch der Seele.» Es spielt darum vielleicht keine Rolle, was es ist, was wir hier verfassen, ein Roman, ein Sachbuch. Vielleicht ist es eine Autobiographie? Du hast nie eine geschrieben.

Und ich würde nie eine Autobiographie schreiben. Das zwingt zu einer mir unangenehmen Art von Lüge. Die Lüge im Roman ist wunderbar. Sie ist eine Variation der Wahrheit. Aber die Lüge in den Memoiren, die möchte ich nicht. Also ziehe ich es vor, einen Roman zu schreiben. Jeder Roman ist eine Autobiographie, ein Selbstporträt des Autors zum Zeitpunkt des Schreibens. Anders als aus meinen Erfahrungen heraus kann ich gar nicht schreiben. Ich bin als Autor wirklichkeitsgesättigt. Was es aus meinem Leben zu erzählen gibt, das habe ich natürlich alles schon einmal gesagt. Aber die Vergangenheit verwandelt sich immerzu. Die eigene Kindheit zum Beispiel spielt zu verschiedenen Zeiten immer wieder eine neue Rolle.

Mal angenommen, du würdest dich dafür interessieren, was die Leute lesen wollen, was wäre es dann?

Wir müssen natürlich auf einzelne Personen zu sprechen kommen.

Werden wir tratschen, auf hohem Niveau? Das ist gut. Die Leute lieben Tratsch.

Du sagst das mit einer beunruhigenden Freude. Aus dir spricht die Medienlust. Aber gut, nimm einmal den Schirrmacher, meine ganze Geschichte mit Schirrmacher und wie sie geendet ist, zeugt von meiner Naivität. Aber für die kann ich nichts. Da war einer der Tagebuch-Bände erschienen, und im Literarischen Colloquium in Berlin fand die erste Lesung statt. Der Verlag hat mich gefragt, wen ich gerne dabeihätte. Da habe ich gesagt: Ladet doch den Schirrmacher ein. In der FAZ war ja damals – das war nun allerdings lange vor seiner Zeit – die schlimme Kritik von Reich-Ranicki erschienen, und es sollte an dem Abend um das Tagebuch gehen, in dem Reich-Ranicki dauernd vorkommt. Seine Vernichtungskritik, die übertitelt war «Jenseits der Literatur», mit der er mich aus der Literatur vertreiben wollte, mir die Literatur verbieten wollte. Aber gut, ich dachte, wir laden den Schirrmacher ein, weil ich fest angenommen habe, dass er nun nach so vielen Jahren eine andere Haltung zu der Frage haben würde, ob diese Kritik eine akzeptable Art und Weise war, in einer Zeitung über ein Buch zu schreiben. Und dann sagt er, wie sehr er es bedauere, dass heute keine solchen Kritiken mehr erscheinen. Das war für mich eine Riesenenttäuschung.

Gut, Frank Schirrmacher. Wer sonst?

Unseld natürlich. Ich war immer auf seiner Seite. Auch damals, als die Lektoren um eine Verfassung gerungen haben, die ihnen Mitsprache und was weiß ich nicht noch für Rechte einräumen sollte. Das war Mode zu jener Zeit. Da habe ich ihn unterstützt und gesagt: Ihr wollt eine Verfassung, aber dann ist jemand anderes der Chef, oder ihr alle seid es, und dann bin ich von dem Neuen abhängig – oder von euch. Ich tausche eine Abhängigkeit, die ich kenne, nicht gegen eine, die ich noch nicht kenne. Das war mehr als ein Freundschaftsdienst.

Dann sollten wir also über Freundschaft reden. Ob es so etwas gibt. Und was das eigentlich ist. Wer wird sonst noch auftauchen?

Uwe Johnson natürlich. Der hat am Ende ja in Sheerness gewohnt und war, wie man so sagt, alkoholabhängig. Er hatte dann, glaube ich, eine Flasche Wein, die ging nur schwer auf, und wegen der Anstrengung ist ihm ein Aneurysma geplatzt. Der Uwe, das war jemand, mit dem konnte man leicht Krach bekommen. Ich bin vielleicht noch am besten mit ihm ausgekommen. Dann Max Frisch. Das war eine so vorsichtige Freundschaft, der konnte nichts passieren.

Peter Hamm?

Solange er mich brauchen konnte, war er ein Freund. Als er mich nicht mehr brauchte, wurde er feindselig.

Reich-Ranicki?

Kritiker sollten weder Freund noch Feind sein.

Günter Grass?

Problemreich.

Als er starb, schrieb ich:

Jetzt

Jetzt. Es ist vorbei.

Jetzt. Es war einmal.

Jetzt. Günter. Günter. Günter.

Jetzt. Ich habe immer gedacht

Jetzt. Du streitbarster Freund

Jetzt. Wir blieben zusammen.

Jetzt. Auf einmal

Jetzt. Nichts mehr.

Jetzt. Deutschland, trauere.

Rudolf Augstein?

Rudolf? Für mich eine vorbildliche Existenz. Und mir hochwillkommen, weil er, wie ich, gegen die deutsche...

Erscheint lt. Verlag 27.11.2017
Zusatzinfo Mit 16 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Autobiografie • Autobiographie • Ehen in Philippsburg • Ein fliehendes Pferd • Erinnerungen • Georg Büchner Preis • Gespräch • Interview • Sohn • Vater
ISBN-10 3-644-00049-2 / 3644000492
ISBN-13 978-3-644-00049-0 / 9783644000490
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