Unsre Zeit ist die Kürze (eBook)

Unveröffentlichte Schreibhefte

(Autor)

Felix Philipp Ingold (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
319 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75674-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsre Zeit ist die Kürze - Marina Zwetajewa
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Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die bedeutendste russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, hat ein vielfältiges Gesamtwerk hinterlassen. Ob sie in den Revolutions- und Bürgerkriegsjahren auf den Wahnsinn der Zeit reagierte oder sich im französischen Exil an ihre Kindheit und Jugend zurückerinnerte, ob sie verstorbene Dichterkollegen heraufbeschwor oder sich scharfsinnig mit poetologischen Fragen auseinandersetzte - stets tat sie es auf unverwechselbare Weise, in einem Stil, der vom ersten Moment an frappiert: durch seine Intensität, seine Suggestivkraft, seinen starken Rhythmus und seine klangliche Dichte.

Als sie sich in den 30er Jahren mit dem Gedanken trug, aus dem Exil zurückzukehren, stellte Marina Zwetajewa aus ihren Schriften all das zusammen, was ihr in künstlerischer und persönlicher Hinsicht wichtig war und ergänzte es um nachträgliche Selbstkommentare: eine Art Nachlass zu Lebzeiten, den sie mit nach Russland nahm, während sie ihre literarischen Manuskripte aus Angst vor Beschlagnahmung bei Freunden im Ausland deponierte.

Die Schreibhefte versammeln spontane Notizen, Dialoge mit ihren Kindern, Gedichte und Briefentwürfe, Tages- und Traumprotokolle, Reise- und Lektüreberichte - eine Mischung unterschiedlicher Textformen, die einen einzigartigen Blick in die schöpferische Werkstatt und den Alltag der Autorin gewährt. Es gibt keine bessere Einführung in Leben, Werk und Persönlichkeit der Dichterin als diese Auswahl von Felix Philipp Ingold, die den Auftakt zu einer vierbändigen Werkausgabe bildet.



<p>Marina Zwetajewa, 1892 in Moskau geboren, ging 1922 in die Emigration, lebte in Berlin, Paris und Prag und kehrte 1939 in die Sowjetunion zur&uuml;ck. 1941 nahm sie sich in Jelabuga das Leben. </p>

Marina Zwetajewa, 1892 in Moskau geboren, ging 1922 in die Emigration, lebte in Berlin, Paris und Prag und kehrte 1939 in die Sowjetunion zurück. 1941 nahm sie sich in Jelabuga das Leben.  Felix Philipp Ingold, 1942 geboren, Slawist, Prof. em., Schriftsteller und Übersetzer, vor allem aus dem Französischen und Russischen. Autor zahlreicher Werke zur russischen Kulturgeschichte. Er lebt in Zürich und Romainmôtier. Felix Philipp Ingold, 1942 geboren, Slawist, Prof. em., Schriftsteller und Übersetzer, vor allem aus dem Französischen und Russischen. Autor zahlreicher Werke zur russischen Kulturgeschichte. Er lebt in Zürich und Romainmôtier.

〈Paris〉


Zu S. ‌M. W〈olkon〉skij*. 

»Was ist Ihnen geblieben — von Ihren Wertsachen?« 

Er: »Nichts.« (?) (fast schon fragend, prüfend …) 

»Und an Menschen?« 

»Kaum einer … Sonnenuntergang … die Schatten bebender Bäume … Rabengekrächz …« 

Nachdenken als Antwort. Unabschließbares Gespräch. Was werde ich tun, wenn ich Ihre letzte Zeile zu lesen bekomme? (Punkt!) 

(Antwort: Eigenes schreiben. Was ja auch der Fall war. Clamart, den 29. Juni 1932.) 

Sie sind das letzte Bachbett meiner Seele, wie gut fühle ich mich in Ihren Ufern! (wie: auf Händen) O die Verführung durch alles mir Hinderliche! Verführung durch Abwehr! Ich schließe das Buch*: Theater (mir fremd), Tanz (mir lieb — allein der Tanz von Mlle Laurence* bei Heine und der Esmeraldas*, doch den hab ich nicht gesehn und könnte ich auch gar nicht sehen: Tanz ist — im Wort). 

S. ‌M. 〈Wolkonskij〉! Unschwer lässt sich in Rousseaus Beichte der lebendige Rousseau wiedergeben, in Eckermanns Aufzeichnungen — der lebendige Goethe, in Casanovas Memoiren — der lebendige Casanova, schwerlich jedoch, ja unmöglich in einem Buch über das Theater … 

Alles Geheime wird offenbar werden. Das wird gemeinhin von der Lüge gesagt (NB! von der des andern!). Ich sage es von der Wahrheit, der einzig-wesentlichen: der Wahrheit des Wesenhaften. Nicht meine beiläufige Lüge wird offenbar werden, vielmehr meine ewig jetzige Wahrheit. Sie wird es nicht: sie ist es schon. 

Verzeihen Sie und halten Sie es nicht für dreist: es ist bitter für mich, dass 〈zwischen uns〉 immer nur »von wegen« die Rede ist. O wie sehr wünschte ich mir — Sie außerhalb des Theaters — des Balletts — des Mimischen, 〈wünschte mir〉 Sie von wegen Ihrer selbst, Sie — ganz ohne 〈etwas anderes〉, Sie — nur Sie. Ihre »Gespräche«* halte ich nun fast schon für eine verborgene lyrische Ader im Vergleich mit der Abgehobenheit Ihrer Repliken. 

Das Denken — auch eine Leidenschaft (erstmals). 

Ihre ganze Geometrie ist weniger wert als jede Magie! Alles, was Sie sagen, trägt den Stempel der Unwiderlegbarkeit. 

Das Buch jedoch, das ich von Ihnen haben will — Sie werden es nicht schreiben. Nur einer von Ihren Schülern, in dessen Gegenwart Sie laut nachgedacht haben, könnte es schreiben. Auch Goethe hätte seinen Eckermann nicht selbst geschrieben. 

Moskau, den 28. russ〈ischen〉* März 1921, Sonnabend.

Lieber S. ‌M. 〈Wolkonskij〉! 

Bin eben mit Alja* aus Ihrer bedrängend vollgepferchten Gasse zurückgekehrt, die womöglich genau so sein muss, um mein Denken noch stärker zu bündeln. Wir gingen durch die dunkle Wosdwishenka — mit großen Schritten — es war fast menschenleer — von daher — das Gefühl der Machtfülle und des Überflugs. 

Alja schläft jetzt, und ich kann nachdenken. 

Ihnen ist (unwissentlich und nichtsahnend, vorab jedoch: unangestrengt) das gelungen, was bis heute niemandem sonst gelungen ist: mich loszureißen nicht von mir selbst (dem bin ich niemals erlegen, wiewohl — jeder hätte es vermocht!), sondern von allem Meinigen. Gedichte sind für mich ein Haus, »ich will nach Hause« — weg von einem fremden Fest, und auch jetzt will ich nach Hause — in Ihr Buch. Hausverschiebung. 

Und es gibt noch einen Unterschied, einen wesentlichen. 

Die Lieblingsbücher kommen mir in den Sinn, jene geliebten, ohne die (derentwegen) man im Grab nicht zur Ruhe kommt: Mme de Staël — Corinna, die Briefe der Mlle de Lespinasse, die Aufzeichnungen Eckermanns über Goethe … Ich zähle sie auf: kein einziges literarisches Werk ist dabei, alles Briefe, Memoiren, Tagebücher, nicht Literatur, sondern lebendiges Fleisch (der Seele!). Ein Mensch ohne Haut — das bin ich. (Allein schon das Wort ich …) Unter diesem Vorzeichen hat manches zusammengefunden. 

Musik. 

Im Kapitel über die Musik (ihr Wesen) gibt es bei Ihnen den folgenden Satz: 

»Allgegenwart wird letztlich nicht durch den Sieg über den Raum erreicht, vielmehr durch Verzicht auf den Raum …« 

Ich lese das zunächst in präziser Anwendung auf die Musik. — Als Formel. 

Davon überdauern dann drei Wörter: Sieg durch Verzicht. 

Im Weiteren (S. 134 — zum Material 〈der Musik〉, ganz am Ende): 

»Was ist Polarität mit ihrer vorgegebenen Anziehungskraft angesichts der sich ausdehnenden Endlosigkeit der unermesslichen transpolaren Räume?« 

Zwiefacher Eindruck, ein akustischer und ein optischer. 

Beim Lesen vernimmt man — mit den Ohren — eine fragende — eine lebendige — Stimme im Zimmer. Jemand, der nicht dich, der vielmehr sich selbst in deiner Gegenwart befragt. Eine Frage, die allmählich (Wort um Wort!) in einen Ausruf übergeht: in eine artikulierte Folgerung.

Der zweite Eindruck ist (als Prägung) visueller Art. Lieber S. ‌M., falls Sie das Buch bei sich zu Haus haben, nehmen Sie's in die Hand, schlagen Sie die S. 134 auf, sehen Sie am Ende nach* … 

Das ist nichts Gespenstisches, das hat seine offenkundige — augenfällige — Richtigkeit. Die Wörter selbst sind unermessliche Räume (ähnlich denen, durch welche die Schneekönigin* 〈den Waisenknaben〉 Kay geführt hat), selbst das Aussehen der Wörter. (Breite und Länge.) Das Aussehen der Wörter hier ist ihr Sinn. 

Sie sind das Werkzeug dessen, worüber Sie schreiben. Nicht Sie schreiben es, es (selbst) schreibt sich durch Sie. 

Unterirdische Gedankengänge. Der Bergmann lauscht der Stimme der Erde, die er aufwühlt und die begehrt, dass man ihr Erz freisetzt. (Oder — die Stimme des Erzes?) 

Keinerlei Willkür — Beherrschung des Gegenstands durch Unterwerfung — ach ja, hab's verstanden: Sieg durch Verzicht!

Goethe. Den ganzen Tag habe ich mich heute um die Erinnerung an ein Gedicht bemüht, das ich einst zufällig auf einem Packpapier gelesen hatte, erinnerte mich schließlich daran, rekonstruierte es, schrieb es erneut nieder und — schließlich war es wieder da: 

Goethe nimmt Abschied von einer Landschaft und einer Geliebten.[1]

In eines Sommerabends halbem Licht

Sah er zum weinenden und letzten Male

Hinab auf Wiesen, Wälder, Berg' und Thale.[2]

Er stand mit wetterleuchtendem Gesicht.

Noch einmal warf sich wie ein wunder Riese

Ihm das gelebte Leben an die Brust,

Dann löste leicht und lächelnd er — auch diese

Umarmung, seiner Gottheit schon bewusst.

Eines weiß ich: Sie würden auf der klassischen »Insel« leben, würden sich gleichwohl Ihre Gedanken machen, würden sie auch niederschreiben, und wenn Sie nichts zum Schreiben hätten, nichts womit und nichts worauf, Sie würden sie laut aussprechen und dann wieder freigeben. 

Ohnehin wären Sie auch ohne Dalcroze* und a〈ndere〉 der, der Sie sind, Sie hätten dasselbe gefunden, entdeckt. (Die Gesetze des Rhythmus hätten Sie an einem sich wiegenden Zweig entdeckt und s. ‌w.) Damit negiere ich nicht die 〈unleserlich〉 von X, Y, Z in Ihrem Leben: den Wert gemeinsamen Vorangehens — bis hin zu (zwei Bergleute sind's, welche die Ader entdecken). Doch Sie haben all dies vorab schon gewusst, zwischen Ihnen und der Welt gibt es kein Drittes, die Natur eröffnet sich Ihnen nicht durch menschliches...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2017
Übersetzer Felix Philipp Ingold
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Svodnye tetradi
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bürgerkrieg • Emigration • Exil • Frankreich • Nachlass • Notizen • Oktoberrevolution • Osteuropa • Revolution • Russische Revolution • Russland • Svodnye tetradi deutsch • Tschechien
ISBN-10 3-518-75674-5 / 3518756745
ISBN-13 978-3-518-75674-4 / 9783518756744
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