Susan Ee war zunächst Anwältin, bevor sie beschloss, ihre Leidenschaft für die Literatur zu ihrem Beruf zu machen. Sie studierte Kreatives Schreiben in Stanford und Clarion West und arbeitet nun als Autorin und Filmemacherin. Sie lebt in San Francisco, Kalifornien.
3
Ich war noch nie eine Frühaufsteherin, doch jetzt, nach einigen Nächten ohne Schlaf, fühle ich mich wie ein Zombie. Gerade will ich mich einfach nur noch auf die nächstbeste Couch legen und eine Woche lang schlafen.
Aber zuerst muss ich dafür sorgen, dass sich meine Schwester wohlfühlt.
Ich brauche eine Stunde, bis ich sie in der Badewanne sauber bekommen habe. Beliels Blut klebt überall an ihr. Die ängstlichen Bewohner des Widerstandscamps haben sie schon in ihrem sauberen, geblümten Kleid für ein Ungeheuer gehalten, doch wenn sie Paige jetzt sehen könnten, würden sie sich sofort in einen fackelschwingenden Lynchmob verwandeln.
Ich schrecke davor zurück, sie richtig abzuschrubben, weil sie voller Operationsnähte und Striemen ist. Normalerweise würde unsere Mom das erledigen. Sie war immer überraschend sanft, wenn sie sich um Paige gekümmert hat.
Vermutlich hat Paige gerade denselben Gedanken, denn sie fragt: »Wo ist Mom?«
»Sie ist bei den Leuten vom Widerstand. Sie sollten mittlerweile ins Camp zurückgekehrt sein.« Ich lasse Wasser über sie fließen und tupfte die Stellen zwischen den Stichen vorsichtig mit einem Schwamm ab. »Wir haben uns auf die Suche nach dir gemacht, doch dann wurden wir gefangen genommen und nach Alcatraz gebracht. Mittlerweile ist sie allerdings in Sicherheit. Die Widerstandsbewegung hat alle Gefangenen von der Insel gerettet, und ich hab sie auf einem der Schiffe gesehen, als sie geflüchtet sind.«
Paiges Narben sehen immer noch entzündet aus, und ich will nicht unbeabsichtigt eine Naht aufreißen. Ich frage mich, ob sich die Fäden wohl von selbst auflösen werden, oder ob ein Arzt sie entfernen muss.
Dabei fällt mir Doc ein, der Kerl, der sie zusammengenäht hat. Es ist mir egal, unter welchen Umständen es geschah. Kein anständiger Mensch würde unschuldige Kinder aufschneiden, verstümmeln und in menschenfressende Ungeheuer verwandeln, bloß weil Uriel, dieser größenwahnsinnige Engel, es ihm befohlen hat. Ich würde Doc am liebsten die Seele aus dem Leib prügeln, wenn ich sehe, in welchem Ausmaß er Paige verletzt und missbraucht hat.
Aber wie verrückt ist es dann, dass ich trotzdem eine kleine Hoffnung hege, dass Doc ihr vielleicht irgendwann helfen kann?
Ich seufze und lasse den Schwamm ins Wasser fallen. Gerade ertrage ich den Anblick ihrer Rippen, die durch die zusammengenähte Haut stechen, nicht länger. Sauberer wird sie ohnehin nicht mehr. Also werfe ich ihre blutverschmierten Klamotten ins Waschbecken und mache mich auf den Weg in eines der Schlafzimmer, um nach etwas Passendem zum Anziehen für sie zu suchen.
Ich durchwühle die uralten Schubladen, auch wenn ich nicht wirklich erwarte, etwas Brauchbares zu finden. Es scheint, als wäre dieses Gebäude eher eine historische Touristenattraktion gewesen als ein Wohnhaus. Trotzdem hat hier jemand gewohnt. Und das Haus vielleicht sogar als sein Zuhause betrachtet.
Es gibt nicht viele Klamotten hier, aber offenbar hat zumindest eine Frau eine kurze Zeit hier verbracht. Ich ziehe eine weiße Bluse und einen Leinenrock heraus. Dazu einen Stringtanga, einen Spitzen-BH und ein durchsichtiges Hemdchen. Ein abgeschnittenes T-Shirt und eine enge Männerunterhose.
Zu Beginn der Angriffe haben sich die Menschen echt seltsam verhalten. Selbst wenn sie ihr Zuhause verlassen mussten, nahmen sie ihre Handys, Laptops, Schlüssel und Geldbörsen mit, und ihre Koffer waren voller Schuhe und Klamotten, die eher für einen Urlaub in der Karibik geeignet waren als für eine Flucht durch die Straßen. Offenbar konnten die Leute einfach nicht akzeptieren, dass die Sache nicht innerhalb weniger Tage vorbei sein würde.
Irgendwann wurden all diese Dinge jedoch in den Autos oder auf den Straßen zurückgelassen – oder wie in diesem Fall in den Schubladen eines Museums. Ich entdecke ein T-Shirt, das beinahe so groß ist wie Paige. Allerdings finde ich keine passende Hose, weshalb ein T-Shirt-Kleid für den Anfang reichen muss.
Im Obergeschoß lege ich Paige in ein Bett und stelle ihre Schuhe daneben, für den Fall, dass wir schnell abhauen müssen.
Dann drücke ich ihr einen Kuss auf die Stirn und wünsche ihr Gute Nacht. Ihre Augen schließen sich wie die Augen einer Puppe, und ihr Atem beruhigt sich sofort. Sie muss vollkommen erschöpft sein. Wer weiß, wann sie das letzte Mal geschlafen hat? Und gegessen?
Ich mache mich auf den Weg nach unten und finde Raffe in der Küche. Er beugt sich über den Esstisch, auf dem seine Flügel liegen. Inzwischen hat er seine Maske abgenommen, und es ist eine Erleichterung, sein Gesicht zu sehen.
Er reinigt seine Flügel. Es sieht aus, als hätte er das Blut schon ausgewaschen, und nun liegen sie feucht und schlaff vor ihm. Vorsichtig entfernt er die abgebrochenen Federn und streicht die unversehrten glatt.
»Zumindest hast du sie wieder«, sage ich.
Das Licht fällt auf seine dunklen Haare und bringt die einzelnen Strähnen zum Leuchten.
Raffe atmet tief durch. »Wir sind wieder am Ausgangspunkt angelangt.« Er setzt sich auf einen der Holzstühle und sackt richtiggehend in sich zusammen. »Ich muss einen Arzt auftreiben.« Bei diesen Worten klingt er nicht gerade optimistisch.
»Auf Alcatraz hatten sie eine Menge medizinischen Kram. Operationszubehör für Engel, nehme ich an. Sie haben alle möglichen Experimente durchgeführt. Könnte etwas davon vielleicht nützlich sein?«
Er sieht mich an, und seine Augen sind so tiefblau, dass sie beinahe schwarz wirken.
»Vielleicht. Ich sollte mir die Insel ohnehin einmal näher ansehen. Sie ist zu nahe, als dass wir sie einfach ignorieren können.« Er massiert sich die Schläfen.
Ich sehe, wie sich seine Schultern frustriert anspannen. Während der Erzengel Uriel eine falsche Apokalypse heraufbeschwört und die Engel an der Nase herumführt, damit sie ihn zu ihrem neuen Botschafter wählen, kann Raffe nichts anderes tun, als sich auf die Suche nach einem Arzt zu begeben, der seine Flügel wieder annähen kann. Vorher kann er nicht zu den Engeln zurückkehren und versuchen, die Sache zu bereinigen.
»Du brauchst etwas Schlaf«, sage ich. »Das tun wir alle. Ich bin so müde, dass ich kaum noch stehen kann.« Ich schwanke sogar ein wenig. Es war eine lange Nacht, und ich bin noch immer überrascht, dass wir den nächsten Morgen erlebt haben.
Fast erwarte ich, dass Raffe mir widerspricht, doch stattdessen nickt er. Das beweist, dass wir uns wirklich unbedingt ausruhen müssen, und vielleicht braucht er auch ein wenig Zeit, um sich zu überlegen, wo er einen Arzt findet, der ihm helfen kann.
Wir gehen die Treppe nach oben zu den beiden Schlafzimmern.
Ich bleibe vor den beiden gegenüberliegenden Türen stehen und drehe mich zu Raffe um. »Paige und ich werden …«
»Ich bin mir sicher, dass Paige alleine besser schläft.«
Einen Augenblick lang glaube ich, dass er mit mir alleine sein will. Ich erlebe einen Moment seltsamer Unbehaglichkeit, gepaart mit Aufregung, ehe ich seinen Gesichtsausdruck sehe.
Raffe wirft mir einen strengen Blick zu. So viel zu meiner Theorie.
Also will er bloß nicht, dass ich mit meiner Schwester in einem Zimmer schlafe. Er weiß nicht, dass ich mir im Widerstandscamp bereits ein Zimmer mit ihr geteilt habe. Sie hatte also mehr als genug Gelegenheiten, über mich herzufallen.
»Aber …«
»Du nimmst dieses Zimmer dort.« Raffe deutet über den Flur. »Ich schlafe auf der Couch.« Seine Stimme klingt locker, aber trotzdem gebieterisch. Er ist es nun mal ganz offensichtlich gewöhnt, dass alle ihm gehorchen.
»Es gibt gar keine richtige Couch. Bloß eine kleine Sitzbank für Damen, die bloß halb so groß waren wie du.«
»Ich habe auf verschneiten Felsen geschlafen. Eine enge Sitzbank ist bereits ein Luxus für mich. Ich komme zurecht.«
»Paige wird mir nichts tun.«
»Nein, das wird sie nicht. Denn du wirst zu weit von ihr entfernt sein, um sie in Versuchung zu führen, während du schläfst und verwundbar bist.«
Ich bin zu müde, um mich zu streiten. Also werfe ich einen kurzen Blick in Paiges Zimmer, um sicherzustellen, dass sie noch schläft, bevor ich mich auf den Weg in mein Zimmer auf der anderen Seite des Flurs mache.
Die Morgensonne scheint warm durch das Fenster und auf das Bett. Auf dem Nachttisch steht ein Strauß getrockneter Wildblumen, der dem Zimmer einen Farbklecks aus Violett und Gelb schenkt. Durch das offene Fenster weht der Duft nach Rosmarin ins Zimmer.
Ich ziehe meine Schuhe aus und lehne Pooky in Reichweite ans Bett. Der Teddybär trägt einen weißen Chiffonrock, der den Schwertschaft verdeckt. Seit wir Raffe wiedergefunden haben, spüre ich ein kaum merkliches Gefühl von dem Schwert ausgehen. Pooky ist glücklich, wieder in Raffes Nähe zu sein, aber auch traurig, weil es ihr verboten ist, Raffe zu dienen. Ich streichle das weiche Fell des Teddybären und tätschle ihn kurz.
Normalerweise schlafe ich in meinen Klamotten, falls ich schnell die Flucht ergreifen muss. Aber es hängt mir echt zum Hals heraus, so zu schlafen. Es ist unbequem, und das behagliche Zimmer erinnert mich daran, wie es war, bevor wir ständig Angst haben mussten.
Daher beschließe ich, dass heute eine der seltenen Gelegenheiten sein wird, in denen ich es mir bequem machen kann. Ich tappe hinüber zur Kommode und durchwühle noch einmal die Klamotten, die ich vorhin entdeckt habe.
Die Auswahl ist nicht groß, aber ich mache das Beste daraus. Am Ende entscheide ich mich für das abgeschnittene T-Shirt...
Erscheint lt. Verlag | 9.1.2018 |
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Reihe/Serie | Angelfall-Reihe | Angelfall-Reihe |
Übersetzer | Sonja Rebernik-Heidegger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | End of Days Book 3 |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Angelfall • Apokalypse • Dystopie • eBooks • Fantasy • Gefallene Engel • San Francisco • Susan Ee |
ISBN-10 | 3-641-21965-5 / 3641219655 |
ISBN-13 | 978-3-641-21965-9 / 9783641219659 |
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