Stürmischer als das Meer -  Voltaire

Stürmischer als das Meer (eBook)

Briefe aus England

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
224 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60822-9 (ISBN)
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Voltaire stand als 32jähriger vor der Wahl, in der Bastille sitzen zu bleiben oder aber ins Ausland ins Exil zu gehen. Er wählte das letztere und schrieb diese Briefe über den so schlecht gekannten Nachbarn England. Briefe über Konfessionen und Politik, Philosophen und Wissenschaftler, u.a. über Francis Bacon, Thomas Locke, Isaac Newton, Blaise Pascal.

Voltaire, geboren 1694 in Paris, gestorben ebenda 1778, verkehrte in mondänen Kreisen. Zum Rebellen gegen die alte Ordnung wurde er im englischen Exil, in das er fliehen musste, als er nach einem Wortgefecht mit dem Chevalier de Rohan von dessen Dienern verprügelt worden war. Mit teils raffinierten Finanzgeschäften reich geworden, stand er gegen Ende seines Lebens mit allen bedeutenden Geistern Europas und vielen aufgeklärten Herrschern in Kontakt. Sein berühmtestes Werk ist bis heute ?Candide?.

Voltaire, geboren 1694 in Paris, gestorben ebenda 1778, verkehrte in mondänen Kreisen. Zum Rebellen gegen die alte Ordnung wurde er im englischen Exil, in das er fliehen musste, als er nach einem Wortgefecht mit dem Chevalier de Rohan von dessen Dienern verprügelt worden war. Mit teils raffinierten Finanzgeschäften reich geworden, stand er gegen Ende seines Lebens mit allen bedeutenden Geistern Europas und vielen aufgeklärten Herrschern in Kontakt. Sein berühmtestes Werk ist bis heute ›Candide‹.

{9}Erster Brief


Von den Quäkern


Ich fand, dass die Auffassungen und die Geschichte eines so außergewöhnlichen Volkes die Neugierde eines vernünftigen Menschen wert seien. Um es kennenzulernen, habe ich einen der bekanntesten Quäker1 Englands aufgesucht, der, nachdem er dreißig Jahre lang im Handel tätig gewesen war, seinem Vermögen und seinen Wünschen hatte Grenzen setzen können und sich auf ein Landgut bei London zurückgezogen hatte. Ich suchte ihn in seiner Abgeschiedenheit auf; es war ein kleines, mit Sorgfalt, aber ohne Zierrat solid gebautes Haus. Der Quäker war ein rüstiger alter Herr, der noch nie krank gewesen war, denn {10}er kannte weder Leidenschaften noch Unmaß; noch nie in meinem Leben habe ich jemanden so Vornehmes und Sympathisches gesehen wie ihn. Er trug wie alle Leute seines Glaubens eine Tracht ohne seitliche Falten und ohne Knöpfe an Taschen und Ärmeln sowie einen großen Hut mit breiter Krempe wie bei uns die Geistlichen. Er empfing mich mit dem Hut auf dem Kopf und kam auf mich zu, ohne seinen Körper auch nur im Geringsten zu verneigen, aber in seinem offenen und freundlichen Gesichtsausdruck lag mehr Höf‌lichkeit als in der Gewohnheit, einen Kratzfuß zu machen und in der Hand zu halten, was auf den Kopf gehört. »Freund«, sagte er zu mir, »ich sehe, dass du fremd bist. Falls ich dir von irgendeinem Nutzen sein kann, sage es mir nur.«

»Sir«, gab ich zurück, wobei ich mich verbeugte und nach unserer Gewohnheit einen Fuß vorschob, »ich schmeichle mir mit dem Gedanken, dass Ihnen meine schlichte Neugierde nicht missfallen wird und dass Sie mir die Ehre machen, mich in Ihren Glauben einzuweihen.«

»Die Leute deines Landes«, antwortete er mir, »machen zu viele Komplimente und Verbeugungen. Aber bisher habe ich von denen noch keinen {11}gesehen, der so viel wissen wollte wie du. Tritt ein und lass uns zunächst gemeinsam essen.«

Ich machte noch ein paar unpassende Komplimente, weil man seine alten Gewohnheiten nicht mit einem Schlag loswird. Nach einem gesunden und einfachen Mahl, das mit einem Gebet begann und endete, schickte ich mich an, meinen höf‌lichen Wirt zu befragen. Ich begann mit der Frage, die gute Katholiken den Hugenotten2 mehr als einmal gestellt haben: »Monsieur«, fragte ich ihn, »sind Sie getauf‌t?«

»Nein«, antwortete der Quäker, »und meine Glaubensbrüder sind es auch nicht.«

»Ach herrje, verdammt«, gab ich zurück, »Sie sind also gar keine Christen?«

»Mein Sohn«, erwiderte er sanft, »fluche nicht. Wir sind Christen und bemühen uns, gute Christen zu sein, aber wir glauben nicht, dass das Christentum darin besteht, sich kaltes Wasser, das mit etwas Salz versetzt ist, auf den Kopf zu gießen.«

{12}»Himmelherrgott!«, rief ich, ganz ungehalten bei dieser Gottvergessenheit. »haben Sie vergessen, dass Jesus Christ von Johannes getauf‌t worden ist?«

»Freund, noch einmal: Lass die Flüche«, sagte der sanf‌te Quäker. »Christus wurde von Johannes getauf‌t, er selbst hat aber nie irgendjemanden getauf‌t. Wir sind nicht Schüler des Johannes, sondern Christi.«

»Oje«, meinte ich, »wie Sie verbrannt würden in den Ländern der Inquisition, armer Mann! … Also wirklich! Im Namen Gottes, ich muss Sie taufen und zum Christen machen!«

»Wenn es bloß darum ginge, sich deiner Schwäche wegen dazu herbeizulassen, täten wir es gerne«, erwiderte er gewichtig. »Wir verurteilen niemanden wegen des Gebrauchs der Taufzeremonie, aber wir glauben, dass diejenigen, die sich zu einem so heiligen und so geistlichen Glauben wie dem christlichen bekennen, sich der jüdischen Zeremonien enthalten sollten, soweit sie können.«

»Wie können Sie das nur sagen?!«, rief ich. »Die Taufe eine jüdische Zeremonie!«

»Ja, mein Sohn«, fuhr er fort, »und zwar so {13}jüdisch, dass manche Juden die Taufe des Johannes bis heute anwenden. Sieh dir die Autoren der Antike an, da wirst du sehen, dass Johannes lediglich einen Brauch wiederaufnahm, der schon lange vor ihm bei den Juden üblich war, so wie die Pilgerfahrten nach Mekka bei den Ismaeliten.3 Jesus wollte von Johannes getauf‌t werden, genauso wie er sich der Beschneidung unterzog; aber Beschneidung und Waschung sollten alle beide mit der Taufe Christi abgelegt sein, dieser Taufe des Geistes und Reinigung der Seele, die die Menschen erlöst. So sagte es auch der Wegbereiter Johannes: ›Ich taufe euch mit Wasser zur Buße, der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem Heiligen Geist und Feuer taufen.‹ 4 Genauso schrieb der große Apostel der Heiden, Paulus, an die Korinther: ›Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das {14}Evangelium zu predigen‹; so tauf‌te dieser Paulus auch nie mit Wasser, zwei Personen ausgenommen, und das auch nur gegen seinen Willen; er beschnitt seinen Schüler Timotheus, und auch die anderen Apostel beschnitten alle, die es wollten. – Bist du beschnitten?«, fügte er hinzu. Ich gab an, diese Ehre nicht zu haben. »Aha, Freund«, sagte er, »du bist Christ, ohne beschnitten, und ich, ohne getauf‌t zu sein.«

So also missbrauchte mein gottergebener Mann auf recht trügerische Art drei oder vier Sätze der Heiligen Schrift, die seine Sekte bestätigten; und mit dem besten Glauben dieser Welt vergaß er einige hundert Passagen, die seinen Ausführungen direkt widersprachen. Ich hielt mich wohlweislich zurück, ihm mit Begründungen zu kommen; bei einem Enthusiasten5 gibt’s nichts zu gewinnen: Es ist falsch, einem Manne etwas von den Fehlern seiner Liebsten zu sagen oder einem Kläger etwas von den Schwachpunkten seiner Sache oder einem Erleuchteten etwas von Begründungen; so ging ich zu anderen Fragen über.

{15}»Zum Beispiel das Abendmahl«, meinte ich, »wie halten Sie es damit?«

»Gar nicht«, meinte er.

»Was?! Keine Kommunion?«

»Nein, keine andere als die geistige der Herzen.«

Dann zitierte er wieder aus der Schrift. Er hielt einen sehr schönen Sermon gegen das Abendmahl und führte im Ton der Erleuchteten den Beweis, dass alle Sakramente menschliche Erfindungen seien und dass das Wort Sakrament sich nicht ein einziges Mal im Evangelium finde. »Entschuldige meine Unkenntnis«, sagte er, »ich habe dir nicht einmal ein Hundertstel der Beweise meines Glaubens erbracht; du kannst sie aber in Robert Barclays Darstellung genauer nachlesen: Das ist eins der besten Bücher, die jemals von Menschenhand verfasst wurden. Unsere Feinde sind sich einig, dass es sehr gefährlich sei; das zeigt, wie recht er hat.« Ich versprach ihm, dieses Buch gründlich zu lesen, und mein Quäker hielt mich schon für bekehrt.

Darauf legte er mir in kurzen Worten Rechenschaft ab über einige Besonderheiten, die seine Sekte der Geringschätzung der anderen {16}aussetzen. »Gib zu«, sagte er, »dass du einigermaßen Mühe hattest, dir das Lachen zu verkneifen, als ich auf all deine Artigkeiten mit dem Hut auf dem Kopf und dich duzend geantwortet habe; dabei erscheinst du mir zu gebildet, um nicht zu wissen, dass zur Zeit Christi kein Volk auf die Lachhaftigkeit verfallen war, die Einzahl durch die Mehrzahl zu ersetzen. Man sagte zu Kaiser Augustus: ›Ich liebe dich, ich bitte dich, ich danke dir‹; er duldete es noch nicht einmal, dass man ihn mit Dominus, Herr, ansprach. Es war erst lange nach ihm, dass die Menschen darauf kamen, sich mit ›Sie‹ anstelle von ›du‹ anreden zu lassen, als wären sie doppelt, und sich ungebührliche Titel wie Hoheit, Eminenz und Heiligkeit anzumaßen, die sich die Regenwürmer untereinander verleihen, und einander dabei mit tiefem Respekt und infamer Verlogenheit zu versichern, der sehr untertänige und gehorsamste Diener zu sein. Um mehr auf unserer Hut zu sein gegen diesen schamlosen Handel von Lügen und Schmeicheleien, duzen wir Könige und Köhler gleichermaßen und grüßen niemanden, wir, die wir für die Menschen nur Nächstenliebe und Respekt nur vor den Gesetzen haben.

{17}Unsere Kleidung ist auch ein bisschen anders als die der anderen Leute, als ständige Mahnung, es ihnen nicht gleichzutun. Die anderen tragen die Zeichen ihrer jeweiligen Würden und wir die der christlichen Demut; wir machen einen Bogen um die Versammlungen des Vergnügens, das Theater und das Spiel, denn wir wären wohl recht zu bedauern, wenn wir unser Herz, in dem Gott wohnen soll, mit solchen Nebensächlichkeiten erfüllten. Wir leisten keine Eide, auch nicht vor Gericht; wir meinen, dass der Name des Höchsten nicht für die elenden Zwiste der Menschen missbraucht werden soll. Wenn es nötig ist, dass wir vor dem Richter erscheinen wegen der Streitsachen anderer (denn wir prozessieren niemals), bezeugen wir die Wahrheit mit einem Ja oder einem Nein, und die Richter glauben uns auf unser schlichtes Wort, während so viele Christen meineidig auf das Evangelium schwören. Wir ziehen nicht in den Krieg; nicht, weil wir Angst hätten vor dem Tod, im Gegenteil, wir preisen den Augenblick, der uns mit dem höchsten Wesen vereint; sondern weil wir weder Wölfe noch Tiger, noch Doggen sind, sondern Menschen, Christen. Unser Gott, der uns befohlen hat, unsere Feinde {18}zu lieben und klaglos zu leiden, will bestimmt nicht, dass wir das Meer überqueren, um unsere Brüder niederzumetzeln, nur weil rotgekleidete Mordskerle mit zwei Fuß hohen Mützen auf dem Kopf und dem Lärm zweier Stöcke auf einer gespannten Eselshaut die Bürger anwerben. Und wenn...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2017
Übersetzer Rudolf von Bitter
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte 18. Jahrhundert • Anglikaner • Aufklärung • Bacon • Bacon, Francis • Blaise • Descartes • Descartes, René • England • Francis • Frankreich • Freiheit • ISAAC • Konfessionen • Literatur • Locke • Locke, Thomas • Newton • PASCAL • Pascal, Blaise • Philosophie • Quäker • Religion • René • Shakespeare • Shakespeare, William • Theater • Thomas • Toleranz • Vernunft • William • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-257-60822-5 / 3257608225
ISBN-13 978-3-257-60822-9 / 9783257608229
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