Deutschland in der Zukunft. Krankheiten, Schönheitsfehler und Suchtprobleme sind abgeschafft, Gesundheit ist das höchste Ideal. Eine Welt, in der sich Kommissar Philipp Nix nur schwer zurecht findet. Als er eines Tages auf eine seltsam aussehende Leiche stößt, führt ihn das zu einem grausigen Massengrab in einem Tal bei Düsseldorf. Sind es Neandertaler? Aber warum sind die Überreste nur dreißig Jahre alt? Nix' Ermittlungen enthüllen einen Skandal, der die Gesellschaft der Zukunft in ihren Grundfesten erschüttert ...
Jens Lubbadeh ist freier Journalist und hat bereits für »Die Zeit«, »NZZ«, »Bild der Wissenschaft«, »Technology Review«, »Spiegel Online« und viele weitere Print- und Digitalmedien geschrieben. Für seine Arbeit wurde er mit dem Herbert Quandt Medien-Preis ausgezeichnet. Sein Roman-Debüt »Unsterblich« hat auf Anhieb Kritiker und Leser gleichermaßen begeistert. Seitdem hat er mehrere hochkarätige Science-Thriller veröffentlicht. Jens Lubbadeh lebt in Berlin.
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EIN KNOCHENJOB
Langsam, sehr langsam drehte er den Beinknochen unter dem Stereoskop. Drei Linien zogen sich um das obere Ende des Knochens. Die Abstände waren sauber eingehalten, er konnte kaum Unregelmäßigkeiten feststellen. Wunderschöne Arbeit. Das gleiche Arrangement am unteren Ende. Das waren ganz eindeutig keine Schabe-Spuren. Dieses Neandertaler-Bein war vor 50.000 Jahren nicht das Mittagessen eines Kannibalen oder einer Hyäne oder eines Bären gewesen – sonst hätten sich die Reißzähne in die Knochen gegraben und Spuren gänzlich anderer Art hinterlassen. Alles war deutlich zu regelmäßig eingekratzt. Wahrscheinlich mit einem Steinmesser.
Und was war das? Max hielt den Knochen schräg. Hier war noch etwas. Aber er konnte es nicht genau ausmachen. Ohne die Augen von den Okularen zu lösen, justierte er den Spot der Lampe. Jetzt erkannte er es. Ein Zickzack-Muster. Es verlief quer über dem Knochen, verband die beiden seitlichen Kratzmuster und war ziemlich abgenutzt, aber eindeutig ein Zickzack. Gut. Bei diesem Knochen handelte es sich also um Kunst. Aber was bedeutete diese Kunst? Hatte jemand den Knochen als Identifikations-Symbol getragen? War das Werk ein Stammescode?
Natürlich musste er noch eine Protein-Spektroskopie erstellen lassen, obwohl er sich sicher war, dass der Knochen von einem Menschen stammte. Von einem Neandertaler. Doch das Prozedere war eben einfach Standard; Irrtümer lagen schließlich immer im Bereich des Möglichen. Wesentlich spannender war hingegen die Frage, welche Menschen oder menschenverwandte Art diese Kratzer in den Neandertaler-Knochen geritzt hatten. Neandertaler? Denisova? Oder Homo sapiens?
Idealerweise würden sich noch Steinreste in den Kratzlinien finden. In diesem Fall würde man feststellen, welche Steinart für das Kratzen genutzt worden war – und daraus vielleicht mehr ableiten können. Und wenn er ganz großes Glück hatte, waren vielleicht auch noch DNA-Spuren des Künstlers am Stein und in den Rillen aufzuspüren. Das wäre der Jackpot.
Max löste die Augen vom Stereoskop und legte den Knochen vorsichtig neben den Armknochen und die Finger desselben Individuums. Sein Tisch war mit gelbbraunen Knochen übersät. Er rieb sich die Augen. Es war anstrengend, lange durch die Linsen zu schauen. Und er tat das schon seit Stunden. Aber er stand unter Zeitdruck.
Er war müde, hatte wenig und schlecht geschlafen, die ganze Woche ging das schon so. Der bevorstehende Kongress in Philadelphia bereitete ihm Sorgen. Seine Arbeitsgruppe arbeitete mit Hochdruck daran, die ersten Ergebnisse der Ausgrabung in Kroatien aufzubereiten. Diese neu entdeckte Höhle in Vindija war eine wahre Schatzkammer. Aber die Zeit lief ihnen davon. Sie bräuchten eigentlich Monate, um all die sensationellen Funde zu erfassen und zu kategorisieren. Noch herrschte ziemliches Chaos. Es nervte ihn, dass alles immer so langsam ging. Und dann musste er das komplette Zeug auch noch auf Englisch ausformulieren. Davor graute ihm besonders. Seine Syntax war, wie für einen Gehörlosen typisch, ziemlich mies. Sarah würde das überarbeiten müssen. Aber eigentlich brauchte er sie für die Stratigraphie.
Max sah auf die Uhr. Schon nach acht. Es würde eine lange Nacht werden. Er wollte heute noch mit Neandertaler-Individuum KLM11 durchkommen.
Er nahm den Armknochen auf und hielt ihn erneut unter das Stereoskop. Die Kratzer waren so regelmäßig wie am Oberschenkel. Vindija war zweifellos eine echte Schatzkammer.
Er spürte ein Tippen an seiner Schulter, zuckte zusammen und ließ vor Schreck den Knochen fallen, der mit einem lauten, wenn auch für Max unhörbaren Geräusch auf den Tisch fiel. Scheiße! Er blickte auf und sah in Sarahs Gesicht.
Mit der flachen Hand klopfte er sich zweimal auf die Brust. Es war die Gebärde für »erschrecken«. Dazu eine vorwurfsvolle Mimik, was zu der Aussage »Du hast mich erschreckt!« führte.
Sarah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie rieb kurz mit der rechten Hand über den Rücken ihrer linken: »Entschuldigung.« Dann wurde ihr Ausdruck fragend. Sie zog die Wangen leicht ein und fuhr sich mit der rechten Handinnenkante schräg nach unten über ihren Bauch. Das war die Gebärde für Hunger. Kombiniert mit ihrer Mimik hieß es: »Hast du auch Hunger?«
Er nickte. Den hatte er tatsächlich. Seit dem Mittagessen hatte er nichts mehr zu sich genommen.
Sarah setzte Zeige- und Mittelfinger neben ihren Mund und führte sie schnell davon weg. »Soll ich was bestellen?«
Max schnippte mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. »O. k.«
»Und was? Low-Carb-Pizza?« Die Gebärde für Pizza war unverwechselbar ikonisch – mit Daumen und Zeigefinger beider Hände deutete sie eine imaginäre Scheibe an, die auf einen Teller geschoben wurde; abgesehen davon, dass Low-Carb-Pizza anders gemacht wurde als die ungesunde normale. Low-Carb buchstabierte sie mit dem Fingeralphabet, aber sie zeigte nur schnell die Buchstaben L und C.
Max lächelte. Er beobachtete sie gerne beim Benutzen der Gebärdensprache. Ihr Stil war grazil und leicht. Mit ihren langen Fingern und Armen besaß sie die perfekte Anatomie für seine Sprache. Es war einfach eine Wonne, ihr dabei zuzusehen, auch wenn er wusste, dass Sarah sich selbst gar nicht so empfand. Sie mochte ihren großen Körper nicht, weil sie damit ständig auffiel. Und sie fiel nicht gerne auf. Er konnte darüber nur den Kopf schütteln, denn Max Stiller war eine einzige Provokation seiner Umwelt, von der ersten Minute seines Lebens an. Als Gehörloser in einer Welt, die kaum noch Behinderte kannte, war sein Leben ein täglicher Kampf. Aufzufallen war ein Teil seiner Persönlichkeit geworden, so sehr, dass er den Wunsch nach Unauffälligkeit nicht mehr nachvollziehen konnte.
Sarah beim Gebärden zuzuschauen war für ihn das Gleiche wie das genussvolle Lauschen einer schönen Stimme für einen Hörenden. Ihr Gesicht verfügte über eine facettenreiche Mimik, die allerdings weitaus schwächer ausfiel als seine, denn so emotional wie er war sie nicht. Ihre wachen braunen Augen mit den flott geschwungenen Brauen und die leichten Falten um ihre Mundwinkel verliehen ihrer Miene selbst im neutralen Modus, wenn sie eigentlich völlig ernst war, immer einen leicht belustigt-neugierigen Ausdruck.
Plötzlich hielt Sarah inne und gebärdete: »I, I will be King.« Sie benutzte dafür nicht die deutsche, sondern die amerikanische Gebärdensprache und bewegte dazu sanft ihren Körper, als würde sie tanzen. Er begriff. Sie sang – in Gebärdensprache. Er wusste auch, was sie sang. David Bowies Klassiker »Heroes«. Obwohl er den Song noch nie gehört hatte und niemals würde hören können.
Aber er hatte ihn dennoch als Klingelton seines Smarts gewählt. Und er verstand, dass sie darauf jetzt Bezug nahm. Sein Smart klingelte.
»And you, you will be queen.«
Sie lächelte, als sie auf ihn zeigte und ihn als ihre Königin titulierte. Max lachte. Normalerweise gebärdeten sie die Liedzeilen einander andersherum. Denn beide wussten ganz genau, dass Max sich als König empfand und auch so verhielt.
Ein Tippen mit der Zeigefingerspitze an der Wange. »Moment«, sagte Max und ergriff das Gerät, das nun zwischen den Knochen Musik machte, blitzte und darüber hinaus vibrierte. Jeder andere Gehörlose hätte den akustischen Alarm ausgeschaltet, um in der Welt der Hörenden weniger aufzufallen – einer Welt, in der das Normale regierte und das Andersartige zum Feind erklärt worden war. Aber nicht Max Stiller. Er hatte keine Lust, sich zu verstecken. Im Gegenteil. Er wollte der Welt zeigen, dass er da war, dass sie ihn nicht kleinkriegen würde.
Auf dem leuchtenden Display blitzte das Porträt von David Bowie in seiner Ziggy-Stardust-Phase auf. Ein rotblau geschminkter Blitz verlief über das schmale Gesicht des vor Jahrzehnten verstorbenen Sängers, den Max so sehr verehrte. Diese Verehrung stürzte ihn aber auch in einen Gewissenskonflikt. Ein Gehörloser, der für einen Musiker schwärmte? Das vertrug sich schlecht mit seinem Ego des selbstbewussten Gehörlosen, der sich nicht als behindert, sondern als Teil einer unterdrückten kulturellen Minderheit betrachtete. Doch Max scheute auch nicht den Konflikt mit der Gehörlosen-Community, die er oft als viel zu duckmäuserisch empfand. Es gab ja auch nur noch sehr wenige von ihnen.
Max gebärdete mit der linken Hand. »Welcher Idiot ruft einen Gehörlosen an? Noch dazu um diese Uhrzeit?«
Über Bowies roter Irokesenfrisur stand: »Unbekannter Anrufer«.
Dann vollführte Max eine seiner Lieblingsgesten – die Schiebebewegung mit der gekrümmten Handfläche auf das Smart zu; dazu zischte er ein »Schsch«. Die Gebärde sah aus, als würde er ein Glas Wasser auf eine Flamme schütten. In diesem Fall war es metaphorisch für das Löschen des ach so dringlichen Klingelns, doch grundsätzlich bedeutete es schlicht: »Du kannst mich mal.« Max benutzte die Geste meistens, wenn es um Kollegen ging, die in irgendwelchen Veröffentlichungen seine Arbeit kritisierten. Dann schsch-te er mit der Hand Richtung Paper oder bei einer Konferenz heimlich unter dem Tisch zum Redner hin, was Sarah jedes Mal zum Lachen brachte. Seine die Gebärde begleitende Miene war einmalig – ein solch demonstratives und vernichtendes »Du bist mir sowas von egal« bekam nur er hin.
»Ich kann rangehen, wenn du willst«, gebärdete Sarah. Die Gebärde für Telefonabnahme rührte noch aus archaischen Zeiten, als Telefone große Apparate mit schwerem Hörer, der auf eine Gabel aufgelegt wurde, gewesen waren. Sie gestikulierte wie desinteressiert, was Max...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | diezukunft.de • DNA • eBooks • Jens Lubbadeh • Neanderthal • Neanderthaler • Science-Thriller • Thriller • Unsterblich • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-641-20073-3 / 3641200733 |
ISBN-13 | 978-3-641-20073-2 / 9783641200732 |
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